"Keine Zustimmung bei Zusammenlegung der Abstimmungen für ISAF und Tornados"
Sonderparteitag der GRÜNEN lehnt Vorstandsantrag ab - Der Beschluss im Wortlaut
Die Grünen-Fraktion soll nach dem Willen der Basis gegen die Verlängerung des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan stimmen. Als Protest gegen die von der Regierungskoalition vorgenommene Zusammenlegung der Mandate für den ISAF- und den Tornado-Einsatz empfahl der Sonderparteitag in Göttingen am Samstag, den 15. September, den Abgeordneten eine Ablehnung des "Pakets". Damit bereitete der Parteitag auch dem Bundesvorstand eine Niederlage. Er hatte dafür plädiert, den Abgeordneten das Abstimmungsverhalten im Bundestag freizustellen.
Zwar hatten sich die meisten Delegierten für eine Verlängerung des ISAF-Einsatzes zur militärischen Absicherung des Wiederaufbaus in Afghanistan ausgesprochen. Wegen des breiten Widerstands gegen den Tornado-Einsatz empfahl er aber die Ablehnung des gekoppelten Mandats. Die Delegierten plädierten auch für ein Ende der Beteiligung an der Antiterror-Operation Enduring Freedom (OEF), gegen deren Verlängerung die Fraktion bereits 2006 gestimmt hatte, sowie für eine Verdoppelung der Mittel zugunsten des zivilen Engagements auf 200 Millionen Euro jährlich.
Die Empfehlung des Parteitags zur Ablehnung des gekoppelten ISAF-Tornado-Mandats wurde mit 361 Stimmen angenommen. Der Vorstandsantrag, der eine Aufhebung des Fraktionszwangs in dieser Frage vorsah, erhielt dagegen nur 264 Stimmen und war damit abgelehnt. Der ursprüngliche Vorstandsantrag hatte noch dafür plädiert, dass die Fraktion sich beim gekoppelten ISAF-Tornado-Mandat der Stimme enthalten solle.
Im Folgenden dokumentieren wir den Beschluss von Göttingen im Wortlaut.
Außerordentliche Bundesdelegiertenkonferenz
15. September 2007, Lokhalle in Göttingen
Militärische Eskalation ist keine Lösung – Mit politischen Mitteln und zivilem Aufbau den Frieden in Afghanistan gewinnen!
Weichenstellungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Ein militärisch verstandener „Krieg gegen den Terror“ ist nicht zu gewinnen. Vor allem im
Irak und in Afghanistan erweist sich dieser als höchst kontraproduktiv und treibt geradezu
junge Frauen und Männer in die Arme der radikalislamistischen Terroristen. Dieser
sogenannte „Krieg gegen Terror“ trifft auf einen arabisch-islamischen Krisengürtel vom
Maghreb bis zum Hindukusch, d.h. auf eine islamische Welt, die nach wie vor noch nicht
ihren Weg in die Moderne gefunden hat und in der in großen Teilen Armut, politische
Instabilität oder autoritär-religiöse Regime vorherrschen. Der Kampf gegen den Terror ist
daher nicht mit Flugzeugträgern und Bomben und auch nicht mit einer Verwandlung
unserer offenen Gesellschaften in Sicherheitsgesellschaften, sondern nur in den Herzen und
Köpfen der Frauen, Männer und Familien der islamischen Welt und unter Wahrung der
eigenen Grundwerte zu gewinnen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehen daher im Dialog der
Kulturen, in der Bekämpfung der Armut und des Analphabetismus, in der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit und in der Entwicklungshilfe, in der zivilen Konfliktprävention und
Konfliktbearbeitung und in der Förderung von Demokratie und Menschenrechten einen
deeskalierenden und friedlichen Königsweg, um der arabisch-islamischen Welt ihren Platz in
der Weltgemeinschaft zu ermöglichen und unsere eigenen Werte des Friedens, der
Demokratie und der Menschenrechte zu bewahren.
