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Die Friedensbewegung ist mehr als eine Antikriegsbewegung

Von Peter Strutynski

Die Friedensbewegung ist eine ebenso zähe wie sperrige Angelegenheit. Sozialwissenschaftliche Analysen tun sich regelmäßig schwer ihre soziale Struktur und ihre Funktionsweise angemessen zu beschreiben. Offenbar aus einem Mangel an geeigneteren theoretischen Zugängen und methodischen Instrumentarien wird sie häufig den "sozialen Bewegungen" zugeschlagen, die in den 70er und 80er Jahren die APO (außerparlamentarische Opposition) abgelöst und dem politischen Erscheinungsbild spätkapitalistischer Gesellschaften ihren eigenen Stempel aufgedrückt habe. Seit dieser Zeit werden diese gern als "neue" soziale Bewegungen bezeichnet, um sie von den etablierten alten sozialen Organisationen (z.B. den Gewerkschaften) abzugrenzen. "Soziale Bewegungen sind der wichtigste Aspekt eines seit geraumer Zeit um sich greifenden außerparlamentarischen Demokratisierungsprozesses, der neben und z.T. quer durch die existierende Parteienstruktur neuartige, `alle` Bürger (jenseits spezifischer Interessenlagen) gleichermaßen betreffende Probleme thematisiert und Lösungen exploriert." (Krysmanski 1993, S. 187) Damit unterscheidet sich die Friedensbewegung aber nicht nur von der "Bewegungsform" Gewerkschaft, deren Ausgangspunkt und Rahmen die Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital ist, sondern auch von ebenfalls den neuen sozialen Bewegungen zugerechneten "Bürgerinitiativen", die auf aktuelle umwelt-, verkehrs-, kultur- oder sozialpolitische Probleme im lokalen/regionalen Umfeld reagieren und meist vorübergehender Natur sind (vgl Strutynski 1992).

Strukturmerkmale der Friedensbewegung

Das Handeln der Friedensbewegung resultiert aus einem umfassenderen Verständnis von Politik. Ihr Ausgangspunkt ist ursprünglich ein moralisch-politischer, ihr Gegenstand - die Friedens-, Außen- und Sicherheitspolitik - relativ abstrakt. Entsprechend allgemein sind auch die Ziele der Friedensbewegung. Es geht ihr - kurz gesagt - um die Herstellung einer Welt ohne Krieg und ohne Waffen. Damit soll jegliches kriegsbedingte Leiden von der Menschheit abgewendet und auf lange Sicht der Einsatz von Gewaltmitteln - nicht nur militärischer - minimiert werden. In der Regel bedarf es hierzu einer weitreichenden gesellschaftspolitischen und universalistischen, einer "utopischen" Perspektive, die sowohl visionäres Denken als auch einen entsprechend "langen Atem" voraussetzt. Gleichzeitig orientiert die Friedensbewegung auf Veränderung von Regierungshandeln und auf Einflussnahme auf internationale Regime und Institutionen (z.B. UNO), was von ihr auch kurzfristiges Reagieren auf aktuelle Ereignisse und Prozesse verlangt. Für Hans Jürgen Krysmanski liegt in dieser "Verbindung von Friedensutopien und politischem Pragmatismus" sogar "das eigentlich Neue" (ebd.).

Die Friedensbewegung beschäftigt sich also einerseits schwerpunktmäßig mit Themen aus der "großen Politik". Hierzu gehören außenpolitische Fragen im engeren Sinn, Fragen der Sicherheits- und "Verteidigungs"politik, der Rüstungs- bzw. Abrüstungspolitik oder der "Weltpolitik" insgesamt. Den Ursachen von Kriegen in der Welt auf den Grund zu gehen, gehört ebenso zu den Anliegen der Friedensbewegung wie nach den ökonomischen, sozialen und psychischen Gründen für alltägliche Gewalt zu fragen. Auf der anderen Seite spielen "tagespolitische" Themen eine nicht zu vernachlässigende Rolle, liegt doch im Aufgreifen aktueller Fragen - auch wenn sie gemessen an den weitreichenden Zielen der Friedensbewegung nur von untergeordneter Bedeutung sind - häufig die einzige Möglichkeit sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Ein solcher Pragmatismus ist aber auch deshalb nicht zu unterschätzen, weil sich auch an den kleinsten Beispielen die grundsätzliche Schädlichkeit von Rüstung, Militär und Militarismus aufzeigen lässt. Der lokale Kampf etwa gegen einen Standort- oder Truppenübungsplatz oder gegen den Lärm einer Panzerstraße wird, spätestens wenn er an seine Grenzen, nämlich die Sonderrechte des Verteidigungsministeriums bei der Landnutzung, stößt, die Rolle des Militärs in Gesellschaft und Politik thematisieren können.

