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Friedensbewegung auch im neuen Verfassungsschutzbericht...

... und ein interessanter Brief von Umweltminister Trittin

Wie schon der Verfassungsschutzbericht 1998 führt auch der neue "Verfassungsschutzbericht 1999" den "Friedensratschlag" unter der Rubrik "Linksextremistische Bestrebungen" auf. Wir dokumentieren den Text (S.117-118) im Folgenden und ergänzen ihn um einen Brief des Bundesumweltministers Trittin, den dieser in derselben Angelegenheit an das Göttinger Friedensbündnis geschrieben hatte:

Auszug aus dem Verfassungsschutzbericht 1999

1.3 "Bundesausschuss Friedensratschlag"

gegründet: 1996 (als "Arbeitsausschuß Friedensratschlag" - AFriRA -)
Sitz: Kassel
Mitglieder: 50
Publikationen: "Friedenspolitische Korrespondenz" (FRIKORR); "Friedens-Memorandum", jährlich

Der "Bundesausschuss Friedensratschlag" (bis zur Jahreswende 1998/99 "Arbeitsausschuß Friedensratschlag" - AFriRa -) wird maßgeblich von Linksextremisten beeinflusst. Seine leitenden Funktionäre und Initiatoren stammen überwiegend aus der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) und ihrer Anfang der 90er Jahre zerfallenen Vorfeldorganisation "Deutsche Friedens-Union" (DFU). In seiner praktischen Politik bemüht er sich um die Fortsetzung des traditionellen orthodox-kommunistischen "Friedenskampfes" (Anmerkung 117)

Als Bündnispartner wählt er bevorzugt Organisationen wie den "Deutschen Friedensrat e. V." (DFR, bis 1990 "Friedensrat der DDR") oder den weiter aktiven "Weltfriedensrat" (ehemals "Frontorganisation" der KPdSU, heute weitgehend von der "Französischen Kommunistischen Partei" beherrscht). Der Bundesausschuss veröffentlichte im Frühjahr ein "Friedens-Memorandum", mit dem er neben einer Bilanz der "friedenspolitischen" Aktivitäten des Jahres 1998 auch eine Grundlage für die künftige Arbeit der "Friedensbewegung" als "außerparlamentarische 'Lobby'" schaffen will. Er bekräftigte damit implizit seinen Anspruch, eine Art Dachorganisation der "Friedensbewegung" zu sein.

Opposition gegen den Militäreinsatz der NATO im Kosovo sah er als Chance, eine antiwestliche Protestbewegung voranzubringen und seinen eigenen Einfluss darin auszuweiten.

Für den 5. Juni rief er zu einem außerordentlichen bundesweiten "Friedenspolitischen Ratschlag" in der Universität/Gesamthochschule Kassel auf. Dort sollten die Aktivitäten der "Friedensbewegung" gegen den NATO-Einsatz im Kosovo koordiniert und der "Druck ... auf die Regierung" (Anmerkung 118) erhöht werden. Unter den rund 200 Teilnehmern befanden sich zahlreiche Organisatoren des früheren orthodox-kommunistischen "Friedenskampfes", Mitglieder und Funktionäre der DKP und der DFU sowie der PDS und des DFR, aber auch Vertreter ausländischer kommunistischer Parteien und ideologisch gleichgerichteter "Friedensorganisationen". Verabschiedet wurden "12 Punkte für den Frieden", die z. B. den Widerstand gegen die "aggressive neue NATO-Strategie und die Militarisierung der EU" einfordern.

(117)
Definition "Friedenskampf" (Kleines Politisches Wörterbuch, Aufl. 1989, S. 285 ff.)
"Der Kampf um die Sicherung des Friedens richtet sich vor allem gegen die aggressivsten und militaristischsten Kräfte des Imperialismus". "Der Marxismus-Leninismus begründet, dass die Frage von Krieg und Frieden vom Klassenkampf abgeleitet wird und Kriege letztlich ihre Wurzeln im Privateigentum an Produktionsmitteln, im Klassenantagonismus der Ausbeutergesellschaft, im aggressiven Wesen des Imperialismus haben. Unter den heutigen Bedingungen muss die Sicherung des Friedens vor allem im harten Kampf gegen die aggressivsten militaristischen Kräfte des Imperialismus durchgesetzt werden".
Nach diesen Vorstellungen erschöpft sich "Friedenskampf" nicht in pazifistischen Bemühungen, sondern muss den angeblich gesetzmäßig aggressiven Imperialismus (Pseudonym für westliche Verfassungsstaaten mit marktwirtschaftlichen Ordnungssystemen) "zum Frieden zwingen". Dies kann durch politische oder auch unmittelbar militärische Maßnahmen unter Anwendung eines "gerechten Krieges" geschehen: Nach marxistisch-leninistischer Auffassung war der Frieden um so sicherer, je stärker der Sozialismus bewaffnet war.