Gerade eine aus der Friedensbewegung hervorgegangene Partei wie BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, die ihre Lehren aus den blutigen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts gezogen
hat, steht somit zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts vor einer besonderen
Herausforderung. Denn die geo- und friedenspolitischen Weichenstellungen, die jetzt
vorgenommen werden, entscheiden darüber, ob nach einem Jahrhundert der heißen und
kalten kriegerischen Konfrontationen der Ideologien und Blöcke das nächste Jahrhundert
eines des heraufbeschworenen „Kampfes der Kulturen“ sein wird. Darum liegt es jetzt in
unserer besonderen Verantwortung, unser friedenspolitisches Erbe zu bewahren und mit
sehr viel Realismus und Weitblick die tatsächliche Lage in Afghanistan und ihre Perspektiven
im Rahmen einer nicht auszuschließenden weiteren Kriseneskalation ungeschönt
anzumahnen und darüber hinaus zur treibenden Kraft eines dringend erforderlichen
Friedensprozesses zu werden.
1. OEF sofort beenden
Einhellig sprechen sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mittlerweile für eine sofortige
Beendigung von OEF aus. Diese Position halten wir für richtig und notwendig und
begrüßen sie ausdrücklich. Die „Operation Enduring Freedom“ ist in Wirklichkeit ein
permanenter Krieg, den es zu beenden gilt, zumal Al-Qaeda durch dieses kontraproduktive
Vorgehen heute nahezu wieder die Stärke von 2001 erreicht hat. Mit einer falschen und der
Wertebasis des Westens zuwiderlaufenden Strategie ist die gegenwärtige US-Regierung auf
dem besten Weg den vielbeschworenen „Kampf der Kulturen“ zu einer für den
Weltfrieden höchst gefährlichen, sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden zu lassen.
Gerade in Afghanistan gefährden die OEF-Operationen völlig den zivilen Wiederaufbau
und damit alles bisher Erreichte. Zu dem nun notwendigen Realismus und Weitblick gehört
aber auch die Feststellung, dass es in der taktischen Kampfführung vor Ort und auch in den
Kommandostrukturen eine Verschränkung von OEF und ISAF („International Security
Assistance Force“) gibt. So werden alle Einsätze westlicher Kampfflugzeuge von der USKommandozentrale
in Qatar gesteuert; der Kommandant von OEF, der US-General David
Rodriguez, ist zugleich Chef des Regionalkommandos Ost der ISAF. Ein argumentatives
Sich-Zurückziehen auf Mandate und Legitimationsstrukturen ändert weder militärisch noch
politisch an diesen höchst problematischen Verschränkungen etwas. Mit großer Sorge sehen
wir, dass immer mehr Zivilistinnen und Zivilisten Opfer des Krieges in Afghanistan werden.
Auf der einen Seite greifen die Aufständischen zunehmend zu terroristischen Methoden wie
Selbstmordanschlägen, Erschießungen und Geiselnahmen. Diese verbrecherischen
Anschläge, die keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung erkennen lassen, verurteilen wir
aufs Schärfste. Auf der anderen Seite werden bei Einsätzen von OEF und leider auch ISAF,
insbesondere bei Luftangriffen auf bewohnte Gebiete, immer häufiger unbeteiligte Frauen,
Männer und Kinder getötet oder verletzt.
Bündnis 90/Die Grünen verlangen deshalb die sofortige Einstellung aller Luftangriffe auf
zivile Einrichtungen, wie zum Beispiel Wohngebiete. Auch bei Einsätzen am Boden muss der
Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität haben. Außerdem fordern wir eine
angemessene Entschädigung der Opfer und ihrer Familien sowie eine unabhängige
Untersuchung aller Vorfälle, in denen ZivilistInnen zu Schaden gekommen sind.
Guantánamo und Abu Ghraib haben Menschen- und Völkerrecht massiv geschädigt. Mit
dem "military commissions act" der USA von 2006 werden der US-Armee
uneingeschränkte willkürliche Verhaftungen von terrorverdächtigen und folterähnliche
Verhörmethoden erlaubt. Hierzu dürfen deutsche Soldaten weder direkt noch indirekt
beitragen.
