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Vor fünf Jahren eine Supermacht – heute eine Fußnote?

Die Friedensbewegung ist mehr als sie scheint

Von Peter Strutynski

Der 15. Februar 2003 wird in die Annalen der Geschichte als der Tag eingehen, an dem die Friedensbewegung auf der ganzen Welt unabhängig voneinander, aber geeint in ihren politischen Forderungen wie nie zuvor ihre Macht auf der Straße demonstriert hat. Angesichts der vielen Millionen Menschen, die in Bewegung gebracht worden waren, verstieg sich die New York Times sogar zu der Vokabel von der „zweiten Supermacht“, die von nun an das Weltgeschehen mitbestimmen würde. Die größten Demonstrationen fanden in Rom (3 Mio. Menschen), in London (2 Mio.), in Madrid (2 Mio.), in Barcelona (1,5 Mio.) und in Berlin (0,5 Mio.) statt. Selbst im fernen Australien gingen so viele Menschen auf die Straße, wie noch nie zuvor auf diesem Kontinent: 200.000 waren es allein in Sydney. Und in den USA machte sich das „andere Amerika“ mit Protesten in über 150 Städten bemerkbar: bunt und fantasievoll sagten sie dem Präsidenten und Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte den Kampf an.

Angesichts dieser einzigartigen Protestwelle erstaunt die Abgebrühtheit, mit der das Establishment in Washington und London ihren Weg in den Krieg unbeirrt fortsetzte. Ohne UN-Mandat, gegen den erklärten Willen der Weltöffentlichkeit und ohne die Zustimmung des „alten Europa“, das von Chirac und Schröder „angeführt“ wurde, befahl George Bush am 20. März den Angriff auf Bagdad. Die „Alliierten“, wie sich die britisch-US-amerikanische Komplizenschaft einschließlich einer sich anhängenden Koalition der Willigen nannte, hatten in Monate langer Arbeit genug Waffen und Munition in die angrenzenden Länder geschafft, um aus einer Position erdrückender militärischer Überlegenheit heraus den Irak in Schutt und Asche zu legen. Nach sechs Wochen Krieg konnte US-Präsident auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln stolz verkünden, seinen Auftrag ausgeführt zu haben: „Mission accomplished“. Gewiss konnte er damals nicht ahnen, dass nach diesem militärischen Sieg die Probleme erst begannen.

Die Friedensbewegung hatte schon während der Kriegsphase lernen müssen, dass die Woge der Entrüstung und des Protestes gegen Bush und Blair sich nicht auf dem hohen Niveau vom 15. Februar halten ließ. Bis in den April hinein gab es vor allem auf lokaler Ebene weiterhin Aufsehen erregende Demonstrationen und Aktionen, an denen insbesondere junge Menschen beteiligt waren – wobei die Studierenden von den demonstrierenden Schülern weit in den Schatten gestellt wurden -, sie flauten aber bereits nach wenigen Wochen ab.

Seither bemühen sich die Aktivistinnen und Aktivisten, das Irak-Thema in der Friedensbewegung und darüber hinaus in der Öffentlichkeit präsent zu halten, wobei das Ergebnis eher bescheiden zu nennen ist. Dies hat verschiedene Gründe:

Erstens gilt generell, dass eine Protestbewegung immer dann einen Einbruch erlebt, wenn das unmittelbare politische Ziel nicht erreicht werden konnte. Das Ziel der Friedensbewegung im Vorfeld des Irakkrieges war ja nicht, eine möglichst große Demonstration zu organisieren, sondern den drohenden Krieg zu verhindern. Dies ist nicht gelungen.