Dieser insgesamt sehr weit gefächerten Aufgabenstellung der Friedensbewegung sind auch ihre heterogene Struktur und ihre organisatorische Vielfalt geschuldet. So gibt es z.B. bundesweit organisierte Mitgliederorganisationen wie die DFG-VK oder die IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs) mit allen Vorteilen, die solche auf Dauer angelegte Verbände haben: Mitgliederzeitungen, gewählte Vertretungen (Vorstände, Sprecher usw. auf verschiedenen Ebenen), durchschaubare und im Prinzip allen Mitgliedern zugängliche Kommunikationsstrukturen. Andere Friedensinitiativen sind Expertengruppen oder den sog. Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) vergleichbar, die sich mit jeweils einer Spezialfrage der Friedensarbeit beschäftigen (z.B. mit Weltraumrüstung, Konversion, Atomwaffen, Landminen); manchmal schließen sie sich - im Verein mit anderen lokalen oder regionalen Initiativen - zu bundesweiten oder transnationalen Bündnissen auf Zeit zusammen (Beispiele: Landminenkampagne, "Atomwaffen abschaffen", Kampagne gegen Rüstungsexporte). Politische Wirkung versuchen sie in erster Linie über parlamentarische Lobbyarbeit sowie über die Medien (einschließlich wissenschaftliche Fachpresse) zu erzielen. Und schließlich gibt es noch die vielen örtlichen Friedensinitiativen, die in der Regel über keinerlei formalisierte Strukturen verfügen und ihre Angelegenheiten im besten Sinne basisdemokratisch erledigen. Was zählt, ist einzig die Aktivität der "Aktivisten".

Stärken und Schwächen der Basisinitiativen

Zumindest der zuletzt genannte Typus von Friedensbewegung dürfte weder Legitimationsprobleme noch Reibungsverluste bei der Umsetzung von "Beschlüssen" kennen. Partizipatorische Enthaltsamkeit der Mitglieder, wie sie in gesellschaftlichen Großorganisationen (z.B. den Gewerkschaften) oder in Parteien vorherrscht, ist der Friedensbasisbewegung fremd. Sie lebt von der unmittelbaren Beteiligung ihrer Mitglieder/Aktivisten an der Formulierung und praktischen Ausführung der in der Initiative beschlossenen Politik - es ist eine "authentische" Politik. Von den Großorganisationen unterscheidet sie sich auch in der Form, im Gegenstand und im Adressaten. Die Friedensbewegung kann gar nicht anders als "von Anfang an" politisch zu sein, d.h. einen politischen Adressaten zu haben (meistens die Regierung oder Teile davon, häufig aber auch internationale Institutionen wie die NATO, EU, OSZE, UNO). Der zweite Adressat ist die Öffentlichkeit. An sie muss, und zwar in ihrer Eigenschaft als "politische Öffentlichkeit", appelliert werden, sie muss zur politischen Unterstützung der Forderungen der Friedensbewegung aufgefordert werden. Damit ist gleichzeitig eine Grenze der "Politikfähigkeit" der Friedensbewegung markiert, die ihr als Schwäche anhaftet: Als außerparlamentarische Basisbewegung muss sie sich mit lediglich "symbolischen" Handlungen begnügen, mit politischen Aktionen und Kampagnen, die in erster Linie auf Aufklärung und Überzeugung von Menschengruppen (besser wären Menschenmassen) abzielen und kein unmittelbares politisches Ergebnis haben können. Andreas Buro, einer der profiliertesten Vertreter der Friedensbewegung, sieht eine wesentliche Aufgabe der Friedensbewegung in der "Organisierung sozialer Lernprozesse": "Die Sphäre der sozialen Bewegungen ist vornehmlich eine der gesellschaftlichen Bewusstseinsveränderung, und zwar unabhängig davon, welche Projekte, Forderungen und Vorschläge im Einzelfall aufgegriffen werden." (Buro 1997, S. 190)

Die zweite Schwäche der Friedensbewegung kommt sozusagen aus dem Gegenstand selbst, mit dem sie sich beschäftigt. Themen der internationalen Politik reißen kaum jemanden vom Hocker. Es ist bezeichnend, dass in den vielen "Halbzeit"-Bilanzen, welche die Medien im September 2000, veröffentlichten, außenpolitische Themen so gut wie gar nicht vorkommen. Dabei hat die Bundesregierung gerade in diesem Politikfeld am komplettesten versagt. Allein zehn schwere Vergehen ("Todsünden") konnte die Friedensbewegung der rot-grünen Koalition nach einer zweijährigen Amtszeit vorhalten (Strutynski 2000a): Sie reichen vom Angriffskrieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 ("dem schwersten Verbrechen, dessen sich eine politische Führung eines Staates nur schuldig machen kann") über die damit zusammenhängenden Verstöße gegen das Völkerrecht, das Grundgesetz der Bundesrepublik und das "humanitäre Kriegsvölkerrecht", über die beschlossene Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee oder die Wandlung der NATO von einem Verteidigungsbündnis zu einem das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen usurpierenden Kriegsbündnis bis hin zu einer ausschließlich interessengeleiteten und rein machtpolitisch begründeten Rüstungsexportpraxis und zur weiteren Reduzierung der Finanz- und Entwicklungshilfe für die armen Länder dieser Welt. Erschwerend kommt zu all dem hinzu, dass die Bundesregierung bis heute auch nicht den Hauch von Selbstkritik oder gar von Schuldbewusstsein zu erkennen gibt. In den vergangenen 18 Monaten sind beispielsweise über Vorgeschichte, Auslöser und Verlauf des Jugoslawienkriegs so viele Erkenntnisse ans Licht gekommen, die der damaligen Regierungs- und NATO-Legitimation widersprechen (vgl. stellvertretend hierzu Loquai 2000), dass ein vorsichtiges Abrücken zumindest von den dreistesten Kriegslügen (Racak-Massaker, Hufeisenplan) von jeder noch so hart gesottenen Regierung hätte erwartet werden können. Doch Berlin schweigt - oder lügt weiter, derweil sich die veröffentlichte Meinung über Ökosteuern, Renten, Green Card, Parteispenden, Kampfhunde und andere innenpolitischen Themen buchstäblich das Maul zerreißt. Dass ein solcher Verdrängungsmechanismus funktionieren kann, liegt aber an der traditionellen außenpolitischen Abstinenz der Bevölkerung.

