Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Demonstrationen gegen den Krieg - Störversuche für den Krieg

Wie eine Gruppe pro-israelischer Eiferer Provokationen inszeniert. Das Beispiel Kassel

Von Peter Strutynski

Als die Friedensbewegung 2003 massenhaft gegen den Irakkrieg auf die Straße ging, wurde sie von einer verschwindenden Minderheit gelegentlich als "antiamerikanisch" und "antiisraelisch" tituliert. Beim Libanonkrieg 2006 wurden die Vorwürfe gegen die Demonstranten schon schriller: Wer gegen den israelischen Krieg demonstriert, verkenne das Recht Israels auf Verteidigung, stelle damit das Existenzrecht Israels in Frage und bediene antisemitische Ressentiments. Beim jüngsten Krieg Israels im Gazastreifen wurde der Ton noch aggressiver. Friedensdemonstrationen seien "antiisraelisch", Repräsentanten der Friedensbewegung gar seien "antisemitisch" und würden die Geschäfte der Alt- und Neo-Nazis und des Holocaust-Läugners und "Israel-Vernichters" Ahmadinedschad besorgen - im besten Fall als nichts ahnende "nützliche Idioten", im schlimmeren Fall als eingefleischte notorische Israel- und Judenhasser.

Ein "Israelhasser" wird man schnell. Es reicht, in wissenschaftlichen Publikationen die Historie der Vertreibung von Palästinensern aus ihren Häusern und Dörfern, die Ausdehnung Israels weit über das ihm durch den UN-Teilungsplan 1948 zugestandene Gebiet, oder die systematische - und vom Völkerrecht verbotene - Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten darzustellen. Es reicht auch, wenn man auf die vielen UN-Resolutionen hinweist und deren Umsetzung fordert, etwa den Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 sowie "eine gerechte Regelung des Flüchtlingsproblems, wie z.B. von der zentralen Resolution 242 (1967) verlangt wurde. Zum Israelhasser kann auch werden, wer die deutschen Rüstungslieferungen (z.B. U-Boote) an Israel kritisiert, etwa unter Hinweis auf die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung, wonach in Spannungsgebiete nicht geliefert werden solle.

Moshe Zuckermann (Tel Aviv) in einem Interview über die selbsternannten Israelfreunde und sog. "Antideutschen", die bei so mancher Friedensdemonstration der letzten drei Wochen gern mit Israel-Fahnen und markigen Sprüchen ("Hoch lebe Israel!") auftraten.
Die Frage der Journalistin lautete: "Hierzulande sind laute 'Bravo!'-Rufe und andere Kriegseuphorie aus dem 'Israel-solidarischen' Lager zu vernehmen. Was empfinden Sie als Israeli angesichts dieses deutschen Freudentanzes?
Zuckermann: Den Ekel, den ich schon immer empfunden habe, wenn sich der furor teutonicus aus der Ferne am Opferleid von anderen ergötzt hat. Mit Israel-Solidarität hat das gar nichts zu tun. Unter gewandelten historischen Umständen werden sich diese Tanzfreudigen am Untergang von Juden genauso delektieren. Sie verkörpern all das, was man sich klischierterweise als Deutsche vorstellt – sie sind eben die deutschesten aller Deutschen.
Das ganze Interview: "Eine übersteigerte Reaktion"


Wenn alles friedlich bleibt, muss trotzdem etwas passieren

Dokumentation eines Zwischenfalls bei der Antikriegs-Demonstration in Kassel

Es gab verschiedene Versuche, die zahlreichen Demonstrationen gegen den israelischen Krieg in Gaza zu stören. Das Muster war immer dasselbe: Am Rande von Demos oder Kundgebungen taucht eine Anzahl "Israel-Freunde" mit Israel-Fahnen, Plakaten und Flugblättern auf, wohl wissend dass dies den Widerspruch und Protest der Demonstranten hervorrufen würde. Hervorrufen muss, möchte man hinzufügen, denn man versetze sich nur einmal in die Lage eines Palästinensers/einer Palästinenserin, der/die in diesem Krieg Freunde oder Familienangehörige verloren hat! Dass da das demonstrative Herumfuchteln mit Israel-Fahnen und die Skandierung von markigen Sprüchen ("Hoch lebe Israel!") als verschärfte Form einer Provokation wahrgenommen wird, ist einleuchtend.

In Kassel war das bei der Demonstration am 17. Januar nicht viel anders. Rund 2.500 Teilnehmer/innen (der Zeitungsbericht spricht nur von 1.000, das war die Polizeiangabe) haben eine eindrucksvolle Demonstration und eine weitgehend disziplinierte Kundgebung abgehalten. Dabei kam es auf der Wegstrecke zu Rangeleien zwischen Demonstranten und pro-israelischen Provokateuren.

Auf eine Anfrage der Jüdischen Allgemeinen hin habe ich folgende Aussagen zu dem Zwischenfall gemacht:

*****

Frage: Wie haben Sie den Zwischenfall an dem proisraelischen Infostand erlebt?

