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"Deutsche Außenpolitik soll Friedenspolitik sein"

Horst Schmitthenner, IG Metall, beim Ostermarsch 2002 in Bremen

Wir dokumentieren die folgende Ostermarschrede in der uns übermittelten Fassung.


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Die Politik der Bundesrepublik Deutschland war lange Zeit von militärischer Zurückhaltung geprägt. Diese Zurückhaltung basierte auf den Lehren, die aus dem I. und II. Weltkrieg gezogen wurden; beide Kriege hatten ihren Ursprung im aggressiven deutschen Militarismus. Bereits am Anfang der 90er Jahre zeichnete sich aber eine Veränderung der deutschen Außenpolitik ab. Schrittweise wurden die militärischen Handlungsspielräume erweitert. Die Bundeswehr sollte eine "Armee wie jede andere" werden.

Oder anders gesagt: Als ökonomischer Riese sollte das vereinigte Deutschland nicht länger politischer und militärischer Zwerg bleiben. Diese Strategie ist jetzt leider weitgehend verwirklicht.

Nach dem Jugoslawien-Krieg ist die Beteiligung deutscher Kampftruppen am Krieg gegen Afghanistan bei den etablierten Parteien kaum noch umstritten gewesen; mit ihrem neuen Grundsatzprogramm haben jetzt auch "die Grünen" ihre Parteitheorie der Regierungspraxis angepasst.

Kolleginnen und Kollegen,

Hintergrund der letzten Nato-Kriege ist eine neue Militärstrategie. Das Ende der Systemkonfrontation erfordere eine Erweiterung des Auftrags der Nato. Das kann man in offiziellen Nato-Dokumenten nachlesen. Zur Verteidigung des eigenen Territoriums tritt die Verteidigung der eigenen Interessen. Die Nato ist vom Verteidigungsbündnis nun auch offiziell zum Interessenvertretungsbündnis umgebaut worden.

Diese Interessen sind wirtschaftlicher, politischer und militärischer Natur. Sie liegen in allen Teilen der Welt. Entsprechend ist auch das Einsatzgebiet erweitert. Das heißt, die Natostaaten zielen nach dem Ende des kalten Krieges auf eine neue weltpolitische Vormachtstellung.

Flexible Krisenbewältigung ist Teil dieser neuen Strategie. In diesen Wandel der Natostrategie wurde still und leise auch die Bundeswehr einbezogen. Zur Verteidigung dieser Interessen wird ein Mandat der UNO zwar für wünschenswert, aber keineswegs für notwendig gehalten. Ob interveniert wird, hat dabei wenig mit Menschenrechten, aber viel mit den Interessen der Mächtigen zu tun.

Mit dieser neuen Ausrichtung reagiert die Nato auf die neuen Anforderungen, die sich aus der neoliberalen Globalisierung ergeben. Es geht darum, alle Hindernisse für eine weltweite Verflechtung des Kapitals beiseite zu räumen.

Kolleginnen und Kollegen,

diese Ausrichtung der Nato zeigte sich auch am Afghanistan-Krieg.
Angesichts des Terroranschlages am 11. September hatten viele Menschen ihre pazifistische Grundüberzeugung in Frage gestellt.
Sie überlegten, ob außergewöhnliche Situationen - wie der Terroranschlag in den USA - nicht auch außergewöhnliche Mittel - wie die Kriegsführung der USA und die Beteiligung von deutscher Seite - rechtfertigen...
Aber der Krieg gegen Afghanistan hat es einmal mehr zu Tage gefördert. Unsere Losung muss auch in Zukunft heißen: Nie wieder Krieg!

Der jüngste Krieg gegen Afghanistan zeigt die Militarisierung der Außenpolitik der Nato: Er wurde als unmittelbare Reaktion auf die Terroranschläge in den USA dargestellt. Die Terrorprävention und die Ergreifung der Täter wurden als Ziele benannt.