Wovon die Bevölkerung - die traditionelle Arbeiterklasse eingeschlossen - zu wenig hat, besitzt die Friedensbewegung fast im Übermaß. Schon allein aufgrund der Beschäftigung mit Themen und Problemfeldern der internationalen Politik ist ein Denken in internationalen Kategorien in der Friedensbewegung stärker verankert. Die Beschäftigung mit den globalen Folgen des Einsatzes von Atomwaffen und anderer Massenvernichtungswaffen hat hierzu ebenso beigetragen wie die Kriegsursachenforschung, die den kapitalistischen Industrieländern des "Nordens" ein gerüttelt Maß an Schuld für Elend und (Bürger-)Kriege im "Süden" gibt. Außerdem hat auch praktische länderübergreifende Zusammenarbeit in der Friedensbewegung Tradition: Die Deutsche Friedensgesellschaft z.B. verstand sich von Anfang als Bestandteil einer "Internationalen" der Kriegs(dienst)gegner; die IPPNW wurde in den 80er Jahren - im Gefolge der Auseinandersetzung um die Raketenstationierung - als internationale Organisation gegründet mit einer deutschen "Sektion"; und zahlreiche politische Kampagnen der Friedensbewegung haben wegen ihres allgemeinen Charakters internationale Dimensionen (z.B. die Landminen-Kampagne oder die Kampagne "Abolition 2000-Atomwaffen abschaffen"). Selbst lokale Initiativen verfügen häufig über direkte Kontakte zu Friedensgruppen im Ausland.

Den Basisinitiativen kommt hierbei zweifellos zugute, dass sie sich vorwiegend aus den so genannten "Mittelschichten" rekrutieren. Lehrer, Sozialarbeiter, Studierende, Selbständige (mit akademischer Ausbildung), mittlere bis höhere Angestellte und Beamte, Ärzte, Wissenschaftler: Sie bilden das Rückgrat der lokalen Basisinitiativen, der "Expertengruppen" und Nicht-Regierungsorganisation. Industriearbeiter oder "typische" Gewerkschafter gehören zu den umworbenen, aber selten gesehenen Gästen der Friedensbewegung. Damit möchte ich soziologischen Befunden widersprechen, die als Kennzeichen der Friedensbewegung ihre "soziale Unspezifizität" hervorheben (vgl. Krysmanski 1993, S. 186). Für die vorübergehend sehr stark expandierende Friedensbewegung der 80er Jahre mit ihren vielfältigen Bezügen zu den Organisationen der Arbeiterbewegung und mit ihrem ausgeprägten "Massencharakter" mag eine solche Beschreibung zutreffend gewesen sein. In der Friedensbewegung von heute, die doch sehr stark auf einen relativ kleinen Stamm von hochmotivierten Aktivisten reduziert ist, sind längst nicht mehr alle sozialen Schichten vertreten. Dies macht sie auf der einen Seite homogener und flexibler, auf der anderen Seite verliert sie immer mehr die direkten, d.h. auch persönlichen Zugänge zur Bevölkerungsmehrheit.

Wo bleibt das Positive?

Eine Bestandsaufnahme der Friedensbewegung wäre unvollständig, wenn nicht auch auf die personelle Austrocknung ihrer Organisationen, auf die Überalterung vieler Initiativen und auf die politische Desorientierung mancher Strömungen hingewiesen würde. Es ist nicht zu leugnen, dass die Friedensbewegung im Lauf der 90er Jahre im Vergleich zu den 80er Jahren nur noch einen Bruchteil an aktiven Gruppen und an Aktivitäten vorzuweisen hatte. Dies schlägt sich nicht unbedingt in dramatischen Verlusten von Sympathisanten, Spendern oder Abonnenten von diversen Friedenszeitungen nieder. Das Anhänglichkeitspotential der Friedensbewegung ist viel größer, als die Teilnehmerzahlen von Ostermärschen oder vergleichbaren Aktionen zum Ausdruck bringen würden. Während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien haben sich überdies zahlreiche Initiativen neu gegründet bzw. konnten "reaktiviert" werden. Dies war an den fast flächendeckenden Aktionen (v.a. Mahnwachen, aber auch Demonstrationen und Kundgebungen) während des Kriegs ebenso abzulesen wie an den anhaltenden Protesten und Informationsveranstaltungen nach dem Krieg (z.B. mit zahlreichen Initiativen zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns). Dieser kurzzeitige "Aufschwung" der Friedensbewegung legte die Vermutung nahe, dass Kriege nicht nur gut sind fürs Militär, sondern auch für die Friedensbewegung. Braucht die Friedensbewegung also die sich zuspitzende internationale Lage, die Krieg-in-Sicht-Krise oder gar den Krieg selbst, um daran organisatorisch und personell zu genesen?

