30 Jahre Entrüstung
Gegen alle Proteste segnete der Bundestag 1983 die Stationierung von Atomwaffen ab *
Die noch verbliebenen Atomwaffen sollen aus Deutschland abgezogen werden, so verlangt es die SPD in ihrem »Regierungsprogramm 2013-2017«. Bleibt es dabei in den Koalitionsverhandlungen mit der Union?
Wohl 20 atomare Bomben lagern die USA auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst im rheinland-pfälzischen Büchel. Jede von ihnen mit einer Sprengkraft von 26 Hiroshima-Bomben. Dies widerspricht dem 1987 zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion vereinbarten Abrüstungsvertrag, dem 1990 beschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrag zur »Wiedervereinigung Deutschlands« und auch einem Urteil des Internationalen Gerichtshofes von 1996, demzufolge schon die Androhung eines Einsatzes von Atomwaffen völkerrechtswidrig ist. Was ist die Lagerung von Atomwaffen anderes als eine fortbestehende Androhung ihres Einsatzes – wofür sonst werden sie vorrätig gehalten?
Die NATO sagt, sie werde so lange ein atomares Bündnis bleiben, »wie es Atomwaffen auf der Welt gibt« – ein Zirkelschluss. Bis (mindestens) 2024 wollen die USA ihre Atomwaffen einsatzbereit halten und deswegen auch »modernisieren«. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Guido Westerwelle stimmten dem auf einem NATO-Gipfel zu. Und wer soll die in Deutschland lagernden Massenvernichtungswaffen in einem etwaigen Krieg – gegen wen? – ausklinken? Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr.
Am 21. November 1983 begann die zweitägige Bundestagsdebatte, an deren Ende – gegen massiven Protest der Friedensbewegung – die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland beschlossen wurde. Sie sind inzwischen demontiert, aber Atomwaffen gibt es weiterhin in unserem Land. Die Friedensbewegung hat Grund, aufmerksam und rege zu bleiben. Akteure aus der Friedensbewegung der 1980er Jahre erinnern sich.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 21. November 2013
Sie rüsteten aufs Inferno
Die Friedensbewegung der 80er Jahre unterlag, aber gewann doch
Von Jürgen Reents **
Am Ende reichte die eindrucksvolle Mobilisierung der Friedensbewegung doch nicht aus: Mit 286 Stimmen aus CDU/CSU und FDP gegen 226 Stimmen aus SPD und Grünen besiegelte der Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen Pershing II und Cruise Missiles. Vorausgegangen war eine zweitägige Debatte, wie es sie in der Geschichte des Bundestags davor und danach nur ein einziges weiteres Mal gab: im Februar 1952, als es um den Beitritt der Bundesrepublik zur »Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« ging.
Dass die Stationierung der Atomraketen nur mit einem historischen Kraftakt des Parlaments bewältigt werden konnte, der jenem bei der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik vergleichbar war, lag an der Stärke der Friedensbewegung. Vier Jahre lang, seitdem die NATO – auf Betreiben des SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt – im Dezember 1979 ihren so genannten »Nachrüstungsbeschluss« gefasst hatte, verging kaum eine Woche, ohne dass irgendwo im Land dagegen demonstriert wurde.
Die Proteste kulminierten in den großen, schließlich über eine Million Menschen mobilisierenden Kundgebungen im Bonner Hofgarten, weiteren in München, Hamburg und andernorts, in Menschenketten über Hunderte von Kilometern zwischen Ulm und Stuttgart, in Sitzblockaden vor den geplanten Stützpunkten und anderen Militäreinrichtungen in Mutlangen, Hasselbach und Bremerhaven, in vielfachen phantasievollen Aktionen einer sehr heterogenen Protest- und Widerstandskultur. Sie wurde – neben der Anti-AKW-Bewegung in derselben Epoche – zur Geburtsstunde einer neuen Partei, den Grünen, und zum Sargnagel der SPD an der Regierung. Ähnlich wie rund 20 Jahre später, als eine neue SPD-geführte Regierung, diesmal sozialpolitisch mit der »Agenda 2010«, sich ihr eigenes Ende und das Entstehen einer neuen politischen Kraft, der LINKEN, selbst einhandelte (und in beiden Fällen dann mit einem Vergessenmachen ihrer eigenen Beschlüsse und Taten wieder zu genesen versuchte).
