Alarm im Hofgarten
Heute vor 30 Jahren protestierten 500000 Menschen in Bonn gegen die Stationierung von 572 atomaren Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik
Von Uli Schwemin *
Einen atomaren Marschflugkörper, mögliches Angriffsziel Bautzen, mit dem Namen Dr. Wolfgang Schäuble zu versehen, das erschien dem heutigen Bundesfinanzminister Mitte der achtziger Jahre eher unvorteilhaft. Auch dem CDU-Abgeordneten Paul Löher war es zu unbehaglich, seinen Namen auf eine Atomrakete mit dem Ziel Annaberg schreiben zu lassen, obwohl die Versuchung groß war. »Die Initiative, die Sie ergreifen wollen, wird sicherlich von großem moralischen Wert sein. Ob es jedoch zweckmäßig ist, Raketeneinheiten mit Patenschaften von Abgeordneten zu verbinden, vermag ich nicht zu sagen. Sicherlich wird sich auch ein anderer Weg finden lassen, um die Bevölkerung von der Wichtigkeit dieser Raketeneinheiten zum Schutz unserer Freiheit zu überzeugen«, schrieb er im November 1985 an Thomas Klausen von der »Initiative für bürgernahe Politik«. Er wußte nicht, daß diese »Initiative« eine Erfindung des Schriftstellers Theodor Weißenborn war, der unter dem Pseudonym Thomas Klausen Briefe an sämtliche Mitglieder der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP im Deutschen Bundestag gerichtet hatte. Sie enthielten die Aufforderung, persönliche Patenschaften für die Atomraketen zu übernehmen, die Mitte der achtziger Jahre in der BRD stationiert wurden. Die teils skurrilen, absurden oder infantilen Antworten auf seine Aktion hat Weißenborn in seinem Buch »Die Paten der Raketen« veröffentlicht.
Die Idee zu seiner Satire war ihm gekommen, weil die Mehrzahl der sogenannten Volksvertreter auch nach Jahren ständig anschwellender Proteste gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik von ihren friedensgefährdenden Plänen nicht lassen wollte. Ende der siebziger Jahre hatte der damalige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt in enger Partnerschaft mit den USA entdeckt, daß es »Ungleichgewichte« in der Rüstung zwischen Ost und West gäbe. Folge war der sogenannte Doppelbeschluß der NATO, der die Stationierung von 572 bodengestützten atomaren Mittelstreckenraketen in Westeuropa, einen Großteil davon in der BRD, vorsah.
Womit man im Westen nicht gerechnet hatte, war die Reaktion der eigenen Bevölkerung. Die Leute wollten keine Raketensilos neben ihren Häusern. Es entstand eine schnell wachsende Friedensbewegung, die schon nach kürzester Zeit einfach nicht mehr zu ignorieren war. Am 10. Oktober 1981 fand im Bonner Hofgarten die bis dahin größte Friedensdemonstration der BRD-Geschichte statt. 300000 Menschen waren gekommen, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen: »Der Atomtod bedroht uns alle – keine neuen Atomraketen in Mitteleuropa! Der NATO-Beschluß darf nicht verwirklicht werden.« Interessant war, daß die Kundgebung, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte, öffentlich demontiert wurde. »Chaoten und Gewalttäter« würden in Bonn randalieren wollen, hieß es von interessierter Seite. Wer am frühen Morgen durch die Bonner Innenstadt ging, konnte glauben, hier drohe ein Hurrikan. Ein Großteil der Läden in der Fußgängerzone wurde von den Händlern, die auf die Propaganda hereingefallen waren, mit Brettern vernagelt. Auch Teile der SPD-Führung bezeichneten die Demonstranten als »moskaugesteuert« und warfen Sozialdemokraten, die mitmarschierten, »Parteischädigung« vor. Das bezog sich z. B. auf SPD-Präsidumsmitglied Erhard Eppler, der als Redner auf der Kundgebung erklärte, »die Kette der Vor- und Nachrüstung« werde »uns alle in den Abgrund zerren.«