Diese Frage ist während des Jugoslawienkriegs tatsächlich immer wieder von Medienvertretern gestellt und von der Friedensbewegung natürlich ebenso regelmäßig entrüstet verneint worden. Die Friedensbewegung als "Kriegsgewinnlerin"? Das war nun doch die Höhe! Und in der Tat verrät eine solche Frage ein sehr instrumentelles Verständnis von sozialen und politischen Bewegungen. Deren Anliegen werden - wenn überhaupt - nur wahrgenommen, wenn sie von großen Massen und am besten auch noch in sehr spektakulären Formen öffentlich vorgetragen werden. Dazu sind größere Menschenmassen aber erfahrungsgemäß nur bereit, wenn "es um etwas geht", wenn es, um dieses viel strapazierte Bild zu gebrauchen, "fünf vor zwölf" ist. So betrachtet wäre es um die Friedensbewegung nun wirklich schlecht bestellt gewesen, wenn sie durch den Krieg nicht auch einen spürbaren Schub an Aktivismus erhalten hätte. Gleichzeitig hat sie aber - und das ist das Wesentliche dabei - mit dem Krieg eine fundamentale Niederlage auf verschiedenen Ebenen hinnehmen müssen: Einmal dadurch dass dieser besondere Krieg nicht verhindert werden konnte (merke: "Die Friedensbewegung ist kein politisch relevanter Faktor"), zum anderen weil sich mit dem Krieg wieder einmal die "Logik des Krieges" durchgesetzt hat ("Krieg ist ein zulässiges Mittel der Politik"), zum Dritten weil mit dem Krieg zentrale Bestandteile des Völkerrechts und des deutschen Nachkriegskonsensus verletzt wurden ("nicht die UNO, die NATO hat das Gewaltmonopol"), und weil viertens die falschen Lehren aus dem Krieg gezogen werden ("Deutschland und Europa müssen für künftige Kriege gerüstet werden"). Wie schwer es ist, sich auch im nachhinein von dieser Niederlage zu erholen, zeigen die insgesamt doch sehr mühsamen Versuche der Friedensbewegung, der Öffentlichkeit andere als die genannten "Lehren" aus dem Krieg zu vermitteln.

Damit in Zusammenhang steht eine weitere Frage. Die Friedensbewegung der Nachkriegszeit war in all ihren Phasen eine Anti-Bewegung, eine Widerstandsbewegung gegen politische Planungen und Entwicklungen, die sie als bedrohlich empfunden hat. Dies war so im Kampf gegen die Remilitarisierung in den 50er Jahren, die "Ohne-mich-Bewegung" (obwohl diese Bezeichnung an "Drückebergerei" erinnerte, war die Resonanz in der Bevölkerung enorm), dies war so in der Bewegung gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ("Kampf dem Atomtod") Ende der 50er Jahre, aus der die Ostermarschbewegung hervorging, dies war der Fall in der Ostermarschbewegung selbst, die auf ihrem Höhepunkt sich schwerpunktmäßig gegen den US-Krieg in Vietnam wendete, dies war so in der Bewegung gegen die Stationierung neuer Atomraketen in den 80er Jahren und dies war schließlich genauso in dem überwältigenden Massenprotest gegen den Golfkrieg Anfang 1991. In den letzten Jahren wurde in der Friedensbewegung häufig diese Anti-Haltung kritisiert und zum Teil für die politische Erfolglosigkeit der Friedensbewegung verantwortlich gemacht. Es reiche nicht aus, nein zu sagen, man müsse auch die "Alternativen" benennen und konkrete und realisierbare Vorschläge erarbeiten.

Dahinter verbergen sich zwei Vorstellungen. Die eine geht offenbar davon aus, dass sich der politische Gegner der Friedensbewegung vielleicht doch überzeugen lasse, wenn ihm nur die richtige Expertise an die Hand gegeben werde. Im Einzelfall mag dies auch funktionieren, allerdings nur solange es nicht um grundsätzlichere Fragen geht. Und wenn wir uns die Diskussion um die Bundeswehrreform vergegenwärtigen, dann müssen wir ernüchtert feststellen, dass die besseren Argumente nicht einmal in Nebensächlichkeiten zum Tragen kommen, wenn sie von der politischen Führung nicht gewollt sind. Erkauft wird diese Art der "Mitbestimmung" damit, dass man sich auf die engen Grenzen der herrschenden (Militär-)Politik beschränkt und nicht mehr in wirklichen Alternativen denkt. Für die Friedensbewegung bedeutete dies die Aufgabe ihres prinzipiellen pazifistischen Anspruchs. Die zweite Vorstellung möchte die vorgeschlagene "Pro"-Haltung in einem sehr viel umfassenderen Sinn verstanden wissen. Horst-Eberhard Richter hat dies auf dem "Friedenspolitischen Ratschlag" 1998 folgendermaßen ausgedrückt: "Die alternative Kraft, mit welcher die Friedensbewegung auf die Dauer nur eine Chance hat, ist primär eine Pro- und keine Anti-Motivation. Es ist der Glaube, dass Menschen und Völker trotz voneinander erlebter schwerer Bedrohungen, Kränkungen und Verletzungen zu einer Verständigung und Versöhnung finden können." (Richter 1999, S. 251) Diese Pro-Haltung bezieht sich nicht auf das "Mitmachen" bei irgendwelchen sicherheits- und militärpolitischen Aufgaben der Herrschenden, sondern auf die Vision einer grundlegend anderen gesellschaftspolitischen Entwicklung, die in einen dynamischen Prozess jenseits militärischer Gewaltanwendung münden soll. Nur wer dies für möglich hält, wird der Friedensbewegung auch über einen langen Zeitraum die Treue halten.