Hat die Raketenstationierung letztlich doch den »Kalten Krieg« beendet? Nicht nur ihre damaligen Befürworter, auch etliche ihrer Gegner sehen dies nachträglich so. Der Hamburger SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose, der eine Zeit lang Sympathien für die Anti-AKW-Bewegung wie für die Friedensbewegung geäußert hatte, gab Helmut Schmidt mit Abstand Recht und sagte in einem »Welt«-Interview 2012, »dass diese Nachrüstung den Wandel in Europa erst ermöglicht hat«.
Man kann diese Sicht mit gutem Grund bestreiten: Zwar blieb das von vielen befürchtete atomare Inferno aus. Das »Air-land-battle-Konzept 2000« der NATO, das die Raketenstationierung begleitete und offen davon sprach, die westlichen Armeen so auszurüsten und auszubilden, »dass sie die Kampfaufträge bewältigen, die wir ab Mitte der 90er Jahre auf dem mitteleuropäischen Gefechtsfeld durchführen müssen« (sic!), wurde hinfällig, als zu Anfang der 90er Jahre die Sowjetunion und der von ihr angeführte »Ostblock« kollabierten. Aber für diesen aus dem Inneren der »realsozialistischen« Staaten herbeigeführten Kollaps war die Friedensbewegung das stärkere Argument. Die Kontakte, der gegenseitige Gedankenaustausch und die nicht einfache Kooperation der Raketengegner in Ost und West führten mehr europäische Verständigung und mehr Einsicht in einen notwendigen Wandel herbei als die gefährliche, kriegskalkulierende Strategie des Totrüstens.
Die Friedensbewegung erlitt 1983 zwar eine unmittelbare Niederlage, als sie die Raketenstationierung nicht verhindern konnte, hinsichtlich des Endes der Blockkonfrontation darf sie sich aber weit eher als fördernde Kraft sehen als jene, die dafür Millionen Tote zu riskieren bereit waren. Deren Gedankenwelt folgen immer weniger Menschen.
Jedoch ist in der späteren Bilanz auch bitter zu registrieren, dass es der Friedensbewegung nicht gelang, die Anfang der 90er Jahre viel beschworene »Friedensdividende« einzufahren und deutsche Kriegsbeteiligungen wie beim Überfall auf Serbien und Afghanistan zu verhindern, oder auch nur vergleichbar wie in den 1980er Jahren dagegen wachzurütteln. Sie hatte indes wesentliche Mitstreiter verloren, die sich selbst zu Kriegsparteien wandelten und an der Regierung eben jene Kriege beschlossen: SPD und Grüne. Es wäre gut, sie besännen sich dauerhaft.
** Der Autor war 1983 außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen.
Aus: neues deutschland, Donnerstag, 21. November 2013
Stimmen - Zeitzeugen - Erinnerungen
Eine Münze aus der DDR
Von Ulrich Frey
Es war auf einer Sitzung des Koordinierungsausschusses vor der Bonner Demonstration und Kundgebung am 10. Oktober 1981: Veranstalter waren die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden, als deren Beauftragter leitete ich die Sitzung. Es nahmen Vertreter von Unterstützergruppen aus sehr unterschiedlichen Spektren der Raketengegner teil, von den »Unabhängigen« bis zu Gruppen, die der DKP nahestanden.
