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"Die reaktionärste und gefährlichste Regierung, die sich je in den USA an die Macht geschummelt hat"

Rede von Peter Strutynski auf der Kundgebung "Kassel sagt Nein zum Krieg"

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede, die Peter Strutynski am 30. Januar 2003 in Kassel anlässlich einer Friedenskundgebung gehalten hat.

Vor drei Tagen hat der oberste Waffeninspekteur im Irak, Hans Blix, vor dem UN-Sicherheitsrat seinen allgemein mit Spannung erwarteten Bericht abgegeben. Ich muss sagen: Ich war nicht sehr gespannt gewesen, denn man konnte vorher schon wissen, was in dem Bericht stehen würde:
  • Dass der Irak die Waffeninspekteuren korrekt behandeln würde,
  • dass in den zurück liegenden 2 Monaten nichts, aber auch gar nicht Handfestes gefunden wurde, was auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen hindeutet,
  • dass keine verwertbaren Hinweise auf ein illegales irakisches Atomwaffenprogramm gefunden wurden,
  • dass Hans Blix dennoch eine Reihe von "Zweifeln" über den ernsthaften Abrüstungswillen des Irak hat
  • und dass er ebenso viele "Vermutungen" über irgendwo versteckte biologischen und chemischen Kampfstoffe anstellt.
Fazit: Viele Fragen blieben offen. Die Inspekteure brauchen noch wesentlich mehr Zeit, um ihre Arbeit zu erledigen. Und wir dürfen weiter hoffen. Vielleicht wird das Beispiel Irak noch einmal Schule machen: Waffeninspektionen könnte ich mir in vielen anderen Ländern vorstellen.

Vor zwei Tagen klärte US-Präsident Bush seine eigene Nation und die Welt darüber auf, was eigentlich Sache ist. Was auch immer die Inspekteure im Irak finden oder nicht finden mögen: Die US-Regierung weiß, dass Saddam Hussein im Besitz von Massenvernichtungswaffen ist, dass er mit dem internationalen Terrorismus unter einer Decke steckt und dass er eine Bedrohung der ganzen Welt darstellt.

In einer Woche, am nächsten Mittwoch, wird Außenminister Powell dem UN-Sicherheitsrat seine Erkenntnisse über das Waffenprogramm Saddam Husseins vorlegen. Und dann sollen die Vereinten Nationen ihre Schlussfolgerungen ziehen und endlich den Weg zu einem Krieg gegen Irak freigeben. Weigert sich der Sicherheitsrat, dann, so die unmissverständliche Botschaft des US-Präsidenten, werden die USA auch ohne den Rest der Welt handeln.

Die Bush-Administration, die reaktionärste und gefährlichste Regierung, die sich je in den USA an die Macht geschummelt hat, die Bush-Administration hat der Welt zwei einfache Prinzipien gelehrt:
Erstens:
Wenn dem Irak ein Vergehen gegen die Abrüstungsauflagen nachgewiesen werden kann, dann wird Krieg geführt.
Wenn ein solches Vergehen nicht nachgewiesen werden kann, beweist das nur, dass Bagdad sein Vergehen perfekt vertuscht hat. Also muss gleichfalls Krieg geführt werden.

Stellen wir uns nur einmal vor, dieses Beispiel würde in der Justiz Schule machen. Wie viele Ermittlungsbeamte würden überflüssig, wie viele Richterstellen könnte man streichen, wie viel Zeugengelder einsparen. Der Ankläger ist zugleich Richter und erledigt der Einfachheit halber auch noch die Exekution des Angeklagten.

Das zweite Bush-Prinzip lautet:
Wir bitten die Vereinten Nationen, die Gemeinschaft der freien Staaten dieser Welt, den sog. Krieg gegen den Terror, in diesem Fall den Krieg gegen Irak, mit uns zu führen. Aber wir versichern euch, wir werden das notfalls auch ohne euch tun.