Zweitens lässt sich eine größere Zahl von Menschen erfahrungsgemäß nur kurzfristig in die konkrete Arbeit außerparlamentarischer Bewegungen integrieren. Vor allem Schüler/innen können auf Grund ihrer Lebenssituation noch nicht den „langen Atem“ entwickeln, der für eine langfristige politische Arbeit in der Friedensbewegung Voraussetzung ist. Das ist sicher auch ein Grund für die vielfach beklagte Überalterung der Friedensbewegung. Die Friedensbewegung war noch nie eine Jugendbewegung. Der Verweis auf die jugendliche Anti-Vietnamkriegs-Bewegung der späten 60er und frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts taugt nicht als Gegenbeispiel. Die Studierenden und Schüler/innen, die diese Bewegung damals maßgeblich mittrugen, verstanden sich auch nicht als pazifistische „Friedensbewegung“, sondern als Teil einer weltweiten internationalistischen und antiimperialistischen Bewegung. Nicht der Erhalt des Friedens, sondern der Sieg im antiimperialistischen Kampf, der seiner Zeit in Vietnam, Laos und Kambodscha gegen die US-Aggression geführt wurde, stand im Zentrum des Denkens der „revolutionär“ gesonnenen jungen Menschen.

Meine These ist drittens, dass zum Bewegungscharakter einer sozialen Bewegung ihr zahlenmäßiges Auf und Ab, ihre „Konjunkturanfälligkeit“ konstitutiv ist. Das massenhafte spontane Aufbegehren, in diesem Fall gegen den Irakkrieg, lässt sich nicht über einen längeren Zeitraum konservieren – und die in Zeiten nachlassender Bewegung erlittenen „Mühen der Ebene“ sind ihrerseits Voraussetzung für einen neuen Aufschwung der Bewegung.

Viertens muss man sich auch darüber im Klaren sein, dass eine soziale Bewegung, sofern sie keine reine Ein-Punkt-Bewegung ist - und das war die Friedensbewegung nicht einmal in den 80er Jahren, auch wenn sie damals den Fokus eindeutig auf die Stationierung der neuen US-Atomraketen gelegt hatte -, dass also eine soziale Bewegung von mehr als nur einem Thema „bewegt“ wird. Insbesondere die Friedensbewegung hat einen großen Strauß friedenspolitischer Themen auf ihrer Agenda: von den Atomwaffen über die laufenden und drohenden Kriege und Bürgerkriege in der Welt bis zu den diversen Fragen militärischer „Hardware“ wie Aufrüstung, Waffenexporte, Militärstützpunkte oder der Entwicklung neuartiger Rüstungstechnologien.

Ein Ergebnis einer empirischen Studie, die von der AG Friedensforschung 2005/06 durchgeführt wurde [1], war u.a., dass die Friedensbewegung stets auf neue politische Bedrohungen und Themen reagiert, ohne dass sie sich hierfür jeweils neu gründen muss. So wirkte die Friedensbewegung in den 80er Jahren politisch als Initiator und Impulsgeber, indem sie die sicherheitspolitische Debatte um die Raketen zum zentralen Thema in der BRD machte. Auch später reagierte die Friedensbewegung auf neue strukturelle Krisenlagen und aktuelle politische Ereignisse (z.B. zweiter Golfkrieg 1991, Französische Atomwaffenversuche im Pazifik 1995, Landminen 90er Jahre, Balkankriege 90er Jahre, Afghanistankrieg 2001, Nahost-Konflikt andauernd). Eine Umfrage im Rahmen des genannten Projekts ergab Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts folgendes: Die drei häufigsten Themen der Friedensbewegten waren der Irakkrieg (81,5 %), die „EU-Militarisierung“ (61,5 %) und die Abrüstung (51,7 %), ein Thema, das sich offenbar als Dauerbrenner für die Friedensbewegung darbietet. Dahinter folgten zwei Themen (mit je 38 %): der Nahostkonflikt und der Afghanistankrieg. Ein rundes Drittel der Initiativen befasste sich mit dem Dialog der Kulturen und/oder Religionen, was sich sowohl mit den neueren weltpolitischen Umbrüchen (Feindbild Islam, Clash of Civilizations usw.) als auch mit dem politischen Diskurs in der Bundesrepublik erklären lässt. Jeweils rund 30 % beschäftigen sich darüber hinaus mit folgenden Themen: dem Balkan-Konflikt, den Menschenrechten, der Umrüstung der Bundeswehr sowie mit der UNO und dem Völkerrecht. Ein Viertel der Friedensorganisationen befasste sich außerdem nach wie vor mit der Problematik der Atomwaffen. Bis heute dürfte sich dieser Befund kaum geändert haben; als neues Thema dürfte das Problem des Bundeswehreinsatzes im Inneren hinzu gekommen sein.