In diesem Kreis, auch »Bonner Frühstücksrunde« genannt, war es ein guter Brauch, zu Beginn der Sitzung etwas zum Essen und Trinken anzubieten. Ich ließ einen Teller mit der Bitte herumreichen, einen kleinen Obulus für die Deckung der Kosten hineinzulegen. Als ich das Sammelergebnis durchsah, fand ich unter den Spenden auch eine Mark der DDR. Ich hielt die Münze hoch und sagte unter der Heiterkeit der Anwesenden: »Jetzt ist klar, dass unsere Demo von der DDR mitfinanziert wird.«
Wie oft waren wir doch mit der Behauptung konfrontiert, die Veranstaltung werde »von drüben« gesteuert! Bundesinnenminister Zimmermann ließ sogar eine »Bürgerinformation« herausgeben, die die Friedensbewegung mit diesem Vorwurf zu diskreditieren versuchte. Das stimmte weder inhaltlich noch finanziell: Der Aufruf zur ersten großen Demo in Bonn, zu der 300 000 Menschen kamen, forderte die Abrüstung der atomaren Waffen in West und Ost. Wir haben die Kundgebung auch ohne Hilfe aus der DDR finanziert.
Alle Gruppen, die gegen Raketen auf egal welcher Seite protestieren wollten, konnten teilnehmen. Entsprechend heftig gestalteten sich die internen Debatten. Dem platten Antikommunismus begegneten wir argumentativ. So konnten wir uns über eine langfristige Wirkung auf die öffentliche Meinung freuen: Gemeinsame Sicherheit in Ost und West erfordert, miteinander zu reden.
Vernagelte Zeiten
Von Jo Leinen
Vor der ersten großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1983 vernagelten die Geschäftsleute in der Bonner Innenstadt ihre Schaufenster mit dicken Brettern. Die Angst vor den Demonstranten war größer als die vor den Raketen. Nach dieser erfolgreichen Großkundgebung änderte sich das Bild in ganz Deutschland sehr schnell. Die Friedensbewegung konnte in weiten Teilen der Gesellschaft Fuß fassen und zeigte später mit sehr fantasievollen Aktionen wie den Menschenketten aber auch mit den Blockaden des Verteidigungsministeriums auf der Bonner Hardthöhe oder des Raketendepots in Mutlangen ihre ganze Bandbreite an Aktionen des Widerstandes.
Der NATO-Doppelbeschluss konnte nicht verhindert werden. Die Friedensbewegung der 80er Jahre wirkte doch in Deutschland und anderen europäischen Ländern bis heute nach. Europa taugt nicht zum Weltpolizisten.
Die Friedensbewegung der 80er Jahre ist ein Paradebeispiel für eine breite gesellschaftliche Koalition und die Fähigkeit zu einer Massenmobilisierung. Sie kann zwar nicht eins zu eins für andere Herausforderungen kopiert werden. Trotzdem ist der Mut in der Bürgerschaft, sich zu wehren, seitdem enorm gewachsen. Beim Kampf gegen die Umweltzerstörung findet die »Friedensbewegung« in neuen Formen wiederum statt.
Nachhall bis heute
Von Manfred Stenner
Das Engagement der Vielen gegen Krieg wirkt bis heute nach. Eine große Skepsis gegen Krieg und Militär ist geblieben. Am 22. Oktober 1983 – einen Monat vor der Beschlussfassung im Bundestag – waren die parallelen Demonstrationen in Berlin, Bonn, Hamburg und die 108 km lange Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm Höhepunkt des Aufbegehrens gegen einen real drohenden Atomkrieg und die Logik der Abschreckung.
Und wir dachten: Wir sind so viele, da können die im Bundestag doch nicht gegen uns entscheiden! Mir selbst ist der Vortag noch viel deutlicher in Erinnerung, als wir mit einigen tausend Bonner Menschen, strikt gewaltfrei in Bezugsgruppen organisiert, gegen vier Uhr früh zum Hardtberg pilgerten und das Verteidigungsministerium für einen Tag blockierten. Wir setzten uns ordentlich vor die Polizeigitter und bildeten nachmittags ein Spalier für die nach ihrer Schicht abziehenden BMVg-Mitarbeiter, die ihren Dienst schon in der Nacht angetreten hatten. Das Bonner Stadtmagazin »Schnüss« schrieb danach süffisant: »Hätten sie uns die Gitter vor unsere eigene Haustür gestellt, wären wir schon dort sitzengebliebenen.« Einen Monat später am Bundestag war es dann ein wenig stressiger. Die Bonner und viele andere Aktionsgruppen liefen trotz versammlungsrechtlich pflichtgemäßer Aufforderung von Jo Leinen an der Kundgebung am »Bonn-Center« vorbei und besetzten die Kreuzung zur Heussallee an der Bannmeile. Geräumt wurde mit Wasserwerfern inklusive beigemischtem Tränengas. So was wie Taksim light. Am nächsten Tag stimmte der Bundestag für die Stationierung und wir wurden alle kurzzeitig depressiv.