Die Auseinandersetzung um diese beiden Haltungen spielt in der Friedensbewegung eine größere Rolle, als nach außen sichtbar wird. Hierzu ein paar Beispiele aus der aktuellen Diskussion:

(1) Die Forderung nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ist in weiten Teilen der Friedensbewegung konsensfähig, würden doch mit ihr eine wesentliche Stütze und die wichtigste Rekrutierungsbasis der ohnehin schon weitgehend professionalisierten Bundeswehr entfallen, ganz abgesehen vom zivilisatorischen Forschritt, der erreicht wäre, wenn junge Menschen in ihren Persönlichkeitsrechten nicht mehr durch Zwangsdienste jedweder Art eingeschränkt würden. Das Problem besteht aber darin, dass die isolierte Forderung nach einem Ende der Wehrpflicht dem Gesamtkomplex "Bundeswehrreform" nicht gerecht wird. Die Umwandlung der Bundeswehr in eine reine Berufs- und Freiwilligenarmee ist ja durchaus kompatibel mit den Konzepten des Verteidigungsministers, des Inspekteurs der Bundeswehr, der Weizsäcker-Kommission und der Bundestagsparteien (mit Ausnahme der PDS), die alle nur das Eine wollen: die Herstellung der strukturellen Interventionsfähigkeit der Truppe. Der Blick auf Erfahrungen anderer Länder zeigt, dass die Wehrform für die Interventions- und Gewaltbereitschaft des Militärs relativ unerheblich ist: Ob Freiwilligenarmeen wie die der USA, Großbritanniens oder - neuerdings - Frankreichs oder ob Wehrpflichtigenarmeen wie die der Türkei oder Russlands: Entsprechend dem Prinzip von Befehl und Gehorsam exekutieren sie die politischen Entscheidungen der jeweiligen Regierung. Würde sich die Friedensbewegung - wie das z.B. die Grünen und mittlerweile auch die Möllemann-ante-portas-FDP tun - in dieser Situation in besonderer Weise für die Abschaffung der Wehrpflicht engagieren, so träte sie genauso in eine ihr gestellte "Falle", wie wenn sie sich für die Beibehaltung der Wehrpflicht stark machen würde (vgl. Pflüger 2000, S. 179). Aus diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg mit zwei Türen: Die erste Tür öffnet sich, wenn die Abschaffung der Wehrpflicht als ein erster Schritt zu einer drastischen Verkleinerung der Bundeswehr mit der Perspektive ihrer völligen Aufhebung begriffen wird. Durch die zweite Tür kommt man, wenn die Forderung eingebettet wird in das Bemühen um das, was die Friedensbewegung "qualitative Abrüstung" nennt, d.h. Beseitigung der Strukturelemente der Bundeswehrreform, die der Armee erst die Interventionsfähigkeit sichern sollen ("Kommando Spezialkräfte"-KSK, "Einsatzkräfte" einschließlich der entsprechenden Bewaffnung).

(2) Weniger kompliziert ist die Haltung der Friedensbewegung zu den Atomwaffen oder - um auch hier ganz aktuell zu sein - zu den US-amerikanischen Plänen einer eigenständigen Raketenabwehr. Das National Missile Defense (NMD) soll künftig das gesamte Territorium der USA gegen einen begrenzten Angriff durch Interkontinentalraketen schützen können. Das System soll schrittweise bis zum Jahr 2011 installiert sein und in der Endstufe 250 Abfangraketen umfassen (Neudeck/Scheffran 2000). Die Kosten belaufen sich auf mindestens 60 Mrd. Dollar. Auch wenn Präsident Clinton, nicht zuletzt wegen einiger missglückter Tests, vor kurzem beschlossen hat, die endgültige Entscheidung über die Anschaffung von NMD seinem Nachfolger zu überlassen, ist davon auszugehen, dass die US-Administration, gleichgültig wie der neue Präsident heißt, an dem Projekt festhalten wird. Mit seiner Realisierung würde nicht nur ein wichtiges Rüstungsbegrenzungsregime, der ABM-Vertrag von 1972, außer Kraft gesetzt, es würde damit auch eine neue Runde des Wettrüstens eingeläutet: Insbesondere China würde die Zahl ihrer strategischen Lenkwaffen erhöhen. Und die "Schurkenstaaten" (die neuerdings "Risikostaaten" - "states of concern" - heißen sollen) und internationalen Terroristen, gegen die die Raketenabwehr angeblich gerichtet ist, werden, wenn es denn sein soll, Mittel und Wege finden, ihre tödliche Fracht auf anderen Wegen als mit Langstreckenraketen auf das Territorium der USA zu befördern. In den USA hat sich gegen die Raketenpläne eine relativ breite Bewegung gebildet, der ehemalige Generäle, Bischöfe, demokratische Senatoren und Friedensaktivisten angehören. Die meisten europäischen Regierungen sind - aus unterschiedlichen Motiven - ebenfalls gegen NMD und auch die Bundesregierung spendete Clinton Lob für dessen Entscheidung, NMD seinem Nachfolger zu überlassen. Dieses breite Ablehnungsbündnis schreckt aber die Friedensbewegung hierzulande nicht davon ab, ebenfalls ein klares Nein zu den Raketenplänen zu formulieren. Sich gegen eine drohende Aufrüstungsrunde zu wenden, ist für sich genommen schon ein sinnvoller friedenspolitischer Ansatz. Da bedarf es keiner zusätzlichen Litanei friedenspolitischer Konditionen und auch keiner "positiven Alternativen": Die Alternative besteht in einem solchen Fall darin, dass ein neues Waffensystem nicht gebaut wird!