Zwei Jahre später, am 22. Oktober 1983, wurde die Veranstaltung wiederholt. Diesmal kamen 500000 Menschen. Der riesige Hofgarten war zu klein geworden, die Reden und das übrige Programm der Kundgebung mußten in die Innenstadt übertragen werden. Dort drängten sich Demonstranten zu Tausenden und Abertausenden vor diesmal nicht vernagelten Läden. Die Bonner hatten inzwischen gelernt, daß die Friedensdemonstranten keine Randalierer waren: »Das sind doch alles friedfertige Menschen, sonst würden die doch gar nicht demonstrieren«, sagte damals eine Einwohnerin dem Bonner Stadtfernsehen. Das hatte sich inzwischen auch in der SPD-Führung herumgesprochen, die sich dem Sog der massenhaften Proteste nicht mehr entziehen konnte. Der Vorsitzende Willy Brandt fühlte sich bemüßigt, selbst als Redner aufzutreten und sich zu einem »Nein zu immer neuen Atomraketen« (immerhin eine Erfindung seiner eigenen Partei) durchzuringen. Für die SPD war das ein Signal. Die Befürworter des NATO-Raketenbeschlusses gerieten in die Minderheit, und im November des gleichen Jahres votierte ein Sonderparteitag klar dagegen.
Wie immer in ihrer jüngeren Geschichte waren die Sozialdemokraten allerdings vor allem deshalb dagegen, weil sie gerade nichts zu sagen hatten. Seit Oktober 1982 regierte eine schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Die Raketen wurden ab Dezember 1983 stationiert, aber die Bundesrepublik war nicht mehr die gleiche wie vor den Protesten. Millionen hatten den Krefelder Appell gegen die Raketen unterschrieben, Millionen engagierten sich in 4000 Friedensgruppen, und zwei Drittel der Bundesbürger kritisierten in Umfragen die atomare Hochrüstung.
Auch in der DDR wuchs in den achtziger Jahren der Widerstand gegen die Stationierung sowjetischer Atomraketen auf deutschem Territorium. Bis in die Partei- und Staatsführung hinauf wollten die DDR-Bürger das »Teufelszeug« (Honecker), lieber heute als morgen wieder loswerden. Eine aus kirchlichen Kreisen wachsende Friedensbewegung unter der Losung »Schwerter zu Pflugscharen« aber wurde nicht zugelassen. Im Kampf für den Frieden wollte sich DDR-Staatschef Erich Honecker »von niemandem übertreffen« lassen. Da Friedenspolitik Parteipolitik war, erschien sie den Tugendwächtern der DDR auf einer anderen Ebene nicht vorstellbar. So wurden viele junge Menschen vor den Kopf gestoßen, ihr Eintreten für Abrüstung unisono als konterrevolutionäre Tätigkeit diffamiert. Das war ein wesentlicher Teil des Prozesses, bei dem die Führung der DDR sich immer weiter von der Bevölkerung entfernte.
1985 unterzeichneten Erich Honecker und Helmut Kohl in Stockholm eine Erklärung: Es müsse alles getan werden, damit von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehe, heißt es darin. Fünf Jahre später war die DDR Geschichte, wenig später die Sowjetunion ebenfalls. Die Mittelstreckenraketen verschwanden zwar von deutschem Boden, aber ansonsten wurde Abrüstung seitdem zum Fremdwort. Neun Jahre nach dem Ende der DDR ging von deutschem Boden wieder Krieg aus: Deutschland beteiligte sich unter der Führung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und seines grünen Außenministers Joseph Fischer am NATO-Überfall auf Jugoslawien.
* Unser Autor berichtete 1981 und 1983 für die Junge Welt von den Friedensdemonstrationen in Bonn.
Aus: junge welt, Dienstag, 22. Oktober 2013
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