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Vermächtnis der Überlebenden des KZ Buchenwald für eine "neue Welt des Friedens und der Freiheit"

Rede von Dr. Ulrich Schneider (VVN-BdA) beim Ostermarsch in Kassel am 13. April 2009: Vor dem Mahnmal "Die Rampe"

Wie schon in den vergangenen Jahren macht dieser Teil des Ostermarsches Station hier am Mahnmal „Die Rampe“. Es ist wichtig, dass sich auch die Friedensbewegung dieses Mahnmals erinnert und in das gesellschaftliche Gedenken integriert.

Das Mahnmal „Die Rampe“ ist in seiner ganzen Eindringlichkeit ein sichtbares Zeichen gegen das Verbrechen der systematischen – industriell betriebenen – Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus.

Der Waggon ist Ausdruck der Deportationen per Reichsbahn. Als Höhepunkt des menschenverachtenden, eliminatorischen Antisemitismus fuhren diese Deportationszüge aus allen Teilen des Deutschen Reiches – und natürlich auch aus Kassel. Sie fuhren – wie bei der Reichsbahn üblich – pünktlich nach Fahrplan und verschleppten die Menschen erst nach Buchenwald, dann nach Theresienstadt, nach Riga und Lublin oder direkt nach Auschwitz.

Eva Nele, die Tochter von Arnold Bode, hat dieses Mahnmal 1982 geschaffen – als Teil der Ausstellung „K18 – Stoffwechsel“ und als Gegensymbol zur Beliebigkeit der damaligen documenta. Dieses Denkmal „erinnert als Mahnmal an die Selektion, Deportation und Vernichtung von Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus. Leiden und Sterben der Kasseler Juden, der geknechteten Ausländer und der Kämpfer im Widerstand sollen unvergessen bleiben.“ So lautete der Text der ersten Hinweistafel.

Ich sagte, es ist wichtig, dass sich auch die Friedensbewegung dieses Mahnmals erinnert und solch historisches Erinnern in das gesellschaftliche Gedenken integriert. Denn viel zu oft wird historisches Gedenken entweder ritualisiert oder durch angebliche „Tagesaktualität“ überlagert.

Und tatsächlich erleben wir auch in der Friedensbewegung, wie politische Entwicklungen, die Summe der Kriege historisches Erinnern überlagern können. Betrachten wir nur einmal die letzten Monate:

Wir haben uns als Friedensbewegung engagiert gegen die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten, wir haben protestiert gegen die Bedrohung der jüdischen Bevölkerung durch Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen und gegen die Flächenbombardements und den Bodenkrieg der israelischen Armee in Gaza. Für uns kann es dort nur eine Friedenslösung geben, die das Existenzrecht und das Recht auf einen eigenen Staat für beide Bevölkerungsgruppen entsprechend der UNO-Resolutionen umsetzt.

Wir haben protestiert gegen die Ausweitung des Krieges und des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan. Mit schöner Regelmäßigkeit lesen wir nun Berichte über die „friedensstiftende Rolle“ unserer Bundeswehr in diesem Land. Doch nur wenige Kommentatoren sind bereit einzugestehen, dass insbesondere die Einsätze der NATO-Truppen ein Haupthindernis für eine zivile Lösung in diesem Land ist.

Seit Wochen erhalten wir in den Medien Berichte von einem weiteren „segensreichen Wirken“ unserer Marine, die „unsere“ Rohstoffwege gegen Piraten schützt. Wer erinnert noch daran, dass es Anfang der 90er Jahre der Generalinspekteur der Bundeswehr Naumann war, der die weitere Existenz der NATO meinte damit legitimieren zu können, dass die zukünftigen Kriege um Rohstoffe und die freien Transportwege für „unsere“ Produkte und Waren geführt würden. Nun bekommen wir zur besten Sendezeit die Bilder von entführten Kapitänen, von Frachtschiffen, die gekapert wurden und man suggeriert uns – dafür brauchen wir die NATO.

So verdrängen tagesaktuelle Bilder die Erinnerung. Aber sind nicht insbesondere die militärischen Einsätze in Afghanistan und am Horn von Afrika, für deren Ausweitung gerade im amerikanischen Kongress neue Gelder beantragt wurden, die Folgen dieses Militärbündnisses, dessen 60-jähriges Bestehen vor wenigen Tagen begangenen wurde?

Diese NATO trat 1949 als Ausdruck der Zuspitzung des Kalten Krieges an mit dem vollmundigen Versprechen der Verteidigung von „Freedom and democracy“ - in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden konnte man nicht nur am vergangenen Wochenende erleben, was aus dieser „Freiheit und Demokratie“ geworden ist, dass NATO-Feiern und die Wahrnehmung des demokratischen Rechts auf Versammlungsfreiheit scheinbar ein unüberwindlicher Gegensatz sind. Demokratische Rechte und Freiheiten wurden in einem bislang nicht gekannten Maße eingeschränkt.