Aber es gibt uns nach vielem Auf und Ab seither immer noch und ich halte es für sehr wichtig, dass die weltweiten Einsätze der Bundeswehr weiterhin auf Protest stoßen und wie auch die Rüstungsexporte mehrheitlich abgelehnt werden.
...ze Foos
Von Klaus der Geiger
Es gibt so einen schönen Spruch in einem bekannten Kölschen Lied, da heißt es am Schluß: Ich mööt ze Foos noh Kölle jon!
Und damals, anlässlich dieser gigantischen Demo, haben wir das gemacht, nur umgekehrt: Wir sind von Köln nach Bonn gelaufen, in einem riesen Haufen, mit Kind und Kegel!
Das sind immerhin so 30 km, aber je näher wir Bonn kamen, desto ausgelassener und fröhlicher wurde die Stimmung. Und in Bonn waren dann Hunderttausend, fröhlich und glücklich ob unseres Wir-Gefühls!
Das hat wohl keiner von uns vergessen, oder?
Es gab nur eins: Nein sagen!
Von Barbara Gladysch
Als »höhere Tochter« aus einer Juristenfamilie stammend – mit großem Latinum, Anstands- und Klavierunterricht ausgestattet – suchte ich mir schon als Kind andere »Vorbilder« als die, die mein Vater mir vorlebte: Statt Juristin wurde ich Sonderschullehrerin für »Schmuddelkinder«, heiratete nicht den Notarssohn, sondern einen ehemaligen Arbeiter aus Bottrop – und wählte nie die Partei, die mein Vater wählte.
Der Anfang der achtziger Jahre war die Zeit der »Bewegungen« und ich wollte unbedingt mitbewegen, selbst Verantwortung übernehmen und mir nicht von Politikern vorschreiben lassen, wie und mit welchen Mitteln die sogenannte friedliche Zukunft meiner und aller Kinder gestaltet werden müsste. Ich lehnte die parteipolitischen Vorstellungen von »Friedenssicherung« ab. Mir lag die Zukunft meiner und aller Kinder so sehr am Herzen, ich fühlte eine so große Verantwortung für die Kinder auf der ganzen Welt, dass ich den Mut fasste, nicht nur inaktives Mitglied der Friedensbewegung zu sein.
Der Familienrat wurde einberufen. Mein Mann und meine beiden Söhne (damals zehn und acht Jahre alt) saßen mit mir am Tisch und ich erklärte: »Entweder wir ziehen nach Neuseeland um, züchten Schafe und backen unser eigenes Brot – oder ihr lasst es zu, dass ich in Zukunft viel weg bin, viel zu tun habe, und unterstützt mich darin, dass ich aktiv und verantwortlich in der Friedensbewegung tätig werde.« Christof, der jüngere, wollte unbedingt Schafe hüten – während nach entsprechender Diskussion die beiden anderen »Männer« mir den notwendigen Freiraum zugestanden und versprachen, mich bei meiner Friedensarbeit zu unterstützen. Im Dezember 1981 gründete ich in Düsseldorf die Frauen-Friedens-Initiative »Mütter für den Frieden«; inzwischen sind wir Großmütter – aber immer noch agil und aufmüpfig.
Wir haben mit dem Begriff »Mütter« bewusst darauf hingewiesen, dass wir – auch stellvertretend für Kinder – unserer Verantwortung für eine »friedliche Zukunft« gerecht werden wollen und dafür Zeugnis abgeben – gewaltfrei und überzeugend. »Dann gibt es nur eins: sag NEIN«! Dieser Aufruf von Wolfgang Borchert, den er als 26-Jähriger kurz vor seinem Tod als Vermächtnis hinterließ und in dem er ganz besonders die Mütter in die Verantwortung nahm, hat mich stets begleitet.
