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Die Empörten proben den Aufstand

Die Jünger von Stéphane Hessel formieren sich zur europäischen Bewegung

Von Susanne Götze *

Die Bewegung der Empörten besetzt in Spanien und Frankreich seit Monaten öffentliche Plätze, diskutiert und probt die »Echte Demokratie Jetzt!«. Die Beteiligten wollen sich in Zeiten der Eurokrise von ihren Repräsentanten nichts mehr sagen lassen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Empörung braucht einen Anstoß, um Protest zu werden. Insofern war das Ende 2010 erschienene Büchlein des ehemaligen Diplomaten und französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel »Empört euch« wohl der Stein des Anstoßes für einen Unmut, der nur darauf wartete, öffentlich ausgesprochen zu werden.

Mittlerweile hat sich europaweit eine Bewegung gegründet, die sich die »Indignez«, »Indignados« oder auf Deutsch »die Empörten« nennen. In Spanien und Frankreich, aber auch in Griechenland und Portugal besetzen sie seit Monaten öffentliche Plätze, halten Versammlungen ab, bilden Komitees und hören einander geduldig zu. Ihr Unmut wächst und jede Räumung beantworten die Empörten nur mit stoischer Gelassenheit und mit einer erneuten »Generalversammlung«. Mal sind sie zehn Leute, mal sind sie 300, mal Zehntausende wie auf der Puerta del Sol. Der größte Erfolg der Bewegung war bis jetzt die Besetzung des zentralen Platzes in der spanischen Hauptstadt. Einen Monat nach der Räumung des Platzes zogen sie letzten Sonntag (24. Juli) mit einem Sternmarsch wieder ins Stadtzentrum ein.

Seit Mitte Mai haben auch die Franzosen so richtig Feuer gefangen. So machen die Empörten nach eigenen Angaben in über 30 Städten mobil. Am 29. Mai kamen am revolutionserprobten Platz der Bastille bis zu 3000 Menschen zusammen, um Solidarität mit den spanischen »Empörten« zu demonstrieren. Der Protest wurde live auf einer Leinwand zur Madrider Puerta del Sol übertragen. Nach diesem Schock sperrte die französische Polizei wochenlang den Eingang zur Bastille-Oper ab, um größere Versammlungen oder gar wild entschlossene Camper fernzuhalten.

Ohne Ideologie und Etikett

Die Empörten trafen sich trotzdem fast täglich keine 50 Meter von der Bastille entfernt auf dem Boulevard Richard Lenoir, um politisch zu diskutieren, Demos und weitere Besetzungen zu planen. Mittlerweile sind auch viele Spanier unter ihnen, extra aus Madrid angereist, um die Fackel der Empörung ins Nachbarland zu tragen.

Doch wer sind die »Empörten« und Hesselianer? Und was wollen sie eigentlich? Die Generalversammlung an der Bastille wird jeden Tag mit der Wiederholung der Grundprinzipien der Bewegung eingeleitet: »1. Wir sind eine pazifistische Bewegung, 2. Wir kommen als Individuen und ohne Etikett, 3. Alkohol ist während der Versammlung und bei Aktionen nicht erlaubt und 4. Jeder kommt zu Wort.« Das fasst ganz gut die Idee der Bewegung zusammen: Die »Empörten« haben keine Ideologie und kein Patentrezept, sondern wollen zuerst einmal ihr demokratisches Grundrecht in Gänze ausleben. Aus Protest gegen die »Regierungs- und Finanzmarktwillkür« auf Kosten der Bürger treffen sich die »Empörten«, um zu diskutieren und sich einen politischen Raum zu schaffen, egal ob sie Hausfrau, Obdachloser oder Student sind. Gründe für die Empörung gibt es genug.

Geschichte wird gemacht

Abgesehen von der Kritik an den nationalen Regierungen stellen die Demonstranten die Politik in Europa grundsätzlich in Frage: Unter dem Deckmantel der repräsentativen Demokratie profitiere eine gesellschaftliche Elite von der Arbeit der anderen – in Europa wie in den Entwicklungsländern – und ist seit geraumer Zeit dabei, mit Sparpaketen und »Duckmäusertum« vor den großen Finanzinstituten und Spekulanten die Zukunft von Millionen Menschen zu verbauen, so die gemeinsame Kritik der Empörten.

Statt aber einfach nur Forderungen aufzustellen, wollen die Empörten ihre Vorstellungen von Demokratie gleich aktiv vorleben: Jeder kann jederzeit an allen thematischen Komitees mitwirken bzw. selbst neue gründen, es gibt keine Anführer oder Sprecher und alle Vorschläge der Kommissionen werden auf der Generalversammlung diskutiert und mit Handzeichen abgestimmt. Viele Leute sprechen zum ersten Mal in ihrem Leben vor so vielen Menschen, ernten Beifall oder Kritik. Alle paar Sekunden werden via Facebook und Twitter Neuigkeiten über besetzte Plätze und Demos durch ganz Europa kommuniziert.

Inspiriert ist die Bewegung nicht nur von Stéphane Hessels Buch, sondern auch von den Protestcamps des arabischen Frühlings. »Nach dem arabischen Frühling, der europäische Sommer«, steht auf den Schildern der jungen Bewegung. Nicht nur in Diktaturen, sondern auch in vermeintlichen westlichen Demokratien habe man das Recht, wahre demokratische Mitbestimmung einzufordern, meinen die Empörten. »Die Finanziers habe ich jedenfalls nicht gewählt« stand bezeichnenderweise auf einem Schild einer »Empörten«, die am 14. Juli bei der Wiederbesetzung der Pariser Bastille dabei war. Allerdings ist es in der Praxis nicht so einfach, die Revolution übers Mittelmeer zu schiffen.

Vor knapp zwei Wochen fand das erste Mal eine »Generalversammlung« in Berlin statt. Bleibt abzuwarten, ob auch in Deutschland der Unmut und Mut so groß ist, echte Demokratie auf der Straße zu proben. Gerade von deutschen Aktivisten wäre das nicht nur ein Zeichen gegen die eigene Regierung, sondern auch für aktive Solidarität mit den europäischen Mitbürgern in den sogenannten »Pleitestaaten«.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Juli 2011


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