Weltpolitik, Diplomatie und internationale Beziehungen verkommen derzeit zu einem Bubenstück machtgeiler und ölhungriger Galgenvögel aus dem Weißen Haus. "Im großen Spiel des beginnenden 21.Jahrhunderts", so schrieb Heiko Flottau vorgestern in der Süddeutschen Zeitung, "geht es .. um wirtschaftliche Einfluss-Sphären: Wer würfelt so viele Sechser, dass er als Erster das Etappenziel Irak und danach das Feld mit der Aufschrift "Welt- Erdölreserven" erreicht?" Zu den außenpolitischen Prioritäten der Regierung des Texaners George W. Bush gehört die Sicherstellung des wachsenden Ölbedarfs. Im Mai 2001 legte die "Nationale Gruppe für Energie-Entwicklung" unter Vorsitz von Vizepräsident Richard Cheney einen Bericht vor. Thema: "Wie ist der Erdölbedarf der USA in den nächsten 25 Jahren zu sichern?" Der Anteil des von den USA importierten Rohöls wird bis 2020 von jetzt 52 auf 66 Prozent steigen. Sicherung der Ölquellen durch Diversifizierung der Importe von Kolumbien über Venezuela bis zum Persischen Golf und nach Zentralasien ist eine der Forderungen des Cheney-Berichtes. Und der Irak ist mit seinen 11 Prozent Weltölvorkommen der erste Mosaikstein - dahinter lauern Saudi-Arabien und der Iran.

Deshalb sage ich: Ein Krieg gegen Irak würde das Pulverfass Naher Osten vollends zur Explosion bringen.
Und ich sage auch, das "alte Europa", das ja über noch viel mehr historische Erfahrungen mit dem Nahen und Mittleren Osten verfügt, hat den Amerikanern zumindest diese Lektion voraus.

Daher die große Zurückhaltung in Frankreich und in Deutschland gegen diesen Krieg. Und wir können ausnahmsweise einmal froh sein über die Haltung der Bundesregierung - obwohl sie uns nicht ausreicht.
Warum?
Die rot-grüne Regierung kam sehr spät und nicht aus freien Stücken zu ihrer Ablehnung des Krieges. Der Wahlkampf war es, der sie dazu brachte, Nein zu sagen, ein Nein, das längst der Mehrheitsstimmung in der Bevölkerung entsprach. Und ich möchte bei der Gelegenheit ganz unbescheiden darauf hinweisen, dass die Friedensbewegung nicht ganz unbeteiligt an der großen Kriegsunwilligkeit der Gesellschaft ist.

Nun sagen manche: Einer Regierung, die einen völkerrechtswidrigen Jugoslawienkrieg geradezu emphatisch geführt hat, die sich im Krieg gegen den Terror und gegen Afghanistan vorbehaltlos hinter die USA gestellt hat, einer solchen Regierung könne man nicht über den Weg trauen.

Ich würde sagen: Man sollte generell keiner Regierung über den Weg trauen, sondern muss schon genau hinschauen, welches ihre Taten sind.

Wenn aber heute Grüne und Sozialdemokraten wieder den Weg zur Friedensbewegung finden, dann sollte man sie herzlich willkommen heißen.
Wir sind nicht nachtragend.
Wir verzeihen alles, aber wir vergessen nichts.
Und wir sind leidenschaftliche Anhänger des Resozialisierungsgedankens.

Wir sagen aber auch an die Adresse von Berlin: Euer Nein zum Krieg darf kein verbales Nein bleiben.
Wir wollen auch Taten sehen.
Dazu zählen:
  • Der Abzug der Spürpanzer aus Kuwait.
  • Der Rückzug der Marine aus der Golfregion.
  • Die Verweigerung von Überflugrechten für US-Kampfflieger über Deutschland.
  • Keine Nutzungserlaubnis für die US-Stützpunkte in Deutschland.
Wenn man einen Krieg für falsch und gefährlich hält, dann muss man doch auch alles tun, um ihn zu verhindern. Und mir scheint, die einzige Sprache, die das Pentagon versteht, und die einzige Tat, die das Weiße Haus - wenn überhaupt - überzeugt, ist die Verweigerung jeglicher Hilfestellung für ihren Krieg.
Wer das für Antiamerikanismus hält, muss entweder blind sein oder hier in Kassel für die CDU Landtagswahlkampf machen.

Und noch eines zum Schluss:
Ich glaube fest an unsere Chance, diesen Krieg zu verhindern. Eine halbe Million Menschen, die vor zwei Wochen in Washington demonstriert haben, geben mir diese Hoffnung. Und eine breite Bewegung bei uns, die ja erst am Anfang steht, macht ebenso Mut.
Die Herren im Weißen Haus sind nicht allmächtig.
Und Krieg ist kein Naturereignis, sondern wird von Menschen geplant und gemacht. Also kann und muss er auch von Menschen verhindert werden.
Zu diesem Zweck lasst uns zusammen stehen: heute in Kassel, am 15. Februar gemeinsam mit Hunderttausenden in Berlin.


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