Es gab Frauengruppen in der Friedensbewegung, die den Begriff »Mütter« sehr süffisant schmähten. Wir jedoch hatten viel Spaß an unserem Tun: Wir machten viele eigene Veranstaltungen z. B. zum »alternativen« Muttertag, Beratung für Kriegsdienstverweigerer, eigene gewaltfreie Aktionen, Blockaden, Fastenaktionen, kulturelle Bühnenvorstellungen mit eigenen Texten, wir liebten die »fröhliche« Präsenz bei politischen Aktionen (mit Polizeiaufgebot), die man (frau) eigentlich nicht stören durfte. In Mutlangen saßen wir ebenso vor den Toren wie in Bonn auf der Hardthöhe – haben dabei gesungen, uns nie einschüchtern lassen. Wir wurden weggetragen und wir kamen wieder zurück und blockierten weiter.
Angst kannten wir nicht. Bis heute nicht. Was uns zusammenhielt, war unsere Idee, unser Anliegen und unser Spaß an unserem Tun: Unseren Kindern den Frieden erklären, damit sie später keinem den Krieg erklären. »Friedenserziehung« ist der Grundstein für jede gute Erziehung. Wir »Mütter für den Frieden« sind lebendige und unbequeme Frauen geblieben. Ich bin jetzt 73 Jahre alt – und habe noch so viel zu tun … und daran Freude!
Die Kette der 1000 Kraniche
Von Christa Nickels
Seit ich denken kann, treibt mich der Gedanke um, dass ein Wasserrohrbruch im Haus oder ein Blechschaden am Auto Leute in Wallung bringt, während menschengemachte Bedrohungspotenziale ungeheuren Ausmaßes nicht zur Kenntnis genommen werden. Nie habe ich mir einreden lassen, als einzelne könne man nichts bewegen. Schon immer bin ich der Meinung, dass Leid keine vernachlässigbare Größe politischen Handelns sein und erst recht nicht billigend als Folge politischen Handelns in Kauf genommen werden darf.
Darum habe ich mich seit den 1970er Jahren intensiv mit den Auswirkungen der zivilen und militärischen Nutzung der Atomtechnologie auseinandergesetzt. 1982 besuchte ich Hiroshima, sprach mit Überlebenden. Ich begleitete Professor Moritaki auf dem Weg, den er nach dem Abwurf der Atombombe durch die Stadt gegangen war. Und sprach auf einer Demonstration mit einer Million Menschen.
Ich entschloss mich, die Kette der 1000 Kraniche zur Nachrüstungsdebatte mit in den Plenarsaal zu nehmen, um sie Bundeskanzler Kohl zu überreichen. Überlebende der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki hatten sie als Zeichen der Solidarität im Widerstand gegen den atomaren Wahnsinn bei ihrem Besuch nach Fulda mitgebracht. Fulda wäre im Fall eines Atomkriegs Zielort für Atomwaffen geworden. Der Kranich ist in Japan das Symbol für Glück, Segen und ein langes Leben. Die zwölfjährige Sadako Sasaki, Überlebende des Atombombenabwurfs, wollte 1000 Papierkraniche falten, in der Hoffnung, so die strahlenbedingte Leukämie zu überleben. Sie starb – aber Kinder aus Hiroshima und Nagasaki gründeten den »Thousand Crane Club«. Sie initiierten ein Denkmal für Sadako und senden Papierkraniche an Politiker in aller Welt als Zeichen dafür, dass Kinder weltweit Atombomben und Kriege verurteilen.
Bundeskanzler Kohl war nie in Hiroshima gewesen. Mit der Kranichkette und ihrer Geschichte wollte ich Realität und Botschaft der einstigen und hoffentlich nicht zukünftiger Opfer im Bundestag sichtbar machen. Er hat die Kette angenommen.