Außerdem steht OEF auf dem Boden des Völkerrechts auf ausgesprochen wackligen
Beinen. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Einsatzpraxis, wie sich leider immer wieder
bei den Verschleppungen von vermeintlichen „feindlichen Kombattanten“ nach Guantánamo und in andere rechtsfreie Räume zeigt. Daher verbietet sich eine Zustimmung
zur OEF-Mandatsverlängerung von allein. Die mögliche Beteiligung deutscher KSKEinheiten
an derartigen rechtswidrigen Aktion muss aufgeklärt werden.
2. Die RECCE-Tornados zurückholen
Formal ist der Tornado-Einsatz der Bundeswehr streng auf ISAF beschränkt, de facto ist das
unter den geltenden Bedingungen nicht möglich. Selbst wenn die Bundeswehr, wie vom
Bundestag vorgegeben, ihre Daten strikt trennt und die Aufklärungsergebnisse der
Tornados nur ISAF zugänglich macht, laufen die relevanten Informationen doch spätestens
in Qatar zusammen. So trägt Deutschland eine Mitverantwortung, wenn aufgrund der
Aufklärungsergebnisse auch Bombeneinsätze geflogen werden. Die Verschränkung von
ISAF und OEF zeigt sich auch bei den immer wieder erfolgenden Hilferufen an ISAF von in
militärische Bedrängungslagen geratenen OEF-Verbänden. Selbstverständlich kommt ISAF
in solchen Situationen den Verbündeten zur Hilfe, aber dabei entwickeln sich immer wieder
auch Situationen, die zu Bombardierungen von Dörfern führen, bei denen ZivilistInnen ums
Lebens kommen, wie dies noch im Juni 2007 im Bundestag thematisiert wurde.
Statt die finanziellen und personellen Mittel hier sinnlos, ja sogar kontraproduktiv zu
binden, fordern wir diese an anderer Stelle, zum Beispiel für den Aufbau der afghanischen
Polizei, einzusetzen. Die Entscheidung der Bundesregierung, des Bundestages sowie eines
großen Teiles der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für einen
Kampfeinsatz deutscher Tornados halten wir für falsch. Daher lehnen BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eine Verlängerung des Tornado-Mandates für Afghanistan über den 13. Oktober
2007 hinaus oder gar eine Integration dieses Mandates in das ISAF-Mandat ab. Der
Parteitagsbeschluss vom Dezember 2006 in Köln ist insofern zu präzisieren, als dass die
klare Ablehnung der „dauerhaften Erweiterung des Operationsgebiets der Bundeswehr“
auf sämtliche Waffensysteme ausgeweitet wird, die unmittelbar oder mittelbar der
offensiven Kampfführung der NATO dienen.
Das Zurückholen der im Einsatz teuren, in ihrer militärischen Anwendung unklaren und die
Sicherheit der Bundeswehr im Norden gefährdenden RECCE-Tornados ist zugleich mit der
Formulierung und politischen Einforderung eines Befriedungs- und Friedensprozesses für
Gesamtafghanistan zu verbinden.
3. Keine Zusammenlegung der Mandate für ISAF und OEF
Die Erfolgsaussichten von ISAF hängen nicht allein von der politischen Forderung nach
einem Ende der OEF-Operationen ab, sondern ausnahmslos von deren faktischer
Beendigung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (und unserer Meinung nach alle Parteien und
PolitikerInnen der Bundesrepublik Deutschland) können ISAF nur dann weiter glaubwürdig
mittragen, wenn gleichzeitig jegliche Unterstützung für OEF beendet wird. Daher lehnen
wir eine Zusammenlegung der Mandate von OEF und ISAF unmissverständlich ab.
4. Keine Zustimmung bei Zusammenlegung der Abstimmungen für ISAF und Tornados
Die Bundesregierung plant aus partei- und koalitionstaktischen Überlegungen, die
Abstimmungen im Bundestag in der Art zu manipulieren, dass OEF getrennt und später,
ISAF und die Tornado-Einsätze jedoch zusammen im Oktober abgestimmt werden sollen.
Bildlich gesprochen wird ISAF von der Bundesregierung somit als „Geisel“ für die Tornados
genommen und ein faktischer Strategiewechsel damit unmöglich gemacht.