(3) Ähnlich sehe ich es auch bei anderen rüstungspolitischen Entscheidungen. Die Frage etwa, wohin die Bundesregierung Waffen und andere Rüstungsgüter exportieren darf und wohin nicht, kann natürlich einmal grundsätzlich beantwortet werden: Aus pazifistischer Sicht werden alle Rüstungsexporte abgelehnt. So weit, so einfach. Im konkreten Fall werden aber durchaus Unterschiede in der Tragweite exportpolitischer Entscheidungen sichtbar. Die Lieferung einer Munitionsfabrik oder von Leopard-2-Kampfpanzern in die Türkei beispielsweise muss als besonders gravierend betrachtet werden, weil das Empfängerland sich in einem unerklärten Bürgerkrieg gegen den kurdischen Teil seiner eigenen Bevölkerung befindet. Außerdem stellt sie einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Exportrichtlinien der Bundesregierung vom 19. Januar 2000 und gegen den entsprechenden Verhaltenskodex ("code of conduct") der Europäischen Union vom 8. Juni 1998 dar. Die Kampagne der Friedensbewegung gegen den Rüstungsexport in die Türkei macht auch deshalb Sinn, weil die Türkei, wie der erste Rüstungsexportbericht der Bundesregierung vom 20. September 2000 belegt, zu den wichtigsten Waffenhandelspartnern Deutschlands gehört. Die Kampagne macht aber auch Sinn, weil sie bei sehr vielen Menschen auf offene Ohren stößt und an diesem Beispiel die generelle Problematik von Waffenexporten aufgezeigt werden kann. Auch hier liegt die "Alternative" zum Rüstungsexport einfach darin, es nicht zu tun. Darüber hinaus gehender Erklärungsbedarf besteht allerdings in den Regionen und Betrieben, die von fehlenden Rüstungsaufträgen zunächst negativ betroffen sind. Damit der Hinweis auf die gefährdeten Arbeitsplätze (etwa bei Krauss-Maffei-Wegmann in Kassel) kein "Totschlagsargument" bleibt, muss in diesem konkreten Fall der Nachweis erbracht werden, dass mit einer sukzessiven Umstellung der Produktion auf die Herstellung ziviler Güter ("Konversion") Arbeitsplätze gerettet und sogar langfristig gesichert werden können.

(4) Mir scheint auch die Anti-Haltung der Friedensbewegung zum Kosovo-Krieg grundsätzlich richtig gewesen zu sein. Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien war aus vielen Gründen - die hier nicht noch einmal aufzuzählen sind - abzulehnen, auch wenn es aus der Friedensbewegung auf die Frage: "Wie wollt ihr humanitäre Katastrophen anders als mit militärischen Mitteln verhindern?" unterschiedliche Antworten gegeben hat. In einem Aufruf zum Antikriegstag 2000 (abgedruckt in der taz vom 01.09.00) erhebt Mohssen Massarrat eben wegen dieser Antworten, vor allem aber wegen der fehlenden Antworten schwere Vorwürfe an die Adresse der Friedensbewegung. Ihre "hartnäckige Weigerung, sich auf die Debatte um einen menschenrechtlich begründeten Notfall überhaupt einzulassen", habe sich als "verhängnisvoll erwiesen". Denn "kein noch so radikaler Pazifist" könne leugnen, "dass es Situationen geben kann, in denen die Beendigung einer menschlichen Tragödie nur mit Gewalteinsatz möglich ist. Holocaust und Ruanda belegen das." Nun ist Massarrat nicht der Meinung, dass die Situation im Kosovo im Frühjahr 1999 ein solcher "menschenrechtlicher Notfall" gewesen sei. Er meint aber, dass die Friedensbewegung dem "propagandistischen Schleier" der Bundesregierung und der NATO besser hätte entgegentreten können, wenn sie sich grundsätzlich darauf eingelassen hätte anzuerkennen, dass solche Notfälle "ausnahmsweise auch mit Gewalteinsatz beendet werden" müssten. Nun möchte ich dahingestellt sein lassen, ob sich damit ein Brückenschlag zwischen den von Massarrat so genannten "Radikalpazifisten" und den "Verantwortungspazifisten" (hierzu zählt er namentlich Eppler und Grass) herstellen lässt - wie ich auch nicht der Meinung bin, dass der Kosovo-Krieg die Friedensbewegung in diese beiden Spezies von Pazifisten "gespalten" hat. Die Distanzierung von der Friedensbewegung hat doch schon wesentlich früher eingesetzt. Tatsache ist aber, dass die Antikriegsbewegung 1999 sehr wohl differenziert "argumentiert" hat, um die Lügen der Regierungspropaganda zu entkräften. Und dabei sind erstaunliche intellektuelle Leistungen vollbracht worden. Die Enttarnung des "Hufeisenplans", die Aufdeckung des inszenierten Racak-"Massakers", die Widerlegung der behaupteten "humanitären Katastrophe": Das alles und noch mehr ist von der Friedensbewegung schon in den ersten Kriegstagen in Flugblättern, Zeitungen, Interviews und in vielen, vielen Gesprächen auf der Straße geleistet worden - lange bevor sich ein Teil der seriösen Medien selbst kritisch-investigativ damit befasste und zu ähnlichen Ergebnissen kam wie die Friedensbewegung. Auch in diesem Fall also reichte es zunächst einmal aus, zu einem Krieg Nein zu sagen und dieses Nein argumentativ zu begründen. Eine "konstruktive Gegenstrategie", wie von Massarrat verlangt, konnte nur darin bestehen, diesen Krieg nicht vom Zaun zu brechen bzw. ihn so schnell wie möglich bedingungslos wieder zu beenden.