Dass Militarisierung und Freiheitsrechte ein Widerspruch sind, das konnten Friedensfreunde in den vergangenen 60 Jahren erleben – auch hier in Kassel. Kassel ist bekanntlich eine Stadt, die durch die faschistische Kriegspolitik in besondere Mitleidenschaft gezogen worden war, nicht allein durch die Militarisierung von Gesellschaft und Wirtschaft, sondern insbesondere als Ziel alliierter Angriffe – dem schwersten im Oktober 1943, der große Teile der Altstadt vernichtete.

Aber auch in unserer Stadt gab es Antifaschistinnen und Friedensfreunde, die als Gegner der faschistischen Kriegspolitik im illegalen Widerstand versucht haben, Schlimmeres zu verhindern, die sich dieser Politik verweigerten und dafür verfolgt, teilweise ermordet wurden, zwei von ihnen – Wolfgang Schönfeld und Johannes Walter – noch in den letzten Stunden vor der Befreiung der Stadt durch alliierte Truppen.

Und diese Frauen und Männer zogen 1945 politische Konsequenzen in der einfachen, aber so klaren Losung: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!

Doch wer in den folgenden Jahren in Konsequenz dieser Erfahrung politisch handelte, wer zum Beispiel die Kriegspolitik der USA in Korea kritisierte, der wurde wegen Kritik an den Besatzungsmächten angeklagt und verurteilt, wer als Konsequenz aus der Zerstörung Kassels im Krieg Minenschächte, die als Teil neuer Kriegsvorbereitung angesehen wurden, zubetonierte, wurde ebenfalls verhaftet und wegen „Sabotage“ und „feindliche Handlungen gegen die Besatzungsmacht“ verurteilt.

Und wer in der Stadt der aufkommenden Rüstungsindustrie bei Bode, Henschel und Wegmann Aufrüstung und Wiederbewaffnung und kritisierte, der verlor oftmals seinen Arbeitsplatz.

Diese Frauen und Männer werden in den Jubelveranstaltungen zum 60jährigen Gründungsjubiläum der BRD wahrscheinlich nicht genannt werden, sie werden verdrängt oder vergessen sein. Die Friedensbewegung täte gut daran, sich auch im Sinne einer eigenen Selbstvergewisserung noch stärker an eben diese Frauen und Männer zu erinnern, die sich gegen den faschistischen Krieg, gegen Remilitarisierung der BRD und Kriegspolitik gewehrt haben. Denn sie zogen 1945 die Konsequenz, die bis heute nichts an Aktualität verloren hat: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!

Und so verbinden wir als antifaschistische und Friedensbewegung an diesem Gedenkort und in diesem Jubiläumsjahr das Gedenken an die Opfer faschistischer und rassistischer Verfolgung mit der Erinnerung an diejenigen, die diesem Terrorregime versucht haben zu widerstehen, mit dem Erinnern an die Frauen und Männer, die politische Konsequenzen im Sinne des Vermächtnisses der Opfer und Überlebenden 1945 gezogen haben und dies auch im politischen Handeln in der Bundesrepublik Deutschland bewahrt haben.

Die meisten von ihnen sind nicht mehr unter uns. Aber geblieben ist ihr politisches Vermächtnis für eine „neue Welt des Friedens und der Freiheit“, von der die überlebenden Häftlinge des KZ Buchenwald am 19. April 1945, auf ihrem ersten Appell nach der Selbstbefreiung des Lagers gesprochen haben. Die Voraussetzung dafür war und ist – so die Überlebenden von Buchenwald – „die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln“. Denn Faschismus, faschistische Ideologie und Krieg bilden eine untrennbare Einheit.

Daher steht für mich aus friedenspolitischer Perspektive auch an diesem Ostermarsch die Forderung nach einem NPD-Verbot auf der Tagesordnung. Ich bin mir sicher, dass ich hierzu keine großen Worte mehr verlieren muss. Das Handeln für eine friedliche und demokratische Perspektive unserer Gesellschaft erfordert – beispielsweise durch ein NPD-Verbot und die Unterbindung faschistischer und rassistischer, insbesondere antisemitischer Propaganda – eine konsequente Umsetzung der historischen Konsequenzen, wie sie von den Alliierten in den Rechtsvorschriften zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ 1945/46 formuliert wurden und bis heute im Artikel 139 Grundgesetz Bestandteil unserer Verfassungsordnung sind.

In diesem Sinne bleiben die Losungen „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ aktuelle Orientierungen zum Handeln.


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