Für diesen Fall fordert die Sonder-Bundesdelegiertenkonferenz die Mitglieder der grünen
Bundestagsfraktion auf, dieses Verfahren als „der Sachlage unangemessen“ zu
brandmarken und in der Abstimmung - bei Ablehnung der Verlängerung des
Tornadoeinsatzes die einzig mögliche Variante - dem „Paket“ NICHT zuzustimmen.
5. Bundeswehr in Afghanistan: Zivilen Aufbau sichern, den Frieden herstellen
Der Erfolg von ISAF wird durch die auswegslose militärische Gewaltspirale in Afghanistan
unmöglich gemacht. Eine Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandates ist deshalb an
den Ausstieg aus der Gewaltspirale und eine Ablehnung der Aufstockung des deutschen
Truppenkontingentes in Afghanistan geknüpft. Darum muss im Sinne der
friedenspolitischen Verantwortung der Partei die faktische Lage in Afghanistan und die
tatsächlich verfolgte Strategie der NATO die Basis unserer zukünftigen Entscheidungen
bilden. Aufgabe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als Oppositionspartei im Deutschen
Bundestag ist es darum jetzt, gegenüber der Bundesregierung und der NATO eine
konsistente politische Alternative für das Gesamtengagement in Afghanistan zu entwickeln
und zu vertreten.
Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist der weitere Einsatz der Bundeswehr nur dann tragbar,
wenn rasch ein klar erkennbarer Kurswechsel der Bundesregierung und der NATO
eingeleitet wird, der eine politische Lösung im Sinne des hier skizzierten Friedensprozesses
anstrebt und mit erheblich mehr zusätzlichen Ausgaben für den zivilen Bereich verbunden
ist. Diese Änderung der Strategie bzw. die dokumentierte Absicht dazu muss seitens der
Bundesregierung VOR einer Zustimmung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer
Verlängerung oder Neumandatierung vorliegen.
Wir stellen dabei fest, dass ein schneller Rückzug der Bundeswehr die bisher
vergleichsweise stabilen Regionen im Norden Afghanistan ins Chaos zurückfallen lassen
würde. Der begonnene zivile Aufbau muss auch zu einem erfolgreichen Ende geführt
werden. Wir dürfen, obwohl wir 2001 in diesen Konflikt gezwungen wurden, uns heute
nicht ohne Weiteres zurückziehen. Wir sind damals eine Verantwortung für die Menschen
in Afghanistan eingegangen, zu der wir stehen müssen. So lange zum Aufbau von Polizei
und Infrastrukturen noch eine militärische Absicherung erforderlich ist und so lange diese
nicht vom afghanischen Militär bzw. der afghanischen Polizei gewährleistet werden kann,
so lange ist der Abzug der deutscher Bundeswehreinheiten nicht vertretbar. Entscheidend
dabei ist aber eine Transformation des Militärischen zum Polizeilichen, d. h. dass dieser
Einsatz eine rein defensive, auf Schutz ausgerichtete Strategie verfolgen muss, um so die
Akzeptanz in der Bevölkerung nicht zu verlieren. Klar ist aber auch, dass das Militär nur die
notwendigen Rahmenbedingungen zur Stabilisierung liefern kann – gelöst werden kann das
Problem nur mit zivilen Mitteln. Die Möglichkeiten, aufgrund einer neuen, friedlichen
Verhandlungsinitiative zu einer politischen Lösung zu kommen, haben aber wiederum nur
dann überhaupt eine Chance, wenn dort für Stabilität gesorgt wird, so lange dies der
afghanische Staat nicht zu tun vermag.
Der durch die Petersberger Konferenz geschaffene Fahrplan zur Stabilisierung und
Befriedung Afghanistans war ein notwendiger und guter Schritt hin zu einer dauerhaften
Lösung. Er ist aber mittlerweile an seine Grenzen gestoßen oder durch eine Eskalation des
Militärischen entwertet worden. Es ist dringend erforderlich, sobald als möglich erneute
Verhandlungen mit allen relevanten afghanischen Gruppierungen aufzunehmen,
einschließlich der Taliban. Damit muss dem weit auseinanderklaffenden Missverhältnis von
Anspruch (eine demokratisch legitimierte Zentralregierung Karsai für ganz Afghanistan) und
Wirklichkeit (ein Flickenteppich regionaler Herrschaftsgebiete lokaler Warlords und
extremistischer Gruppen wie den Taliban) endlich Rechnung getragen werden. In einen
solchen Verhandlungsprozess müssen unbedingt die Nachbarstaaten mit einbezogen
werden.
