Knast statt Blockade
Hunderte Festnahmen bei Protest gegen Bankenmacht in Frankfurt am Main
Von Fabian Lambeck und Ines Wallrodt, Frankfurt am Main *
Am Freitag waren seit den Morgenstunden einige tausend Blockupy-Aktivisten in Frankfurt am Main unterwegs. Mit dezentralen Aktionen, Spontankundgebungen, Flashmobs und Straßentheater protestierten sie gegen die Sparpolitik in Europa und gegen die Versammlungsverbote in der Stadt.
Christoph Kleine vom Blockupy-Bündnis hatte am Morgen die Parole des Tages ausgegeben: »Rund ums Bankenviertel so oft wie möglich auf die Straße kommen.« Und so spielten Demonstranten und Polizei am Freitag Katz und Maus. Mit vielen dezentralen Aktionen versuchten kleinere Gruppen von Protestierenden einzelne Zufahrtsstraßen zur Europäischen Zentralbank (EZB) in der Frankfurter City zu blockieren. Die Taktik war notwendig geworden, weil die Stadt Frankfurt die von Mittwoch bis Sonnabend geplanten Proteste gegen die europäische Krisenpolitik verboten hatte. Lediglich die heute geplante Großdemonstration darf nach einem Gerichtsentscheid stattfinden. Die Blockupy-Aktionstage werden getragen von 40 Organisationen, darunter Attac, LINKE, GEW und linksradikale Gruppen.
Trotz der Versammlungsverbote demonstrierten am Freitagmorgen mehrfach bis zu 1000 Menschen an verschiedenen Orten der Innenstadt. Die Polizei löste Sitzblockaden am Main und am Messegelände auf. Mit Wasserwerfern rückten Polizisten vor der EZB an, wo Demonstranten nahe der Sperrzone protestierten. Etwa 400 Menschen wurden in Gewahrsam genommen - das Blockupy-Bündnis zählte mehr als 500. Wie die anwaltliche Nothilfe »Legal Team« erklärte, sollen viele der Gefangenen stundenlang auf einen Richter gewartet haben. Zudem verbrachte man viele Demonstranten in weit entfernte Gefangenensammelstellen wie Gießen oder Wiesbaden. Obwohl das Frankfurter Verwaltungsgericht bereits am Dienstag entschieden hatte, dass die polizeilichen Aufenthaltsverbote gegen mutmaßliche Demonstranten rechtswidrig sind, waren auch am Donnerstag Verbote verhängt und Zuwiderhandlungen mit Gewahrsam geahndet worden. So musste ein Gericht auch die neuen Verbote ohne Rechtsgrundlage am Freitag aufheben. Ein Anwalt des Legal Teams sprach gegenüber »nd« von »unglaublicher Willkür«.
»Der Finanzplatz Frankfurt ist weitgehend lahmgelegt, der Geschäftsbetrieb der EZB und anderer Banken in der Stadt erfolgreich gestört«, resümierte Blockupy-Sprecher Christoph Kleine. Doch das angekündigte »Fluten« des Bankenviertels blieb aus. Dazu war die Polizeipräsenz zu groß. Aber einen Erfolg konnten die Blockupy-Aktivisten für sich verbuchen: Aus Angst vor den Demonstranten hatte die EZB außerhalb der Innenstadt geheime Büros für ihre Mitarbeiter angemietet. So stand der Büroturm in den Taunusanlagen weitgehend leer. Zudem wurde am Freitag endgültig klar, dass die internationale Demonstration an diesem Sonnabend mit bis zu 30 000 Teilnehmern stattfinden kann. Das war bis gestern unsicher, weil das Stattfinden an den Verlauf der letzten beiden Tage geknüpft worden war. Auch dieses Demonstrationsrecht »unter Auflagen« ist rechtlich fragwürdig. Am Freitag wurden zwischen dem Blockupy-Bündnis und der Frankfurter Versammlungsbehörde Routen und Zeitabläufe der Demonstration besprochen sowie organisatorische Details geklärt. Die Abschlusskundgebung wird in Sichtweite der EZB stattfinden.
Wie am Nachmittag bekannt wurde, dürfen die Teilnehmer der Großdemonstration am Sonnabend nun dichter an die EZB heran, als es den Frankfurtern in den vergangenen Tagen erlaubt war.
* Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Mai 2012
"Wir sind doch nicht in Weißrussland"
Nur wenige Hundert kommen durch zum Protest nach Frankfurt am Main / Polizei riegelt Bankenviertel ab
Von Fabian Lambeck und Ines Wallrodt **
Blockupy! Frankfurt am Main ist dicht, alles ist blockiert - aber nicht von den Demonstranten. Und die Gewalt? Der gefürchtete »Schwarze Block«? Fehlanzeige. Eindrücke aus einer Stadt unter Polizeibelagerung.
Der blasse junge Nachwuchsbanker mit roter Krawatte hat ein Problem. Er steht mitten unter Krisenaktivisten in einem Polizeikessel und muss nun einen misstrauischen Polizisten davon überzeugen, dass er nicht gegen seinen Brötchengeber demonstrieren, sondern einfach nur sein Büro verlassen will. Die festgesetzten Bankenkritiker machen sich einen Spaß daraus: »Der gehört zu uns«, beteuern sie. »Der war die ganze Zeit dabei.« Trotz ihres eindeutigen Gelächters muss der gut gekleidete junge Mann noch einige Minuten den falschen Verdacht ertragen. Dann hat er Glück. Ein anderer Polizist gibt von weiter hinten sein Okay. Er darf die Polizeikette passieren.
Die Frankfurter Innenstadt befindet sich seit Donnerstag im Belagerungszustand. Das Bankenviertel ist hermetisch abgesperrt. Kein Polizist will sich auf den Augenschein verlassen. Rein kommt nur, wer nachweisen kann, dass er in einem der Hochhäuser oder angrenzenden Geschäften arbeitet. Jeder wird nach seinem Weg befragt: ob jung, ob alt, Anzugträger oder Punk. Auch rausgeputzte Konzert- und Theaterbesucher müssen ihre Eintrittskarten vorzeigen. Einige Spielstätten wie die Neue Oper liegen innerhalb der Sperrzone, die die Polizei rund um die Europäische Zentralbank (EZB) errichtet hat. Eine blonde Polizistin hat einen Zettel mit den Spielplänen in der Hand. Im Frankfurter Schauspiel werden an diesem Abend passenderweise Schillers »Räuber« gegeben, die Geschichte eines zu Unrecht zum Kriminellen gemachten guten Menschen.
Viele der Demonstranten sind Donnerstagabend auf der Suche nach einem Schlafplatz. Die Stadt hat abgelehnt, Übernachtungsflächen zur Verfügung zu stellen. Zur Not, meint ein junger Mann aus Wien, werde er sich am nahen Mainufer in seinen Schlafsack legen. »Der hält bis drei Grad warm.« Aber noch hofft er mit seinen Freunden auf etwas komfortableres und malt im Hof des DGB-Hauses ein Schild: »Schlafplatz gesucht«. Irgendwo kommen alle Krisenaktivisten schließlich unter: privat, in einer Kirche, in einem Park.
Und die Stadt Frankfurt: »Bereits am Bahnhof hat die Polizei mein Zelt beschlagnahmt«, berichtet ein sächselnder Demonstrant empört. Kein Einzelfall.
In der Bankenmetropole prallen Welten aufeinander: Während die Krisenaktivisten den Platz vor dem Römer in Beschlag nehmen, sitzen gut betuchte Gäste in den Restaurants am Rand, genießen ihr Weizenbier und vielleicht auch ein bisschen das ungewöhnliche Spektakel vor ihnen. »Take the square«, unter diesem Motto soll der Platz nach ägyptischen Vorbild in ein Basiscamp für die Proteste umgewandelt werden. Doch daraus wird nichts. Die Polizei räumt abends – auch unter Zuhilfenahme sogenannter Schmerzgriffe. Und so erinnert der Platz schließlich doch ein wenig an sein Kairoer Vorbild.