Ängste im Hintertaunus
Von Andreas Buro
Wir waren anderer Meinung. In den Dörfern trafen sich LehrerInnen, Pfarrer, Ärzte, Intellektuelle, Hausfrauen, Schüler und Künstler. Zur Einstimmung wurde in meinem Dorf Grävenwiesbach über mehrere Tage gemeinsam gefastet. Dabei wurden Informationen, Einsichten und Ängste ausgetauscht sowie Rollenspiele eingeübt. Wir beschlossen schließlich eine eigene Demonstration. Revoluzzer aus Frankfurt oder Marburg mit anti-imperialistischen Sprüchen würden die Menschen hier auf dem Lande nicht erreichen können.
Unser Aufruf erhielt erstaunlich viele Unterschriften. Das war nicht selbstverständlich, denn natürlich kannte hier jeder jeden. So wurde eine Gegengruppierung gegen die üblichen Stammtische geschaffen, die Honoratioren – Pastoren, Ärzte, Lehrer usw. – hatten wir fast alle auf unserer Seite. Das wird manchen ermutigt haben, sich zu beteiligen.
Es gab jedoch auch unerwarteten Widerstand. Die beiden Pfarrer aus Grävenwiesbach luden das Friedensnetz Hintertaunus in den Gemeindesaal ein. Der Kirchenvorstand jedoch verbot es ihnen. Auch gab es die dörfliche soziale Kontrolle. Ich fragte, wie denn die Leute unsere Demonstrationen fänden. Die erstaunliche Antwort lautete: »Die finden das ganz gut. Doch glauben Sie ja nicht, dass sich einer beteiligen wird.« Ein aufgeschlossener Lehrer kam zu mir, um seine Beteiligung am Marsch kundzutun. Dieser sollte durch sein Dorf führen. Seiner Ankündigung fügte er hinzu: »Andreas, du verstehst doch, dass ich mich erst hinter meinem Ort dem Zug anschließe.«
Trotz solcher Ängste war das Friedensnetz Hintertaunus ein großer Erfolg. Es arbeitete viele Jahre. Örtliche Gruppen konnten in ihren Dörfern durchsetzen, dass diese zu atomwaffenfreien Gebieten erklärt wurden.
Die Militärstrategen kamen auf die Idee, dass im Falle eines großen Panzerangriffes aus dem Osten der ganze Taunus diesem Zugriff versperrt werden müsse. Sie ließen auf allen Zugangsstraßen Schächte für atomare Minen einbauen, die im Fall des Falles gezündet werden sollten. Das Friedensnetz Hintertaunus gab daraufhin einen Atlas der Taunus-Verminung heraus. Das alarmierte, zumal bei diesem Plan die Versorgung der Bevölkerung nicht vorgesehen war.
Im Frauenfriedensbus durch Europa
Von Ellen Diederich
Im September 1979 fand in Köln der 1. Anti-Atomkongress der Frauenbewegung statt, organisiert von der feministischen Zeitschrift »Courage«. Über 1000 Frauen kamen. Aufgerüttelt wurden wir vor allem durch die australische Kinderärztin Helen Caldicott. Sie übertrug die komplizierten Zusammenhänge der atomaren Vernichtungsmöglichkeiten in eine Sprache, die jede(r) verstehen konnte. Mit ihrer drastischen Beschreibung der von den Atomwaffen auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze ausgehenden Gefahren öffnete sie vielen die Augen.
Wir waren nicht neu in der Thematik: Vom ersten Ostermarsch an hatten wir gegen die Atomwaffen protestiert. Vor dem Kongress schrieben wir eine Petition gegen Atomkraft an Bundestagsabgeordnete. Wir machten das erste Die-In vor dem Kölner Dom, eine Manifestation auf dem Boden liegender Toter. Die Gottesdienstbesucher mussten über die Frauenkörper steigen.
Dann hörten wir einen Vorschlag aus Norwegen: Eva Nordland, Pädagogikprofessorin aus Oslo, hatte die Initiative »Für ein atomfreies Europa von Polen bis Portugal« gestartet. Die Norwegerinnen riefen 1981 zum ersten Frauenfriedensmarsch auf. 500 waren wir in Kopenhagen, in Paris 10 000. Von Frauen organisiert, luden wir Männer und Kinder ein mitzumachen. Der Marsch dauerte sechs Wochen, Zeit für unendlich viele Gespräche, Lieder entstanden. Entlang der Strecke wurde in Stadtparlamenten geredet und gefordert: Macht eure Stadt zur atomfreien Zone!