Ziel muss es sein, die Anstrengungen im zivilen Bereich und beim Aufbau der afghanischen
Sicherheitskräfte zu verstärken, damit Afghanistan bald möglichst ohne internationale
Sicherheitsunterstützung auskommt. In dem Maße wie die Afghaninnen und Afghanen in
der Lage sind, selbst für die Sicherheit im Lande zu sorgen und den Wiederaufbau
abzusichern, müssen die Bundeswehr, bzw. die Truppen der internationalen Gemeinschaft
schrittweise abgezogen werden.
Ein nun zu entwickelnder und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu vertretender neuer
Friedensprozess (Petersberg 2) muss ISAF wieder in die Lage versetzen, ihren
ursprünglichen, auf der Petersberger Konferenz (Bonner Vereinbarung) vorformulierten und
hiernach im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen am 20. Dezember 2001
beschlossenen Auftrag zu erfüllen: Sie soll im Auftrag und unter dem Dach der Vereinten
Nationen die afghanische Regierung bei der Wahrung der Menschenrechte, dem
Wiederaufbau, der Auslieferung humanitärer Hilfsgüter und der geregelten Rückkehr von
Flüchtlingen sowie bei der Herstellung und Wahrung der inneren Sicherheit unterstützen.
Außerdem muss die Koordination zwischen den zuständigen deutschen Stellen
transparenter gestaltet werden. Die Abstimmung zwischen den Ministerien in Deutschland
und den vor Ort durchführenden Organisationen und Aktiven muss deutlich verbessert
werden. Wir fordern die Bundestagsfraktion auf, die Einsetzung eines Beauftragten für die
Afghanistanpolitik, z.B. im Auswärtigen Amt, zu prüfen, der die Koordinierung verbessern
soll.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Fähigkeiten Deutschlands zur zivilen
Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung, über den Aufbau ständig verfügbarer
Einheiten endlich strukturell zu verbessern und zusätzliche Mittel bereitzustellen.“
6. Die Perspektive – Petersberg 2
Für den weiteren Einsatz der Bundeswehr sehen wir folgenden fünf Grundbedingungen:
-
Hegemoniale, soziale, wirtschaftliche und andere Zielvorgaben, die den Frieden und
demokratisch legitimierte, souveräne und verantwortungsfähige staatliche
Strukturen in Afghanistan gefährden und terroristische Aktivitäten provozieren,
werden nicht länger durch ISAF unterstützt. (Dabei ist davon auszugehen, dass die
großen, regionalen Unterschiede zwischen den verschiedenen Provinzen des Landes
durch eine stärkere föderale Staatsstruktur besser repräsentiert werden könnten, als
dies das Präsidialsystem der Regierung Karsai allein vermag).
- Den großen sozialen, ökonomischen und kulturellen Unterschieden zwischen den
afghanischen Provinzen sollte Rechnung getragen werden, indem die
internationalen Hilfsmaßnahmen entlang dieser Spezifika ausgerichtet werden.
- Alle politisch relevanten Gruppen in Afghanistan müssen ohne Parteiverbot in den
künftigen politischen Prozess in Afghanistan eingebunden werden. (So schmerzhaft
die Einsicht auch ist: Verhandlungen müssen mit allen relevanten, tatsächlich Macht
innehabenden Fraktionen – auch Warlords und Taliban – durchgeführt werden,
wenn sie eine realistische Chance auf Erfolg haben sollen).
- Das benachbarte Ausland, das bereits in der Vergangenheit durch Interessenpolitik
in Afghanistan aufgefallen ist, soll im Rahmen einer Konferenz eingebunden
werden, ähnlich wie bei der Fünfergruppe für Bosnien-Hercegovina. Damit wird die
künftige Nichteinmischungspolitik dieser Mächte bindend und mit nachzuhaltender
Sanktionsmöglichkeit vertraglich festgelegt. Zur Förderung der regionalen Stabilität
und zur Absicherung der eigenständigen Entwicklung Afghanistans sollte ein
Sicherheits- und Stabilitätsdialog initiiert werden, in den alle Nachbarstaaten
einbezogen sind.