(118)
Einladung "zu einem außerordentlichen bundesweiten Friedenspolitischen Ratschlag" vom 18. Mai 1999

Noch vor Erscheinen des Verfassungsschutzberichts 1999 war auch das Göttinger Friedensbündnis in Sachen Verfassungsschutz-Observierung aktiv geworden. Die Göttinger hatten ihre Bundestagsabgeordneten angeschrieben und um Aufklärung bzw. Mithilfe gebeten. Der Brief des Göttinger Friedensbündnisses hatte folgenden Wortlaut:

Brief des Göttinger Friedensbündnisses an Jürgen Trittin

Göttinger Friedensbündnis, Göttingen, 24.02.2000
Sehr geehrter Herr Trittin,
das Göttinger Friedensbündnis arbeitet seit mittlerweile 15 Jahren kontinuierlich zusammen und beschäftigt sich mit den elementaren Fragen von Krieg und Frieden, von Menschenrechten und Gerechtigkeit, insbesondere auch mit gesellschaftlichen Strukturen und politischen Entscheidungen, die der Entwicklung zu einer weiter militarisierten oder aber friedlichen Zukunft zugrunde liegen.

Neben Aktionen vor Ort arbeitet das Göttinger Friedensbündnis auch mit überregionalen Organisationen zusammen, z.B. mit dem Bundesausschuss Friedensratschlag, dem einige unserer Mitglieder angehören. Dieser Bundesausschuss Friedensratschlag stellt einen überregionalen Zusammenschluss verschiedenster Friedensgruppen dar und ermöglicht eine überregional vernetzte, kontinuierliche Arbeit in der Friedensbewegung. Wie viele andere Friedensinitiativen hat sich der Bundesausschuss Friedensratschlag wie auch das Göttinger Friedensbündnis im Jahr 1999 gegen eine Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ausgesprochen und dabei ausdrücklich auf der Einhaltung des Grundgesetzes sowie völkerrechtlicher Bestimmungen bestanden.

Erstmals im Verfassungsschutzbericht 1998 wird nun der Bundesausschuss Friedensratschlag als "linksextremistische Bewegung" aufgeführt, die "von ehemaligen DFU-Funktionären sowie von Mitgliedern der DKP und der PDS beherrscht" werde und "die Anleitungs- und Koordinierungsfunktion in klassischen Aktionsfeldern des kommunistischen Friedenskampfes" übernehme. Die völlig an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfe einer vermeintlichen Verfassungsfeindlichkeit haben zu mehreren schriftlichen Beschwerden an das Innenministerium geführt.

Die Antwort des Herrn Fritz Rudolf Körper, MdB und Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren, ist skandalös und entlarvend zugleich. So heißt es im letzten Absatz:
"Solche Aktivitäten sind keineswegs im Einklang mit der von uns politisch verantworteten aktiven Friedenspolitik der neuen Bundesregierung, deren Bemühen, neben der Verhinderung und Schlichtung von lokalen Konflikten in verschiedenen Weltregionen, auf die Behauptung und Verbreitung der demokratischen Ideale und auf diesem Wege auf die Vermeidung potentieller und die Lösung und Entschärfung bestehender politischer Konflikte gerichtet ist." Deutlicher kann man nicht sagen, dass es im Verfassungsschutzbericht um alles andere als den Schutz der Verfassung geht, sondern vielmehr allein um den Schutz der Regierungspolitik. Politisch missliebige, unbequeme Meinungen sollen in Misskredit gebracht und mit dem Hauch des Anrüchigen versehen werden. An einer früheren Stelle heißt es im Schreiben des Herrn Körper: "So werden bei den Aktivitäten des Friedensratschlages als Bündnispartner in erster Linie frühere Aktivisten aus den Vorfeldorganisationen der DKP, aber auch Organisationen aus dem Umfeld der ehemaligen SED und der ehemaligen KPdSU angesprochen, wie der "Deutsche Friedensrat" (ehemals Friedensrat der DDR) und der früher von der KPdSU gesteuerte "Weltfriedensrat" (der heute maßgeblich von der "Französischen Kommunistischen Partei" beeinflusst ist)."
Abgesehen von dem inhaltlichen Unsinn, wer angebliche Zielgruppe der Arbeit sei:
Wird jetzt etwa schon die Französische Regierung - an der schließlich Mitglieder der Kommunistischen Partei beteiligt sind - der verfassungsfeindlichen Umtriebe verdächtigt?