Im Verlaufe der Kriegsführung wurde der Zielkatalog aber immer weiter aufgefächert. Ganz andere und sehr unterschiedliche Kriegsziele traten zutage, so dass für (fast) jeden etwas Passendes zu finden war:
  • die Abschaffung des Taliban-Regimes,
  • die Wiederherstellung der Menschenrechte,
  • die Sicherstellung des freien Erdölzugangs
  • oder auch ganz offen generelle Vergeltung.
Diese Kriegsziele legen den Verdacht nahe, dass der grauenhafte Terroranschlag vom 11. September für die Kriegführung instrumentalisiert wurde; jedenfalls war er nicht die eigentliche Ursache des Krieges.

Kolleginnen und Kollegen,

es liegt im Wesen des Krieges, dass Zivilisten ermordet und zahlreiche Menschen ins Elend gestürzt werden. Auch noch so saubere und moderne Waffen ändern nichts an diesem Tatbestand. Hinzu kommt, dass im Afghanistan-Krieg international geächtete Waffen wie Splitter- und Minenbomben eingesetzt worden sind. Und nun wird in der US-Administration allen Ernstes darüber nachgedacht, "Miniatombomben" einzusetzen. Damit wird nicht nur eine weitere Grauen erregende Waffe in das Arsenal eingefügt. Damit wird ein Atomkrieg für führbar erklärt.

Und sage mir keiner: Aufgrund der Medienberichterstattung habe ich nichts gewusst. Denn selbst im Pentagon macht niemand mehr ein Hehl daraus, dass die Medien in die Kriegsführung eingebunden werden - ob sie wollen oder nicht. Und Desinformation ist dabei an der Tagesordnung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es wurde versucht, diesen Krieg juristisch dadurch zu rechtfertigen, dass den USA das Recht auf Selbstverteidigung zustehe.
Selbstverteidigung setzt aber eine unmittelbare Bedrohung voraus; und sie muss sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gezielt gegen die Angreifer richten. Diese Verhältnismäßigkeit war bei dem Krieg in Afghanistan ebenso wenig gegeben, wie die unmittelbare Bedrohung.

Dieser Krieg ist daher ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Hierdurch haben die Nato-Staaten die kollektiven Sicherheitsstrukturen, insbesondere die UN und die OSZE, sehenden Auges unterminiert.

Diese Brutalisierung der Sitten liefert auch anderen Staaten Vorwände. Unter dem Deckmantel "Kampf gegen den Terror" versuchen sie, ihre eigenen Interessen ohne Rücksicht auf das Völkerrecht militärisch durchzusetzen. Beispielhaft nenne ich die militärischen Aktionen Israels in den palästinensischen Gebieten und Russlands in Tschetschenien.

Auch die immer wiederkehrende Rede der US-Administration von den Schurkenstaaten passt in diese Entwicklung.
Damit haben die USA ihren eigenen Berufungsfall geschaffen und halten sich nunmehr auch für legitimiert, z. B. gegen den Irak militärisch vorzugehen.
Offensichtlich ist, dass die USA als Zauberlehrling diejenigen genährt hatten, welche sie nun im Namen der Freiheit bekämpfen.

Die außenpolitische Entwicklung ist auch innenpolitisch für die Bundesrepublik Deutschland höchst bedeutsam:
Um eine deutsche Beteiligung an Militäraggressionen durchzusetzen, bedurfte es der vollständigen Umdefinition der Lehren aus dem Faschismus.

Auschwitz war 50 Jahre lang ein Mahnmal und galt als weiterer Grund für die Beschneidung der militärischen Aktivitäten Deutschlands. Nunmehr wird es von den Repräsentanten der neuen Bundesregierung als Argument für völkerrechtswidrige Interventionen missbraucht.