- Für Afghanistan wird ein vertrauensbildender Friedensprozess aufgelegt, mit zeitlich
festgelegten stufenweisen und überprüfbaren Zielvorgaben und daran gekoppelter
steigender Entwicklungshilfe bei sinkender internationaler Truppenpräsenz.
Entscheidend dabei ist der Übergang von militärischen zu polizeilichen Einsätzen mit
dem Ziel eines Aufbaus selbsttragender Strukturen.
- Entsprechend der UN Resolution 1325 "Frauen, Frieden und Sicherheit" sowie dem
Antrag der grünen Bundestagsfraktion im März 2007 ist es unerlässlich, Frauen in
den Friedensprozess in Afghanistan einzubinden. Die Bundesregierung ist
aufgefordert, endlich einen nationalen Aktionsplan für die Erfüllung der UN-Resolution
1325 vorzulegen. Für den zivilen Aufbau Afghanistans ist die
Genderperspektive kein frauenpolitischer Selbstzweck. Die Durchsetzung von
Frauenrechten ist ein elementarer Bestandteil für den Aufbau einer Zivilgesellschaft
und die Demokratisierung des Landes. Frauen tragen Verantwortung für die
Gemeinschaft und den Friedensprozess und müssen in die Lage versetzt werden,
diese auch wahrzunehmen. Der Schutz der afghanischen Frauen und Mädchen vor
Gewalt muss beim Aufbau der afghanischen Gesellschaft ganz oben auf der Agenda
der zivilen Friedensstrategie stehen. Ihre Situation ist nach wie vor von Zwangsheirat
und Verschleppung, häuslicher Gewalt, mangelnder medizinischer Versorgung und
fehlendem Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit gekennzeichnet. Langfristige
Strategien sind nötig, um das patriarchal geprägte gesellschaftliche Bewusstsein
dauerhaft in Richtung einer Ablehnung von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung zu
verändern. Neben diesen langfristigen Strategien bedarf es praktischer Maßnahmen
wie der Einrichtung ausreichender und sicherer Schutzräume für Frauen, die vor
Verfolgung und (sexualisierter) Gewalt flüchten. Neben der gezielten Förderung von
Frauen und Mädchen ist es dringend notwendig, auch die Männer durch geeignete
Bildungsmaßnahmen davon zu überzeugen, dass es in ihrem und im Interesse
Afghanistans ist, Frauen aktiv am Aufbau zu beteiligen. Gegen breiten Widerstand
der afghanischen Männer ist die Gleichberechtigung der afghanischen Frauen nicht
zu erreichen, denn in Afghanistan sind die instabile Lage und das ständige
Aufbrechen von lokalen Konfliktherden u.a. auf die patriarchale
Stammesgesellschaft zurückzuführen. Hier kann ein Ansatz, der verstärkt Frauen in
den Mittelpunkt einer politischen Gesamtstrategie rückt, konfliktlösend wirken. Um
Frauen und Mädchen Selbstbestimmung und Teilhabe zu ermöglichen, brauchen sie
den verlässlichen Zugang zu Bildung. Nur so können sie langfristig in die Lage
versetzt werden ihre eigene Situation und den Wiederaufbau des Landes
voranzutreiben. Zwar ist Schulbildung so vielen Mädchen zugänglich wie noch nie,
doch sind enorme Steigerungen nötig, wenn bisher gerade einmal 19 Prozent aller
für Schulen für Mädchen vorgesehen sind.
In den letzten Jahren sind, mit ideeller und finanzieller Unterstützung der
Geberländer, Frauen als öffentliche, politische Akteurinnen wieder sichtbar
geworden. Ihre aktive Einbindung in politische Gremien auf allen Ebenen, wie z.B.
auch bei zivilen Ratsversammlungen, ist unabdingbar. Allerdings werden diese
Frauen zunehmend zum Ziel gewaltsamer Übergriffe. Für sie müssen deshalb
Sicherheitskonzepte entwickelt werden, die sie effektiv vor Gewalt schützen, damit
sie ihre politische Arbeit fortsetzen können. Der Aufbau des Polizei- und
Justizapparates muss Frauenrechte und frauenspezifische Problemlagen
selbstverständlich berücksichtigen. Sie müssen integraler Bestandteil der Ausbildung
auch in diesen Bereichen sein. Die Zahl weiblicher Polizistinnen und weiblicher
Polizeioffiziere ist nach wie vor extrem niedrig – hier braucht es einen erheblich
höheren Frauenanteil.