"Frieden ist Weg und Ziel zugleich"

Zum Teil reflektiert die Diskussion um das Anti und Pro der Friedensbewegung nur deren scheinbar isolierte gesellschaftliche Lage. Manche glauben die Friedensbewegung "retten" zu können, wenn man sie aus der Ecke des ewigen Nein-Sagens heraus führt und ihr das Flair einer "Gestaltungsmacht" gibt (vgl. z.B. die ansonsten sehr anregende Studie von Krahe 2000). Viele glauben, die Gegenseite eher überzeugen zu können, wenn man einen Schritt auf sie zu macht. In Österreich ist unlängst ein "Linzer Appell für Friedenspolitik" in die Welt gesetzt worden, mit dem Friedensbewegung und Friedenswissenschaft, Politiker sowie andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens einen Weg vorschlagen, wie künftig bei ähnlich gelagerten "massiven Menschenrechtsverletzungen" wie im Kosovo, in Osttimor oder in Tschetschenien zu verfahren sei. Die Initiative verlangt die Schaffung eines "Internationalen Interventionsrates" der UNO: "Expertinnen und Experten (...), die von den Parlamenten aller Staaten für 8-10 Jahre gewählt werden", sollen "entscheiden, ob massive Menschenrechtsverletzungen in einem oder durch einen Staat den Eingriff der internationalen Gemeinschaft erfordern und mit welchen - zuallererst nicht militärischen! - Mitteln." Auch wenn der Appell im Weiteren nur verschiedene zivile Mittel der Konfliktprävention und -beilegung nennt und sie - ähnlich wie Massarrat das tut - strikt an das Völkerrecht bindet, wird eine militärische "Nothilfe" nicht völlig ausgeschlossen. Und genau dieser Schritt auf die Bellizisten zu könnte ein Schritt zu viel sein, denn er desavouiert die "radikal"pazifistische Position, wonach Kriege in hohem Maße selbst gegen das Menschenrecht verstoßen, geschweige denn Menschenrechte wiederherstellen können.

Die Friedensbewegung wird gut daran tun, die in ihr sehr stark vertretenen pazifistischen Kräfte (die Unterscheidung zwischen "Radikal"- und "Verantwortungspazifisten" finde ich irreführend) nicht dadurch vor den Kopf zu stoßen, dass sie plötzlich beginnt (auch) militärische Optionen zu diskutieren. In mindestens 99 Prozent aller Gewaltkonflikte dieser Welt ist das Militär und ist der Einsatz von Waffen Teil des Problems und nicht Ausgangspunkt für eine Lösung. Es ist gewiss nicht die vordringliche Aufgabe der Friedensbewegung, die Eventualitäten des restlichen einen Prozent - wenn es ihn überhaupt gibt - zu erörtern. Übrigens sieht das ein von Mosshen Massarrat 1998 initiiertes Memorandum anlässlich "350 Jahre Westfälischer Friede" genauso. Dort hieß es, "dass die ökonomischen, sozialen und ökologischen Probleme, die die Zukunft aller Menschen bedrohen, durch den Einsatz militärischer Instrumente nicht gelöst, sondern verschärft werden ... Frieden ist Weg und Ziel zugleich." (Memorandum 1998)