Mindestens so wichtig wie die thematische Vielfalt der Friedensbewegung ist ihre organisatorische Vielfalt.[2] So gibt es eine Reihe einschlägiger Großorganisationen wie die Ärztevereinigung IPPNW, die Kriegsdienstverweigerer der DFG-VK oder die konfessionellen Friedensdienste pax christi und die AGDF. Daneben existieren Hunderte von Friedens-Basisinitativen, zumeist auf lokaler Ebene, teilweise aber auch auf regionaler Ebene miteinander vernetzt (z.B. Friedensnetz Baden-Württemberg, Zusammenarbeitsauschuss Schleswig Holstein, Friedenskoordination Berlin, Ostermarschkreis Ruhrgebiet). Auch gibt es noch eine Reihe von örtlichen und überörtlichen Friedensbüros – worunter das Büro der Friedenskooperative in Bonn wohl das größte ist – sowie von Versuchen einer bundesweiten politischen Vernetzung der Friedensinitiativen (z.B. über den Bundesausschuss Friedensratschlag). Entgegen den häufig vorgetragenen Klagen über die angeblich nicht mehr existierende Friedensbewegung lässt sich feststellen, dass sowohl die meisten in den 80er Jahren gegründeten bundesweiten Zusammenschlüsse als auch die allermeisten lokalen Basisinitiativen heute noch bestehen und politisch aktiv sind. Der Kern der Bewegung ist also da, was fehlt, sind die Anlässe und Motive, dass (wieder) größere Menschenmassen um diese Kerne herum in Bewegung geraten. Die wieder in Gang gekommene öffentliche Diskussion um den Afghanistankrieg könnte durchaus weitere Kreise ziehen.

Es gibt demnach wenig Grund, mitleidig oder gar abfällig auf die scheinbar vor sich hin dümpelnde Friedensbewegung herunter zu schauen. Gerade die Afghanistan-Debatte zeigt, dass die Arbeit der Friedensbewegung Früchte getragen hat. Der Afghanistan-Krieg und andere Auslandseinsätze der Bundeswehr stoßen in der Bevölkerung überwiegend auf Ablehnung. Die Regierung in Berlin kann nicht so ohne weiteres die Truppen in Afghanistan erhöhen, geschweige denn sie in den umkämpfteren Süden des Landes schicken, denn Wahlen gibt es immer in irgend einem Bundesland, und es ist nicht ratsam für die Kriegsparteien, sich auch als solche zu gerieren. Also muckt dann auch schon mal ein Verteidigungsminister Jung gegen den großen US-Kollegen Gates auf, riskiert damit aber, dass er das nächste Mal, wenn er eine Aufstockung der Bundeswehrtruppen in Afghanistan beantragt, von der Bevölkerung und vom Bundestag beim Wort genommen wird. Die Friedensbewegung muss derweil „nur“ dafür sorgen, dass das Thema nicht von der Tagesordnung verschwindet. Dann könnte es vielleicht schon im Herbst für die kriegsbereite Regierungskoalition ein böses Erwachen geben.

[1] Mirjam Wolfstein-Lätsch, Wandel und Kontinuität der deutschen Friedensbewegung von der 80er Jahren bis heute, unveröff. Manuskript, Kassel 2007

[2] Vgl. Peter Strutynski, Antikriegsbewegung oder Gestaltungskraft? Macht und Ohnmacht der westdeutschen Friedensbewegung. In: Ansgar Klein, Silke Roth (Hg.), NGOs im Spannungsfeld von Krisenprävention und Sicherheitspolitik, Wiesbaden 2007, S. 113-125


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