Mit dem so genannten "Antiterrorkampf" geht in den westlichen Ländern zudem immer mehr Repression einher. Sie schlägt sich in der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel in Form der Sicherheitspakete nieder; und die Meinungsfreiheit ist faktisch eingeschränkt:
Mein Eindruck ist, dass sich langsam ein politischer Mehltau über das Land legt.
Wofür Helmut Kohl mehrere Jahre gebraucht hatte, das ist unter der Regierung Schröder im Krieg innerhalb weniger Monate vollzogen worden.

Wer, wie die IG Metall, den Bundeskanzler kritisiert, während jener im Ausland weilt, dem wird von General Müntefering eine Dolchstoßlegende gestrickt.

Den SPD-Abgeordneten, die wegen des Somalia-Einsatzes Kritik an der Bundesregierung äußerten, erging es nicht besser. Ihnen wurde unverblümt der Entzug ihres Bundestagsmandates bei den nächsten Wahlen in Aussicht gestellt.
Und wenn ein Nachrichtensprecher Vergleiche zwischen dem US-Präsidenten und Osama bin Laden zitiert, muss er um seinen Job fürchten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es geht aber nicht nur um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern auch um weiteren Sozialabbau.
Mit der Zusage des Bundesfinanzministers, im Jahre 2004 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, hat die Bundesregierung weder sich noch uns einen Gefallen getan. Sie hat sich damit noch weiter auf einen beschäftigungspolitisch kontraproduktiven Sparkurs festgelegt.
Wenn gleichzeitig die Militärausgaben steigen, dann heißt das nicht nur Verwüstung in anderen Ländern, sondern dann heißt das auch: Sozialabbau in der Bundesrepublik.

Kolleginnen und Kollegen,

als Gewerkschafter werde ich natürlich auch immer wieder gefragt: Was heißt dies für die Belegschaften in der Rüstungsindustrie?
Ich antworte darauf: Wer eine aggressive Außenpolitik befürwortet, weil dies angeblich Arbeitsplätze schaffe, handelt unredlich.
Selbstverständlich muss es darum gehen, den Rüstungshaushalt zu senken!
Selbstverständlich ist aber auch: Einen Großteil der eingesparten Gelder brauchen wir für Konversionsprogramme. So können wir Beschäftigung sichern und neue Beschäftigung entwickeln.
Dabei geht es gerade nicht darum, subventioniert den Wald zu fegen.
Und es geht auch nicht darum, die Soldatenhelme in die sprichwörtlichen Kochtöpfe umzustanzen...,
sondern es geht darum, Arbeitskräfte - vielfach im Hochtechnologiebereich - durch Rüstungskonversionsprogramme sinnvoll zu beschäftigen.

Das Geld, das bisher in die Rüstungsindustrie gestopft wurde, sollte man lieber für den Aufbau des öffentlichen Personennah- und -fernverkehrs, für ökologische Energieerzeugung, für Energiesparkonzepte aber auch für den Ausbau des Gesundheits- und des Pflegesystems sowie des Bildungsbereiches verwenden.
Das heißt, Kolleginnen und Kollegen, so eine Umwidmung von Geld kostet keine Arbeitsplätze, sondern schafft Arbeitsplätze!

Kolleginnen und Kollegen,

1. Die Kriege gegen Jugoslawien und Afghanistan haben deutlich gemacht, zu welchen völkerrechtswidrigen Maßnahmen die NATO bereit ist.
Dies muss Anlass für uns sein, eine breite Debatte über die zukünftige Rolle von NATO und Bundeswehr zu führen. Die imperiale Ausweitung des Auftrages der NATO-Armeen ist demokratischer Gesellschaften schlichtweg unwürdig. Sie ist in ihrer Konsequenz für viele Menschen brutal und mörderisch.

2. Die NATO repräsentiert zehn Prozent der Weltstaatengemeinschaft und tätigt mehr als zwei Drittel der Militärausgaben. Das Ende des Kalten Krieges wurde nicht zum Anlass genommen, diese Ausgaben merklich zu senken. Statt dessen müssten mit diesem Geld dringende Menschheitsprobleme wie die Ernährung und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen angepackt werden.