Das Missverhältnis zwischen polizeilicher Präsenz und Einsatztaktik einerseits und den einigen hundert friedlichen Demonstranten andererseits wird am Tag der geplanten EZB-Blockade besonders deutlich. Jegliche angemeldeten Veranstaltungen wurden aus Angst vor Randale verboten. Doch das von der Boulevardpresse und hessischen Christdemokraten gezeichnete Schreckensszenario mag sich nicht einstellen. Kein Vermummter weit und breit. Kein Stein, der fliegt. Stattdessen wird viel gelacht und musiziert. Doch jede noch so kleine Ansammlung von Demonstranten wird sofort von martialisch aufgebrezelten Beamten umstellt. Die Demonstranten hätten das Zentrum wohl nie so umfassend lahmlegen können, wie die unzähligen Blaulicht-Konvois. Die Polizeimaschinerie mit ihren tausenden Beamten, Wasserwerfern und Räumpanzern entpuppt sich als der wahre Blockierer.
Dennoch gelang den Krisenaktivisten am Morgen ein Überraschungscoup, als sich 1000 Leute aus dem Nichts am Bahnhof sammeln und unbehelligt losziehen Richtung Messe, mit Transparenten und lautstarken Sprechchören: »Gegen Krieg und Krise!« und »Antikapitalista«. Als eine erste Polizeikette an der Seite umlaufen wird, wirkt das wie aus einem Lehrbuch für zivilen Ungehorsam. Kurz hinter dem lauschigen Beethovenplatz ist es in einer schmalen Einbahnstraße vorbei. Einige können noch über Gärten entkommen, der Rest - etwa 200 Personen - sitzt nun fest. Die Stimmung ist trotzdem gut. Dass sie überhaupt laufen konnten, feiern sie als Erfolg.
Eine Gruppe aus Bielefeld, alle Ende 50, versucht mit der Polizei zu verhandeln, dass die Eingekesselten in Kleingruppen weggehen dürfen. Die angedrohten Strafanzeigen kämen doch eh nicht, argumentieren sie. Es nützt nichts. Sie werden in Gewahrsam landen wie auch die Gruppe ver.di-Jugendlicher aus Bonn, die sich mit Hip Hop aus dem Ghettoblaster und entschlossenen Megafondurchsagen (»Millionen sind stärker als Millionäre«) bei Laune hält. »Ich will den Griechen zeigen, dass nicht alle hinter Merkel stehen«, sagt der 19-Jährige Jonas.
Kurz vor zehn kommt die Durchsage: »Kinder und Jugendliche werden bevorzugt abgearbeitet.« Abarbeiten bedeutet akribische Durchsuchung von Körpern und Sachen, jede Tasche wird von links nach rechts gewendet, jedes Döschen aufgeschraubt, selbst Haarknoten auf dem Kopf abgetastet. Ein junger Mann mit rutschender Hose zieht zerknüllte Taschentücher, Bonbonpapier und Flugblätter aus der Tasche. Danach soll es im Polizeibus weiter gehen Richtung Polizeipräsidium, dort wartet die erkennungsdienstliche Behandlung. Das kann Stunden dauern. Stunden, die sie weg sind von Bankentürmen und Straßenkreuzungen, wie es die Stadt für die ganzen Aktionstage am liebsten hätte. Ein Mädchen mit rosa Turnschuhen und grüngepunktetem Halstuch wird von zwei Beamtinnen links und rechts am Arm zur Leibesvisitation geführt. Sie wirkt ziemlich mitgenommen. Sie sei 16, das sagt sie noch leise, danach hält sie wieder den Kopf gesenkt, das Gesicht verschwindet hinter rötlich getönten Haaren.
Einer beschwert sich: »Das ist ja wie in Weißrussland hier.« Der Vergleich mag hinken, doch ganz von der Hand zu weisen sind die Parallelen nicht. Auch die Demonstrationen in Belarus sind behördlich untersagt. Zwar wird hier niemand zusammengeschlagen, doch in die Gefangenensammelstelle wird auch in Deutschland verbracht, wer sich friedlich versammelt, um seine Meinung kundzutun. Viele der Protestierer haben eine gedruckte Ausgabe des Grundgesetzes dabei. Hier im Kessel halten einige ihr Exemplar hoch und verweisen lautstark auf Artikel 8. Dort heißt es: »Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln«.
Die Polizei denkt nicht in solch abstrakten Kategorien.