Im Jahr darauf gingen die Skandinavierinnen von Stockholm über Moskau nach Minsk. Sie forderten ein atomwaffenfreies Europa in Ost und West. Es war das erste Mal, dass eine Friedensaktion dieser Größe von westlichen Gruppen in der Sowjetunion akzeptiert wurde. Und es waren Vorarbeiten zu den späteren Friedensverhandlungen: Wir gingen von Berlin nach Wien.
1983 zogen die Skandinavierinnen von New York nach Washington und wir von Dortmund nach Brüssel zum NATO Hauptquartier, um gegen die Stationierung der Pershing II und Cruise missiles und ebenso gegen die SS 20 zu protestieren. Entlang der Routen der Friedensmärsche erklärten sich besonders viele Regionen als atomwaffenfrei. Und natürlich beteiligten wir uns an den anderen Aktionen, in Bonn, in Mutlangen und andernorts. Mit unserem Frauenfriedensbus fuhren wir rund 250 000 Kilometer durch Europa und einen Teil der USA.
Bei der Weltfrauenkonferenz in Nairobi schufen wir das Friedenszelt als Ort, wo Frauen aus so genannten Feindesländern in einen Dialog kommen konnten. Wir brachten es weiter nach Belfast, nach Nevada, Murmansk, ins Ruhrgebiet und nach Kopenhagen. Und wir fuhren zu allen Gipfeltreffen von Reagan, später Bush und Gorbatschow, um die Stimmen der Frauen hörbar werden zu lassen.
Aktionsziel: Bundestag
Von Werner Rätz
Am 21. Oktober 1983 hatte ein Bündnis linker und Dritte-Welt-Gruppen das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit blockiert. Mit dieser Aktion wollten wir darauf hinweisen, dass die Kriegspolitik der NATO die Existenz der Welt aufs Spiel setzte. »Wenn wir uns selbst ernst nehmen, unsere eigene Analyse der Kriegsgefahr nicht einfach verdrängen, dann ist es unsere bedingungslose Pflicht, Widerstand zu leisten, der so wirkungsvoll wie nur irgend möglich ist«, schrieb ich damals ein wenig pathetisch in einem Artikel. Denn wie sollten uns die Menschen glauben, »dass hier Leute den Krieg wollen und vorbereiten, wenn wir angesichts einer angeblich tödlichen Bedrohung der Form des Widerstandes eine höhere Bedeutung beimessen als dem Widerstand selbst«?
Wir beschlossen, uns nicht nur an der Belagerung des Bundestages zu beteiligen, die vom Koordinationsausschuss für den 21. November, dem ersten Tag der Bundestagsdebatte über den Stationierungsbeschluss, angekündigt worden war, sondern ihr auch einen besonderen Akzent zu verleihen. Wir akzeptierten den Aktionskonsens, dass die Parlamentsabstimmung nicht verhindert werden sollte, aber behindern wollten wir sie schon. Deshalb verkündeten wir auf der Aktionskonferenz Anfang November, den Abgeordneten im Bundestag selbst sagen zu wollen, dass sie kein Recht haben zu tun, was sie dort gerade tun, nämlich über einen Schritt zu entscheiden, der einen Atomkrieg recht wahrscheinlich macht. Unser Aufruf »Aktionsziel ist das Rednerpult des Deutschen Bundestages« schaffte es in die 8-Uhr-Ausgabe der Tagesschau am Samstagabend.
Dennoch glaubte niemand, dass wir es versuchen würden. Doch am 21.11. schafften es ein paar Hundert Leute in die Bannmeile bis wenige Meter vor dem Langen Eugen. Weil die Mehrheit der Belagerer nicht nachkam, ging vielen der Mut aus und nach und nach zogen wir uns alle wieder zurück.
Alle Beiträge aus: nd, 21.11.2013
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