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Auf der Suche nach der gemeinsamen Vision

Attac ist trotz der Krise in der Krise – nun wollen die Globalisierungskritiker sich neu formieren

Von Susanne Götze, Freiburg *

Die eigenen Prophezeiungen haben Attac überrollt: Seit der Finanzkrise ist von dem Netzwerk kaum mehr etwas zu hören. Auf der Europäischen Sommerakademie in Freiburg stritten die Aktivisten um eine neue Strategie.

Die Attacies sind wütend. Auf die Bankiers, die Spekulanten, die getriebenen Politiker – und vor allem auf sich selbst. Lange genug hat man in der Deckung gesessen, während Europa genau in die Katastrophe schlittert vor der die Globalisierungskritiker immer gewarnt haben: Die Politiker sind die Getriebenen der Märkte, das Finanzsystem ruiniert ganze Staaten und Europa steht vor einer sozialen Krise noch ungeahnten Ausmaßes. Diese Krise ist für das globalisierungskritische Netzwerk zwar keine Überraschung, dennoch hat man noch keine geeignete Strategie, um gemeinsam auf die neuen »neoliberalen Angriffe« zu reagieren. Das bot genug Stoff für fünf hitzige Tage auf der Europäischen Sommeruniversität in Freiburg, die gestern zu Ende ging. Kassandrarufe allein reichen nicht mehr

Denn nachdem in Europa kurzzeitig – ganz im Sinne von Attac – über eine Kontrolle der Finanzmärkte nachgedacht wurde, steuere man nach der einhelligen Meinung der Teilnehmer nun mit der Sparzwang-Politik auf einen neuen neoliberalen Höhepunkt in der EU-Geschichte zu: Mit Hilfe des IWF würden Staaten wie Griechenland zum Abbau des Sozialsystems getrieben, zu Privatisierungen gezwungen und damit die Arbeitslosigkeit und Prekarität enorm verschärft. »Zudem besteht die Gefahr einer Inflation sowie eines Auseinanderfallens der Gesellschaften durch Vandalismus, rassistische oder ethische Spannungen«, warnt Elmar Altvater, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates von Attac Deutschland. Die Finanzkrise sei deshalb vor allem eine soziale Krise und würde Frieden und Demokratie in Europa gefährden. Die Angst, dass dem Netzwerk die Zeit wegrennt und die Erkenntnis, das allein Kassandrarufe wenig nützen, begleitete das Freiburger Treffen.

So manchem riss während der Sommerakademie der Geduldsfaden: Aufgebrachte Teilnehmer beschimpften die Referenten, das Podium sei zu intellektuell, die Revolution müsse sofort beginnen und die sozialen Missstände würden keinen weiteren Aufschub dulden. Das jedoch wird vor allem von den führenden Köpfen des Netzwerks strikt abgelehnt. Eine Revolte allein würde an der derzeitigen Situation überhaupt nichts ändern.

Vorstellungen etwas volkstümlicher erklären

Der Wiener Politik-Professor Ulrich Brand, aber auch der emeritierte FU-Professor und Attac-Theoretiker Elmar Altvater plädieren zwar für einen radikalen, aber auch strukturierten Umbau, der Produktionsweisen, Konsummuster, Mobilität sowie eine Durchdemokratisierung der Gesellschaft mit einschließt. Das wiederum komme nicht von allein und schon gar nicht von heute auf morgen.

Konzepte dazu gibt es schon genug in den Schubladen von Attac. Die letzten zehn Jahre wurde auf unzähligen Sommerakademie, Podiumsdiskussion, Workshops und in Büchern über eine neue, andere Welt gebührend nachgedacht. Das Problem von Attac ist aber ein anderes. »Man müsste alle Attacies in ein großes Kloster einsperren und sie erst wieder herauslassen, wenn sie sich auf eine grundsätzliche Strategie geeinigt haben«, meint der Berliner Alt-Linke Peter Grottian. So etwas Ähnliches wollen die Attacvertreter in Zukunft zumindest auf europäischer Ebene machen, das regte unter anderem Alexandra Strickner aus Österreich in Abstimmung mit ihren spanischen und italienischen Kollegen auf dem Strategietreffen am Donnerstagabend an. »Uns fehlt eine europäische gemeinsame Vision«, unterstrich Strickner. Das Europäische Sozialforum (ESF) – einstiger Hoffnungsträger für eine europäische Vernetzung linker Bewegungen – hätte dagegen ausgedient, darüber waren sich viele Redner auf der Akademie einig. Das ESF würde heute niemand mehr wirklich zur Vernetzung oder gar zur Mobilisierung für politische Kampagnen nutzen. Tatsächlich fanden außerhalb der turnusmäßigen Gipfelproteste keine Kampagnen oder Mobilisierungen statt. Da sind die Gewerkschaften schon um einige Erfahrungen reicher: Mit den Protesten gegen die Dienstleistungsrichtlinie oder die Hafenarbeiterrichtlinie haben sie schon europäische Mobilisierungsgeschichte geschrieben.

Da es nicht nur um Arbeitnehmerinteressen, sondern um den Kapitalismus an sich geht, stellt sich heute mehr denn je das Problem der Vermittlung: Attac sei oft zu abstrakt, zu volkswirtschaftlich, zu theoretisch, so die Selbstkritik der Basis, die vor Ort mit den Bürgern diskutiert. Sie fordern eine Zuspitzung und plädieren sogar für eine »Vulgarisierung« der Forderungen. Viele wollen auch mit dem zahmen Bild des netten Globalisierungskritikers brechen. Mehr zivilen Ungehorsam brauche das Land, und Attac müsse in der Tradition der Anti-AKW-Bewegung die zivilgesellschaftlichen Kräfte bündeln und sich »mehr trauen«.

* Aus: Neues Deutschland, 15. August 2011


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