Etwa 100 Demonstranten schaffen es schließlich doch bis zur EZB. Zumindest bis zur letzten Absperrung. Hinter dem überdimensionierten Euro-Zeichen, das den Park vor dem Wolkenkratzer mehr oder weniger schmückt, sind noch die Überreste des am Mittwoch geräumten Occupy-Camps zu sehen. Ein Transparent, dass die Besetzer dort hinterließen, fragt nicht ganz grundlos: »Wer macht denn hier Gewalt?«. Die Protestierenden jedenfalls nicht. Die meisten sitzen, man teilt Essen und Zigaretten. Fast könnte man vergessen, warum die überwiegend jungen Leute hier sind. Wären da nicht die vielen Polizisten. Doch die Blockierer lassen sich durch diese Zurschaustellung von Staatsgewalt nicht einschüchtern und halten eine Versammlung unter freiem Himmel ab. Assamblea, so heißen diese spontanen Zusammenkünfte. Die Occupy-Bewegung hat sie populär gemacht. Auch ein paar prominente Politikerinnen der Linkspartei schauen vorbei: Die Bundestagsabgeordneten Christine Bucholz und Nicole Gohlke kamen mit dem roten Fraktionsbus – mit eigener Polizeieskorte. Doch den Beamten ging es weniger um die Sicherheit der beiden. »Die dachten wohl, wir würden ein paar Vermummte hierher schmuggeln«, sagt ein Fraktionsmitarbeiter.
Während die Polizei per Lautsprecher versucht, die jungen Leute zum Gehen zu überreden, kommt auf der Gegenseite der kollektive Stimmverstärker zum Einsatz. Dessen Funktionsprinzip ist ebenso einfach, wie effektiv. Da es einzelne Redner schwer haben, sich trotz der lauten Polizeigeneratoren Gehör zu verschaffen, wiederholt die Gruppe das Gesagte.
Auf diese Weise ist sichergestellt, dass alle verstehen, was dort kundgetan wird. Die Sprecher passen sich dem an und stoppen nach jedem Halbsatz. So hat der Zuhörer den Eindruck, hier werde eine Art revolutionärer Schwur geleistet. Die Uniformierten sehen staunend zu.
Die Polizei muss an diesem Tag mehrfach einräumen, dass die Aktionen alle friedlich verlaufen. Ein Grund für Entwarnung ist das jedoch für sie nicht. »Wir sind auf der Hut.«, heißt es bei der Pressestelle der Polizei. Man wisse von Gruppierungen, die anderes im Schilde führten. Gefahrenprognosen können somit eigentlich nie falsch liegen: Wenn Steine fliegen, war sie richtig, wenn nichts passiert, ist das ein Erfolg der klugen Polizeitaktik.
Pure Schikane
Wir sind Mittwochnacht in Berlin beim Ostbahnhof losgefahren. Drei Busse mit Ziel Frankfurt, wir wollten dort ein Camp errichten. Kurz vor Frankfurt hat uns das erste Polizeiauto überholt. Plötzlich war alles voll vor uns und wir mussten auf eine Autobahnmeisterei rausfahren. Die Polizei hat ihre Wannen um unsere Busse gestellt. Dann kamen Polizisten in den Bus, in voller Kampfmontur und haben sich dicht an dicht in den Gang gestellt.
Nach und nach wurde jeder einzeln rausgeholt, das gesamte Gepäck wurde gründlichst durchsucht und Personalien aufgenommen. Warum das Ganze? Weil wir Berliner sind? Über die Verbotsgrundlage wurde nicht viel gesagt: Nur, dass alle Veranstaltungen in Frankfurt verboten sind. Ich saß sechs Stunden in dem Bus fest. Wir durften nur zum Klo raus. Mit der Gepäckkontrolle hat das Ganze sieben Stunden gedauert. Jetzt habe ich ein Aufenthaltsverbot für die Innenstadt - bis Sonntag 24 Uhr. Ich darf nicht einmal an der Demo teilnehmen. Dass etwas passiert, überrascht mich nicht, aber dass es so krass wird, hätte ich nicht gedacht.
Wir durften uns schließlich in Fünfergruppen mit 200 Meter Abstand zur nächsten U-Bahn-Station entfernen. Das hatten unsere Anwälte ausgehandelt. Doch als wir ankamen, stand da Polizei und hat gesagt: Geht nicht. Irgendwann wurden wir von Freunden abgeholt.