Vorstellbar ist, dass auf dieser Grundlage mit Hilfe von Modellprojekten zuerst
vergleichsweise ruhige Regionen dauerhaft stabilisiert werden. Von diesen Regionen kann
dann die positive Entwicklung auf den Rest des Landes übertragen und so der Befriedungsund
Friedensprozess schrittweise auf Gesamtafghanistan ausgeweitet werden. Dabei sollte
die bedingte Fortsetzung von ISAF an eine Aufstockung der Entwicklungs- und Aufbauhilfe
gebunden werden. Wenn die Bundesregierung behauptet, das zivile Engagement stehe im
Zentrum ihres Handelns und Außenminister Steinmeier gar von einer „zivilen
Aufbauoffensive“ redet, führt sie die Öffentlichkeit bewusst in die Irre. Sowohl personell als
auch finanziell steht zweifellos das militärische Engagement im Zentrum. Die für 2008
„angestrebte“ Erhöhung der zivilen Hilfe um 25 Mio. Euro ist angesichts der 70 Mio. Euro,
die sie jährlich für den TORNADO-Einsatz auszugeben bereit ist, geradezu lächerlich.
Angesichts des Bedarfs vor Ort sind 25 Mio. Euro nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wir Grünen fordern die Bundesregierung auf, die zivilen Mittel für 2008 von 100 auf 200
Mio. Euro zu verdoppeln. Dies ist ein wichtiges Signal nicht nur für Afghanistan, sondern
auch für die anderen Geber. Zusätzliche Gelder für Afghanistan dürfen aber nicht zu Lasten
anderer Krisengebiete (z.B.Afrika) gehen. Wenn das zivile Engagement im Zentrum des
Handelns stehen soll, dann muss in den kommenden Jahren die Diskrepanz zwischen zivilen
und militärischen Aufwendungen weiter abgebaut werden. Wir fordern daher die
Bundesregierung auf, ihren Worten jetzt Taten folgen zu lassen und die Anstrengungen im
zivilen Bereich deutlich zu verbessern und auszubauen.
Die Reduktion des Drogenanbaus und der Kampf gegen die Strukturen des Drogenhandels,
sowie ein Strategiewechsel in der internationalen Drogenpolitik sind der Dreh- und
Angelpunkt für die Wirtschaft und die Zukunft des Landes .. Der Vorschlag, statt die
Schlafmohnfelder zu zerstören, einen großen Teil der Opiumernte kontrolliert aufzukaufen
und beispielsweise dem Roten Kreuz/Halbmond und anderen internationalen
Organisationen zur pharmazeutischen Verwendung zu überlassen, muss ernsthaft geprüft
werden. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass Strategien, die auf die
Vernichtung von Mohnpflanzungen und die gewaltsame Unterbindung des Opiumhandels
basieren, die politische Stabilität und die demokratische Entwicklung unterminieren und
terroristische Strukturen stärken. Die vom Opiumanbau abhängigen Kleinbauern verlieren
durch solche Zwangsmaßnahmen ihre oft einzige Existenzgrundlage und werden so leicht
Opfer der Rekrutierungsbemühungen von Warlords und Terroristen, die sich wiederum aus
dem Opiumhandel finanzieren. Eine solche Strategie hätte den Vorteil, dass dem kriminellen
Opiumhandel die Grundlage entzogen werden könnte und damit die entscheidende
Finanzierungsquelle für die Privatmilizen der Warlords und die mafiösen Strukturen
wegfiele. Problematisch ist dabei aber andererseits, dass damit der Opiumanbau noch
attraktiver für die Landbevölkerung werden könnte. Deswegen muss gleichzeitig
sichergestellt werden, dass finanzielle Anreize, technische Unterstützung und nachhaltige
Sicherheitsgarantien für Bäuerinnen und Bauern, die von Opium- auf Lebensmittelanbau
umstellen wollen, überall verfügbar und auch attraktiv sind. Langfristiges Ziel dabei muss
sein, die Lebensmittelversorgung Afghanistans so weitgehend wie möglich aus eigener,
autarker Landwirtschaft zu sichern und auf diese Weise den Schlafmohnanbau möglichst
weit zurückzudrängen.