Ich habe wenig Einblick auf den Tisch gehabt, der an der Demo-Route aufgebaut war. Ich habe nicht einmal gesehen, wie viele Leute es waren, die Israel-Fahnen hoch hielten und Sprechchöre skandierten. Das liegt daran, dass ich mit dem Rücken zu der Gruppe stand und versucht habe, aufgebrachte Demonstranten daran zu hindern, zum Tisch vorzudringen. Ich hatte schon vor Beginn der Demo die Parole ausgegeben, auf "Provokationen nicht zu reagieren".

War es der Stand einer politischen Gruppe? Werten Sie den Stand als Provokation?

Wie uns die Polizei mitteilte, wurde der Stand als "Informationsstand Naher Osten" von einer Privatperson angemeldet. Damit wurde das Ordnungsamt der Stadt Kassel getäuscht. Die Polizei war selbst überrascht, dass es kein Informationsstand Naher Osten, sondern eine proisraelische Kundgebung war. Viele Demonstranten mussten das als Provokation empfinden. Ich bin überzeugt, dass die Polizei, hätte sie von dem Charakter dieses Stands gewusst, mehr Kräfte an dieser Stelle postiert hätte, um eventuelle Zwischenfälle zu vermeiden.

Die Standbetreiber geben dem Kassseler Friedensforum eine Verantwortung. Wie lautet Ihre Antwort darauf?

In unserer Verantwortung lag es, alles zu tun, dass es zu keinen Ausschreitungen kam. In der Verantwortung der "Standbetreiber" lag es, dass Ausschreitungen offenbar gewünscht wurden.

Welche Konsequenzen zieht das Kasseler Friedensforum aus dem Zwischenfall?

Wir werden weiterhin gegen Krieg und Gewalt im Nahen Osten, gegen Besatzung und Terror aufzuklären versuchen. Dazu nutzen wir selbstverständlich auch den öffentlichen Raum.

*****

Man darf gespannt sein, wie der Vorfall letztendlich in der "Jüdischen Allgemeinen" dargestellt wird.

Offenbar auf eine dpa-Meldung gestützt verbreitete die Frankfurter Rundschau eine Horrorgeschichte über die Kasseler Demo:

"Mit Latten geprügelt

In Kassel haben bei einer Anti-Israel-Demonstration mehrere Teilnehmer einen pro-israelischen Stand angegriffen und auf die Unterstützer eingeschlagen. Plakate und Fahnen wurden heruntergerissen und Aufsteller zerstört. Hunderte Demonstranten unterstützten die mehreren Dutzend Angreifer mit Sprechchören. Die Demonstration war vom linksgerichteten "Kasseler Friedensforum" organisiert worden. Die Israelunterstützer hatten an ihrem Informationsstand Poster mit Sprüchen wie "Auch Israel will Frieden" aufgehängt. Die Demonstranten beschimpften die Standbetreuer als "Kindermörder", forderten "Tod für Israel" oder "Zionisten raus" und griffen den Stand an. "Wir wurden von 50 bis 100 Demonstranten eingekesselt. Die Fahnen wurden zertrampelt, unsere Poster zerrissen, und sie haben uns mit den Latten ihrer Transparente auf die Köpfe geschlagen", sagte einer der Angegriffenen.

Anschließend hatten sich gut 1000 Demonstranten vor dem Kasseler Rathaus versammelt. Teilnehmer schwenkten Fahnen der Palästinenser, der radikalislamischen Hisbollah mit der grünen Kalaschnikow auf gelbem Grund. Der Vorsitzende der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Raif Hussein, warf Israel vor, das "Volk zu terrorisieren mit den Kriegsverbrechen ihrer verbrecherischen Armee. Das ist Völkermord."

Ein Pfarrer wurde erst ausgebuht und später, als er auch von der Hamas Schritte zum Frieden forderte, niedergebrüllt. mit dpa"

* Aus: Frankfurter Rundschau, 19. Januar 2009 (Hessen)



Offenbar nimmt es die Frankfurter Rundschau mit der Pressefreiheit so genau, dass sie sich die Freiheit herausnimmt, Dinge zu berichten, die gar nicht stattfanden.

In der Hessischen Allgemeinen, einer Art Monopolzeitung für Nordhessen und Südniedersachsen, die nicht verdächtigt werden kann, der Friedensbewegung nach dem Mund zu reden, liest sich der ganze Vorfall anders. Die Redakteurin hatte aber auch den Vorteil, dass sie selbst anwesend war und alles selbst gesehen hat.
Hier folgt zunächst der Bericht und anschließend der Kommentar (beides gibt es hier im Faksimile auch als pdf-Datei).

Rangelei bei Friedensdemo

Demonstration für Frieden in Gaza - Auseinandersetzung mit Pro-Israel-Aktivisten

Von Ulrike Pflüger-Scherb


KASSEL. Es sollte eine Demonstration gegen den Krieg in Gaza werden, zu der das Kasseler Friedensforum und weitere Organisationen aufgerufen hatten. Doch friedlich ging es am Samstag bei der Demonstration mit knapp 1000 Teilnehmern durch die Kasseler Innenstadt und der Kundgebung vor dem Rathaus nicht zu. Stattdessen kam es zu Rangeleien.