Das hat mich alles ziemlich demoralisiert. Wir wurden komplett zersprengt und waren nur noch 100 Leute in einem Camp weit außerhalb der Stadt. Ich hatte den Eindruck, dass alles vorbereitet war. Es war nicht wichtig, was die Kontrolle bringt. Das war pure Schikane. Ich glaube, die wollten, dass möglichst wenig von uns sichtbar ist. Die wollten, dass wir Schiss bekommen. Ich habe Widerspruch eingelegt, aber darüber ist noch nicht entschieden. Stefan, 24, Student. (Protokoll: Ines Wallrodt)
** Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Mai 2012
Banken blockiert
Von Daniel Behruzi, Frankfurt/Main ***
Es herrscht gespenstische Ruhe im Bankenviertel in Frankfurt am Main. Wo sich sonst Blechlawinen durch die Straßen schieben und Anzugträger auf den Gehwegen drängen, ist an diesem Freitag vormittag nichts los. Die Polizei hat den gesamten Finanzdistrikt der Mainmetropole weiträumig abgesperrt, nur wer den Betriebsausweis einer der vielen hier ansässigen Institute vorzeigen kann, darf passieren. Viele sind das aber nicht.
»Ich habe das hier noch nie so leer gesehen«, sagt ein Angestellter, der rauchend vor der Royal Bank of Scotland steht. Von normalem Arbeiten könne an diesem Tag keine Rede sein, meint ein anderer. »Bei uns ist nur eine Notbesetzung«, berichtet der Mann, der einen Kapuzensweater und einen roten Rucksack trägt. Normalerweise erscheine er selbstverständlich im Anzug, doch für heute habe das Unternehmen die Anweisung gegeben, sich »unauffällig« zu kleiden und nicht mit dem Auto zu kommen. Eine Gruppe von Security-Mitarbeitern unterhält sich vor einem Gebäude der Credit Suisse. »Hier ist nichts los«, sagt einer. Einige der Bankmitarbeiter seien für diesen Tag extra nach London geschickt worden, um dort zu arbeiten.
Vor den Absperrgittern sieht es ganz anders aus. »Vielen Dank an die Polizei«, rufen die Demonstranten. Mehrere hundert haben sich in Sichtweite der Europäischen Zentralbank versammelt. Andere laufen in kleinen und größeren Gruppen durch die Stadt. Am Morgen hatte sich ein Demonstrationszug mit rund 1000 Teilnehmern vom Hauptbahnhof in Richtung Messegelände in Bewegung gesetzt – und damit erneut das rigorose Versammlungsverbot durchbrochen.
Die Polizei versucht immer wieder, Aktivisten einzukesseln und »in Gewahrsam zu nehmen«. Bis zum Mittag hat sie nach eigenen Angaben rund 400 Menschen auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen. Gegen viele von ihnen werden Aufenthaltsverbote für die Frankfurter Innenstadt ausgesprochen, die zum Teil bis Sonntag abend gelten sollen. »Diese Aufenthaltsverbote sind allesamt rechtswidrig«, stellt der Jurist Paolo Rossini vom Ermittlungsausschuß des Bündnisses fest. Bei Widersprüchen habe keines der Verbote vor Gericht Bestand gehabt. »Ganz offensichtlich hat die Polizei hier mit Vorsatz Recht gebrochen«, meint er. Er verweist darauf, daß seines Wissens nach bislang gegen keinen einzigen Demonstranten strafrechtliche Vorwürfe erhoben wurden.
»Unser Ziel, die Banken und die EZB zu blockieren, haben wir erreicht – auch Dank der Polizei«, stellt Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum fest. Allerdings habe durch das repressive Vorgehen der Behörden ein Großteil der inhaltlichen Veranstaltungen nicht stattfinden können. Ursprünglich sollten auf den Plätzen der Stadt eine Vielzahl von Diskussionsrunden, aber auch Konzerte und Kulturevents durchgeführt werden. »Die inhaltliche Auseinandersetzung ist wegen des Verhaltens der Stadt und der Polizei leider zu kurz gekommen«, bedauert Werner Rätz vom »Blockupy«-Bündnis. Der ATTAC-Aktivist sieht einen klaren Zusammenhang zwischen »Verbotsorgie« und politischen Inhalten: »Diese Art von Finanzpolitik in der EU ist eben nur unter Umgehung demokratischer Rechte durchsetzbar.« Das gelte auch für den Fiskalpakt selbst, mit dem »das formaldemokratisch höchste Recht des Parlaments, das Haushaltsrecht, ausgehebelt wird – und das ›bindend und auf ewig‹, wie die Kanzlerin sagt«.