Gerade wenn man darauf Wert legt, dass die Friedensbewegung mehr sein soll als eine reine Anti-Bewegung, mehr als eine Antikriegsbewegung, muss sie auf diesem grundsätzlichen pazifistischen Standpunkt bestehen (vgl. zum Folgenden Strutynski 2000b): Die Friedensbewegung wendet sich nicht nur gegen einen bestimmten Krieg (also z.B. gegen den NATO-Krieg gegen Jugoslawien oder gegen den inneren Krieg Russlands in Tschetschenien), sondern gegen den Krieg als Mittel der Politik schlechthin. Einem rein negativen Friedensbegriff (für die Beendigung eines Krieges bzw. für den Frieden als einem kriegslosen Zustand) fügt die Friedensbewegung einen positiven Begriff von Frieden hinzu. Hierbei geht es um die Entwicklung von Vorstellungen oder Visionen, wie friedliches Zusammenleben von Völkern und staatlichen Gemeinwesen aussehen könnte und welches die Voraussetzungen dafür sind. Bei dieser konzeptionellen Arbeit der Friedensbewegung und der Friedenswissenschaft kommen neben den Kriegsursachen auch die Friedensursachen in den Blick. Die bohrende Frage nach den ökonomischen Interessen, die hinter politischen und militärischen Konflikten immer auch lauern, kommt bei dieser Suche genauso in Betracht wie die Analyse gesellschaftlicher Ungleichheit (Armut und Verelendung sowie Akkumulation von Reichtum als zwei Seiten einer Medaille), die Aufdeckung anthropogener zerstörerischer Prozesse von Naturressourcen und Biosphäre oder das Aufspüren des Anteils historischer, kultureller und religiöser Traditionen an scheinbar ethnischen Konflikten der Gegenwart. Je tiefer man in die Genese eines militärischen Konflikts (z.B. eines Bürgerkriegs) einsteigt, desto mehr wird man auf die Zusammenhänge und Interdependenzen der genannten (Teil-)Ursachen stoßen. In dieser Analyse liegt der Schlüssel zur Beseitigung der Kriegsursachen und zur Verbesserung der Chancen für einen nachhaltigen Frieden.

Daran hat die Friedensbewegung mächtig zu arbeiten. Das Motto des "Friedenspolitischen Ratschlags 2000", der am 2. und 3. Dezember in der Universität Kassel stattfindet, lautet: "Die Politik zivilisieren!". Thema und Ablauf des Kongresses stellen einen logischen Dreischritt dar: "Kriegsursachen analysieren, Kriegsvorbereitungen stoppen, Friedensbedingungen verbessern". Damit soll die Brücke geschlagen werden zwischen der Tagespolitik, die sich zur Zeit im Wesentlichen darauf konzentriert, kriegsvorbereitende Schritte abzuwehren, also vor allem Nein zu sagen, auf der einen Seite und den Visionen von einer gerechteren und friedlicheren Welt jenseits von Militär und Waffengewalt auf der anderen Seite.

Literatur

Andreas Buro (1997): Totgesagte leben länger: Die Friedensbewegung. Von der Ost-West-Konfrontation zur zivilen Konfliktbearbeitung, Idstein
Hans Jürgen Krysmanski (1993): Soziologie und Frieden. Grundsätzliche Einführung in ein aktuelles Thema, Opladen
Thomas Krahe (2000): Frieden braucht Bewegung. Herausforderungen für die Friedensbewegung von heute. Eine empirische Untersuchung zum erfolgreichen und motivierten Wiederaufbau der Friedensbewegung, Bichl (Selbstverlag)
Heinz Loquai (2000): Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden
Mohssen Massarrat (2000): Opfer einer Inszenierung. In: taz, 1. September
Memorandum anlässlich "350 Jahre westfälischer Friede" (1998): Für eine Friedenspolitik ohne Militär. In: Mosshen Massarrat, Paul Betz (Hrsg.), Für eine Friedenspolitik ohne Militär. For a Military-Free Peace Policy. European Peace Congress Osnabrück 1998, Münster, S. 114-120
Götz Neudeck, Jürgen Scheffran (2000): Abrüstung am Ende? Zur Kontroverse um die neuen Raketenabwehrpläne der USA. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6, Juni, S. 717-72
Tobias Pflüger (2000): Die deutsche Rolle bei der Militarisierung Europas. In: Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.), Nach dem Jahrhundert der Kriege. Alternativen der Friedensbewegung, Kassel, S. 170-181
Horst-Eberhard Richter (1999): Pazifismus und Widerstand. In: Ralph-M. Luedtke, Peter Strutynski (Hrsg.), Pazifismus, Politik und Widerstand. Analysen und Strategien der Friedensbewegung, Kassel, S. 249-259
Peter Strutynski (1992): "I want it all..." Zum Charakter der neuen sozialen Bewegungen. In: Marxisische Blätter, Heft 2, S. 71-76
Peter Strutynski (2000a): Die zehn Todsünden der Bundesregierung. In: PAX REPORT, Heft 8, September, S. 1-5
Peter Strutynski (2000b): Die veränderten internationalen Bedingungen und die neuen Herausforderungen an die Friedensbewegung. In: Herbert Jansen, Wolfgang Triebel (Hrsg.), Gebt dem Frieden im 21. Jahrhundert neue Chancen. Lehren und Erfahrungen der Friedensbewegung im 20. Jahrhundert, Schkeuditz, S. 149-163

Dieser Beitrag soll im nächsten Heft der "Marxistischen Blätter" erscheinen (Heft 6/2000)

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