Und sie bewegt sich doch
Kundgebungen an vielen Orten: Krieg ist nicht die Antwort
Von Marina Achenbach
Angesichts der Tausenden Toten in New York gegen US-Bomben auf die
Straße gehen? Die Verdächtigung, damit rechtfertige man die Attentäter,
riskieren? Trotz solcher Skrupel kamen die Leute - dreißigtausend in
Berlin. Oder waren es fünfzigtausend? In Stuttgart am selben Samstag
ebenfalls ein Platz voller Menschen. In London, Wien, in Italien,
Frankreich. In New York und anderen Städten der USA. Nun wird in den
meisten Medien Hohn und Spott über sie ausgegossen. Komischer Weise
wird dabei die Friedensbewegung der achtziger Jahre gegen die
Demonstranten von heute ins Feld geführt: als hätte man sie damals
unterstützt, hätte sie in Medien und Politik akzeptiert, während man heute
nur blasse Nachahmer oder sture USA-Hasser erkennen könne. Und als
Refrain tönt es: Ihr habt ja keine Antwort. Der Spruch löst das einstige
stereotype "Geht-doch-rüber" ab.
Jene alten blöden Sprüche kennen die meisten jedoch nicht - weder die
vielen Schülerinnen und Schüler noch Leute, von denen anzunehmen war,
sie würden sonst nie zu einer Demo gehen. Es waren in Berlin so viele,
dass sich die übliche Teilung in politische Gruppen aufhob. Und die erste
"Antwort", die von dieser Kundgebung aus gegeben wurde, ist eine lange
Liste von Argumenten gegen die Bombardierung. Ihre Grundlage ist die
einfache Rechnung, dass Krieg den Terror in jedem Fall antreiben werde
und die Erkenntnis, dass Technik hier wenig nutzt, wie die
Ahnungslosigkeit von CIA und FBI beweist. In der Liste steht auch die
Frage, wie denn Feinde entstehen, wie Islamisten produziert werden und
ob das rückgängig zu machen sei. Die Reden appellierten an die Vernunft,
und Tausende auf dem Gendarmenmarkt in Berlin waren bereit, drei
Stunden zuzuhören. Die Kundgebung war wie ein langer Vortrag von
verschiedenen, sich abwechselnden Stimmen. Ich wüsste nicht, wo es im
Moment ähnlich geduldige Bemühungen gibt, die heutige Welt mit ihren
Gegensätzen zu erfassen. Und wo sonst so nach Antworten gesucht wird,
die - jeder ahnt es, und viele mögen es fürchten - radikal sein müssen,
wenn sie Wirkung zeigen sollen: Es wird nicht ohne den Gedanken
abgehen, "anders zu leben", nicht ohne Abschied von der derzeitigen Logik
in den internationalen Beziehungen, nach der die hochindustrialisierten
Länder von den billigen Rohstoffen und Arbeitskräften der dritten Welt
zehren. Und die Weltmachtrolle der USA wie auch die Teilhabe
Westeuropas an ihr könnten angetastet werden.
Solche bevorstehenden Veränderungen flößen bekanntlich vielen Leuten
Angst ein wie ein dunkles Loch. Sie erschrecken mehr vor Veränderungen
als vor einem möglichen Dauerkrieg. Eine kritische Öffentlichkeit, der es
gelingt, sich gemeinsam mit Zehntausenden zu artikulieren, reduziert die
Irrationalität. Sie kann zum Beispiel darauf hinweisen, dass es schon ein
erster Fehler ist, die Auslieferung bin Ladens allein durch die USA zu
fordern statt über die Organisation Islamischer Staaten (OIC) oder die
Arabische Liga. So gibt es eine lange Reihe von Fehlern, denen bei
Fortsetzung eine voraussehbare Kettenreaktion folgen wird. Bis zum
Untergang.
Ob eine neue Friedensbewegung in Sicht ist, wie in diesen Tagen
hoffnungsvoll oder argwöhnisch gefragt wird, bleibt noch unklar. Ein
Rückfall in die Passivität ist nicht anzunehmen. Dafür ging der Schock vom
11. September zu tief. Es könnte eine Bewegung aufkommen, gemischt
aus Anhängern des Friedensgedankens und Globalisierungskritikern, die
ihr Konzept für die vielen ungelösten Probleme entwickeln. Schon die
Berliner Friedensdemonstration forderte nicht nur Frieden, sondern stand
unter dem Slogan "Soziale Gerechtigkeit weltweit".
Aus: Freitag, Nr. 43, 19. Oktober 2001
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