Es bleibt festzustellen, dass auf skandalöse und entlarvende Weise zutage tritt, wie hier eine unbequeme politische Arbeit auf üble Weise beschädigt werden soll.

Das Göttinger Friedensbündnis wendet sich entschieden gegen diese Art politischer Desinformation und den Versuch, einige seiner Mitglieder als linksextreme Verfassungsfeinde darzustellen.

Wir bitten Sie als Göttinger Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Bundeskabinetts, Ihren Einfluss zu verwenden, dass der Bundesausschuss Friedensratschlag nicht mehr in den jährlichen Verfassungsschutzbericht aufgenommen wird und bitten Sie, bis spätestens zum 21.03.2000 zu den oben genannten Vorgängen Stellung zu nehmen.

Mit freundlichen Grüßen
(Göttinger Friedensbündnis)

Am 24. März 2000 antwortete Jürgen Trittin, indem er dem Göttinger Friedensbündnis nachfolgenden Brief übermittelte, den er am gleichen Tag an seinen Kabinettskollegen Otto Schily schrieb.

Brief von Jürgen Trittin an Otto Schily

Sehr geehrter Herr Schily, Lieber Kollege,

der Bundesausschuss Friedensratschlag wird als "linksextremistische Bewegung" im Verfassungsschutzbericht 1998 aufgeführt. Als Begründung wird genannt, dass dieser von "ehemaligen DFU Funktionären sowie von Mitgliedern der DKP und PDS beherrscht" werde.

Ihr Staatssekretär Herr Körper weist darauf hin, dass die Ziele dieser "kommunistischer Bündnisse" im "unklaren belassen" werden und sich erst im Gesamtzusammenhang erschließen". Dabei wird als Gesamtzusammenhang verstanden, dass Personen aus dem Umfeld der "ehemaligen SED und der ehemaligen KPDSU" angesprochen werden.

Der Vorwurf, dass DKP und PDS nach wie vor keine verfassungsfeindlichen Parteien sind, gibt ihnen einen Nimbus des Verbotenen, den sie nicht verdient haben. Anstatt über ihre - vielfach eher strukturkonservative - Politik zu streiten, können sie sich als Verfolgte kostümieren.

Der Begründungszusammenhang, der für die Erwähnung des Bundesausschuss Friedensratschlag im Verfassungsschutzbericht herangezogen wird erinnert mich doch sehr an die Zeiten, als Deutschland noch durch die Mauer getrennt war und kommunistische Aktivitäten in die Nähe von Verrat und Spionage gerückt wurden.

In den heutigen Zeiten erscheint dieses Vorgehen als Reflexhandlung, die einer anderen Zeit entstammt, in der Kommunismus noch als Systemalternative dargestellt wurde und mit unserem Gesellschaftssystem in Konkurrenz stand.

Zehn Jahre nach dem Mauerfall sollten solche Reflexe ausgedient haben. Daneben erscheint mir die Beobachtung der regierungskritischen Friedensinitiativen nicht unserer Regierungskoalition angemessen. Die kritische Auseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung, insbesondere auf einem so heiklen Feld wie der Friedenspolitik, kann nicht Grund für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz sein. Wir haben keinen Grund uns für unsere Politik hinter Nachrichtendienste zu verstecken.

Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Trittin

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