Eine weitere von uns abgelehnte Eskalationsstufe bedeutet die von den USA angekündigte
große Vernichtungskampagne mit dem Einsatz von Chemikalien. Die Verseuchung von
Böden und Grundwasser sowie langfristiger Schäden im Ökosystem werden damit in Kauf
genommen.
Nachhaltiger Aufbau ist nur möglich, wenn zivile inländische Strukturen den Aufbau tragen
und der Bevölkerung hiermit eine lebbare Alternative aufgezeigt wird. Deshalb müssen
lokale zivile Strukturen herausgearbeitet und ihnen mittelfristig die Aufgaben übertragen
werden. Der Friedensprozess muss begleitet werden durch verstärkte zivile
Aufbaumaßnahmen, vor allen Dingen der Infrastruktur, der Polizei, der Verwaltung und
Justiz und jeglicher Förderung von Bildung, insbesondere von Frauen, etwa mittels eines
langfristig finanzierten Bildungsplanes, und der Ökonomie.
7. Ausweitung des zivilen Engagement in den Süden und Südosten
Angesichts einer sich ausweitenden Destabilisierung auch bislang ruhiger Regionen in
Norden erkennen wir die Notwendigkeit, auch in den Provinzen des Südens und des
Südostens mit mehr ziviler Aufbauarbeit zu reagieren. Deswegen unterstützen wir die
Anfragen nach konkreten Projekten und fordern die Bundesregierung auf, diese Aktivitäten
in Rücksprache mit der Bevölkerung vor Ort und in Absprache mit den
Nichtregierungsorganisationen zu fördern und in eine Gesamtstrategie einzubetten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Fähigkeiten Deutschlands zur zivilen
Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung, über den Aufbau ständig verfügbarer
Einheiten endlich strukturell zu verbessern und zusätzliche Mittel bereitzustellen.“
8. Ohne Kurswechsel kein Mandat
Falls es nicht zu einem von uns geforderten erkennbaren Kurswechsel kommt, bedeutet das
in der Konsequenz, dass sich die Bundeswehr komplett aus Afghanistan zurückziehen muss.
Das Zeitfenster für einen solchen Strategiewechsel ist dabei nicht unbegrenzt. Detailliert
ausgearbeitete und aktuelle Konzepte, wie etwa der in dem Grünen Positionspapier „Mit
diesem Krieg ist kein Frieden mehr zu machen“ vorgestellte und auf fünf Jahre angelegte
Befriedungs- und Disengagement-Plan, liegen mittlerweile von Afghanistan-ExpertInnen
vor. Aber bislang ist seitens der Bundesregierung eine neue deeskalierende Strategie nicht
erkennbar. Ebenfalls nicht erkennbar ist ein Ende des Einsatzes in einem verantwortbaren
Zeitraum. Maßgebend für jegliche weitere Zustimmung zu einer Verlängerung des
Bundeswehreinsatzes ist für uns jedoch die - längst überfällige - Vorlage eines zeitlich klar
gegliederten Stufenplans für den Aufbau und die Befriedung. Dieser Zeitplan muss einen
völligen Abzug der ausländischen Truppen, somit natürlich auch der Bundeswehr in
wenigen Jahren beinhalten.
Die Kette der einjährigen Mandatsverlängerungen für den Bundeswehreinsatz mit unklaren
Perspektivorstellungen wird BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht fortschreiben. Während die
Bundesregierung und die Koalitionsparteien bisher niemandem erklären konnten, wie dieser
Krieg zu gewinnen sei, schlagen wir einen grundlegenden Strategiewechsel vor, mit dem
der Frieden zu gewinnen ist.
Quelle: Website der Partei Bündnis90/Die Grünen;
www.gruene.de
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