3. Eine weltweite Friedenspolitik bedarf der Ursachenbekämpfung von Konflikten. Die Ursachen liegen zumeist in der ungerechten Verteilung von Ressourcen und Reichtum. Wir brauchen eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Denn soziale Ungerechtigkeit führt oftmals zu militärischen Konflikten und stärkt den Nährboden für reaktionären Fundamentalismus.
Wenn ich über Schritte zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung rede, dann ließe sich einiges thematisieren: Das fängt bei der undemokratischen Struktur von IWF und Weltbank an und hört bei den Kompetenzen des Sicherheitsrates und der UNO-Vollversammlung nicht auf. Letztlich muss die Rolle der UNO gestärkt werden. Sie muss zu einer allgemein respektierten Weltorganisation für ein friedliches Zusammenleben der Völker weiter entwickelt werden.
Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn man überhaupt die internationalen Finanzströme regulieren könnte.
Beispielsweise die derzeit in der Debatte befindliche Tobin-Steuer wäre ein solcher Schritt.
Und auf europäischer Ebene wäre einiges erreicht, wenn man die Politik der Europäischen Zentralbank diskutieren und auch tatsächlich beeinflussen könnte.

4. Eine aktive Friedenspolitik bedarf zudem kollektiver Sicherheitsstrukturen. Seit Jahren werden diese aber systematisch durch die USA ausgehebelt. Bereits die Selbstmandatierung der NATO im Jugoslawien-Krieg hat zu einer Situation geführt, in der das Recht des Stärkeren und nicht das Völkerrecht wirksam wird.
Wenn die politisch Mächtigen in der westlichen Welt allein entscheiden können, was in der restlichen Welt zu passieren hat, dann schafft dies nur neue Konflikte. Der Krieg wird den Terrorismus nicht zurück drängen, sondern verschärfen.
Das Völkerrecht ist eine Voraussetzung, um zukünftige Kriege und Terrorismus zu verhindern. Zur Stärkung dieser Sicherheitsstrukturen gehört die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs. Alle Vertragsländer müssen unter dessen Verbindlichkeit fallen; wir lehnen das Ansinnen der USA, ihre internationalen Interessen mittels US-Militärgerichten durchzusetzen, ausdrücklich ab.
Mutmaßliche Terroristen müssen mit rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt und vor Gericht gestellt werden. Dazu gehört die Offenlegung der Beweise, die Erhebung einer ordentlichen Anklage und die Verhandlung vor einem Internationalen Gerichtshof.

5. Deutschland muss in der internationalen Politik eine Friedenspolitik machen, die diesen Namen auch tatsächlich verdient. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, auf eine Ausrichtung NATO hinzuwirken, die nur im Rahmen des eigenen Territoriums zum Zwecke der Verteidigung agieren darf.
Einen Einsatz der Bundeswehr in internationalen Eingreifverbänden lehnen wir ab. Wir fordern die Bundesregierung und die rot/grüne Koalition auf, von ihrer bisherigen Außenpolitik abzurücken. Zivile Konfliktlösung ist und bleibt die einzig mögliche Option.

Kolleginnen und Kollegen,

zweimal ist von Deutschland ein Weltkrieg ausgegangen. Millionen von Toten und Zerstörung vieler Länder waren die Folge.
Ich bin der Auffassung, dass weder die neue Stellung Deutschlands durch die Vereinigung, noch die Terroranschläge in den Vereinigten Staaten Anlass geben, unsere friedenspolitischen Grundpositionen zu verlassen. Uneingeschränkte Solidarität kann es nicht mit dem Kriegskurs der US-Administration geben, sondern nur mit denjenigen, die unter diesem Kriegskurs zu leiden haben.

Kolleginnen und Kollegen,

es bleibt dabei:
Nie wieder Krieg!

* Horst Schmitthenner geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Metall


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