Dabei hatte Peter Strutynski vom Friedensforum die Teilnehmer noch vor dem Marsch gebeten, auf Provokationen von außen nicht zu reagieren. Doch nur Minuten später kam es am Friedrichsplatz zu einer Auseinandersetzung zwischen 20 Teilnehmern des Demonstrationszuges und zehn Personen, die einen Pro-Israel-Stand aufgebaut hatten. An dem Stand wurde mit Israel-Fähnchen gewedelt, während die Demonstranten vorbeizogen.

Gegenseitige Provokation

Beide Seiten hätten sich gegenseitig provoziert, so die Polizei. Demonstranten riefen den Menschen am Stand zu: „Ihr seid Kindermörder, ihr solltet euch schämen.“ Eine Frau am Pro-Israel-Stand konterte: „Ihr solltet euch schämen“, und prangerte den Antisemitismus in Deutschland an. Bei den Rangeleien wurde nach Angaben der Polizei ein Mann am Info-Stand mit einer Holzlatte geschlagen, blieb jedoch unverletzt. Informationstafeln seien umgeworfen und Papierfähnchen zerrissen worden. Besonnene Demonstrationsteilnehmer, Ordner und Polizisten brachten die Situation nach einigen Minuten unter Kontrolle, der Demonstrationszug wurde fortgesetzt.

Der Pro-Israel-Stand war von Privatpersonen angemeldet worden. „Wir wollen zeigen, dass es auch andere Positionen gibt“, sagte Jonas Dörge aus Kassel. „Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung“, steht auf einem Flugblatt, das er verteilte.

Die Demonstranten forderten hingegen, den „israelischen Staatsterrorismus“ zu stoppen. „Kindermörder Israel“ schallte es durch die Innenstadt. Und „Allahu akbar“ riefen die Demonstranten auf Arabisch - „Gott ist groß“. Einige Passanten ärgerten sich darüber, dass sie die Rufe der Demonstranten nicht verstehen konnten.

Es gehe weder um einen „ethnischen noch religiösen Konflikt“, sondern es gehe um die Menschenwürde, Recht und Anstand, sagte Peter Strutynski während der abschließenden Kundgebung. Die Demonstration richte sich nicht gegen Israel und seine Bevölkerung, sondern gegen die Politik der Regierung Israels. Das sahen offenbar nicht alle so: Männer versuchten auf der Rathaustreppe, eine israelische Flagge anzuzünden. Strutynski und Pfarrer Harald Fischer hinderten sie daran.

Es gebe nur einen Weg zum Frieden: Israel und die Hamas müssten die Waffen niederlegen, sagte Fischer. Sowohl die israelische als auch die palästinensische Bevölkerung hätten das Recht, in sicheren Grenzen zu leben. Der Katholik sieht beide Seiten in der Pflicht. Fischer bekam Applaus, aber auch Pfiffe.

Kommentar

Bewusste Provokation

Ulrike Pflüger-Scherb über die Demonstration in der Innenstadt

Alle wollen Frieden. Das behaupten sie zumindest - die knapp 1000 Menschen, die am Samstag durch die Innenstadt zogen und für Frieden in Gaza demonstrierten und die zehn Menschen, die einen Pro-Israel-Stand aufgebaut hatten.

Ob wirklich alle dieser Akteure wegen des Friedens auf die Straße gegangen sind, ist allerdings mehr als zweifelhaft. In Kassel haben einige jedenfalls für Streit gesorgt.

Es ist schon eine deutliche Provokation, sich mit Israel- Fähnchen an den Wegesrand zu stellen, wenn Menschen vorbeiziehen, die gegen die Angriffe der israelischen Armee demonstrieren. Menschen, die vielleicht in den letzten Tagen Angehörige durch die Angriffe verloren haben. Wer seine Solidarität mit Israel zeigen will, hätte das an anderer Stelle oder zu einem anderen Zeitpunkt gut und gern machen können.

Die Pro-Israel-Aktivisten mussten davon ausgehen, dass einige der Demonstranten nur auf eine Gelegenheit gewartet haben, den friedlichen Marsch für Randale auszunutzen. Dass es einem Teil der knapp 1000 Demonstranten nicht um den Frieden ging, lag leider schnell auf der Hand. Einige wollten Hass schüren. Sie waren vermummt und schrien Parolen, die für die deutschen Teilnehmer und Passanten nicht zu verstehen waren.

Das ist traurig. Vor allen Dingen für das Gros der Demonstranten, die wirklich darauf hoffen, dass Palästinenser und Israelis irgendwann doch noch in Frieden miteinander leben können. Sowohl im Nahen Osten als auch hier in Deutschland.

Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 19. Januar 2009


Zurück zur Seite "Friedensbewegung"

Zur Seite "Stimmen gegen den Krieg im Gazastreifen"

Zur Presse-Seite

Zur Seite "Rassismus, Antisemitismus"

Zurück zur Homepage