*** Aus: junge Welt, Samstag, 19. Mai 2012
"Wir werden demonstrieren!"
Von Roman Denter, Blockupy-Bündnis ****
Roman Denter. Der 35-Jährige ist einer der Sprecher von Blockupy. Zusammen mit Tine Steininger hält er die Rede für Attac D auf der Abschlusskundgebung bei der EZB.
Zwei Angriffe dauern auf europäischer Ebene im Zuge der Finanzkrise mit unverminderter Heftigkeit an. Bei beiden wird die absolute Unterordnung unter die Anlegerinteressen der globalen Finanzmärkte vor allem durch die deutsche Regierung unter Angela Merkel als einzige Lösung verkauft. In Deutschland war die rot-grüne Agenda 2010 die Speerspitze der Sozialkürzungen, Privatisierungen und Steuersenkungen. Jetzt folgt die Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission europaweit derselben neoliberalen Ideologie. Unverhohlen wird die Zerstörung ganzer Volkswirtschaften und tiefgreifende Verarmung und Verelendung großer Bevölkerungsteile Südeuropas bewusst in Kauf genommen.
Der zweite großflächige Angriff wird gegen die Demokratie selbst geführt. Mit dem ESM wird ein neues Direktorium über den nationalen Parlamenten installiert. Der noch nicht verabschiedete Fiskalpakt droht zudem jedem EU-Staat mit dem Zwangsverwalter. Die Vorstellung eines parlamentarisch-demokratischen Staatswesens wird damit komplett entkernt. Zurück bleibt die leere Hülle einer Scheindemokratie - europaweit. In diesem zusätzlichen Angriff auf die Demokratie liegt aber auch eine Chance. Im demonstrativen Widerstand gegen das Spardiktat und die Kürzungsorgien müssen jetzt die politischen Grundrechte nicht nur neu erkämpft, sondern auch erweitert werden. Der entkernten Scheindemokratie wird dann ein kräftiges »Echte Demokratie jetzt!« entgegengesetzt.
Dieser Idee folgen auch die Blockupy-Proteste in Frankfurt. Mitten im Bankenviertel wird am Sitz der EZB gegen das Spardiktat von Troika und Regierung gecampt, getanzt, blockiert und demonstriert. Die Behörden reagierten mit einer Verbotsorgie. Polizei und Stadt zeichneten ein Bürgerkriegsszenario und erließen pauschale Totalverbote. Ohne Not setzte sich die Stadt sogar kurzfristig in einen finsteren Kontext, indem sie zeitweise die Kranzniederlegung der Frankfurter Jusos für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus verbot. Wie unabsichtliche Ironie wirkte das Verbot der Versammlung für das uneingeschränkte Grundrecht auf Versammlungsfreiheit am Donnerstag an der Frankfurter Paulskirche. Die Protestierenden gingen trotzdem zu diesem für die Demokratie symbolträchtigen Ort. Sie schlugen ihre Zelte auf wie die Bewegungen am Tahir- und Syntagmaplatz oder auf der Puerta del Sol.
Der Staat setzte überhaupt auf andere Symbole, marschierte in einer Hundertschaft Polizeikräfte direkt vor der Paulskirche auf und beschlagnahmte Grundgesetze, die Attac-Aktive verteilten und hochhielten. Das von der Polizei erteilte Totalverbot »jeder politischen Meinungsäußerung - besonders der Zelte« für vier Tage im kompletten Innenstadtbereich erschien so absurd, dass es die Blockupy-Aktiven zu Recht für ungültig erklärten.
Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wurde in diesen Tagen erneut auf der Straße erkämpft. Mit einem vielfältigen Protest nahmen sich die Blockupy-Aktiven das, was ihnen als Menschenrecht zusteht. Heute finden die Proteste mit der internationalen Großdemonstration zur EZB ihren Höhepunkt. Die Polizei hat zwar schon angekündigt, dass erneut ein Verbot droht, sie steht aber durch die Medienberichterstattung unter Druck. Die Antwort der Blockupy-Aktiven wurde in den letzten Tagen hinreichend unter Beweis gestellt: »Wir werden demonstrieren!«
**** Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Mai 2012 (Gastkolumne)
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