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Die fossile Alternative

Historie und aktuelle Relevanz eines immer wichtigeren Energieträgers

Von Hermannus Pfeiffer *

Der "Handelsstreit" zwischen der Ukraine und Russland dreht sich auch um die Zukunft eines der wichtigsten Energieträger der Welt.

Ausgerechnet am Wiener Ostbahnhof wurde im Jahr 1884 erstmals in Europa Erdgas gefunden. Aber diese Entdeckung blieb mehr als ein Jahrhundert lang nahezu folgenlos, denn noch bis in die 1980er Jahre hinein wurden die meisten deutschen Städte mit »Stadtgas« versorgt. Dies ist ein künstliches Gas, das aus Kohle hergestellt wird und wegen seines hohen Anteils an Kohlenmonoxid giftig ist. Das ungiftige Erdgas galt dagegen lange als Abfallprodukt bei der Ölgewinnung und wird auch heute noch an vielen Bohrlöchern einfach nur abgefackelt.

Inzwischen wird hierzulande schon ein Viertel des Primärenergieverbrauchs durch Erdgas gedeckt. Tendenz »weiter steigend«: Vier von fünf Neubauten werden mit Gasheizung ausgerüstet. So kletterte der Erdgasverbrauch seit 1980 von 3 auf über 100 Milliarden Kubikmeter im Jahr. Zur Spitzendeckung, also zum Ausgleich kurzfristiger Importstörungen oder Bedarfsschwankungen, werden in Deutschland 20 Milliarden Kubikmeter in Untergrundspeichern gelagert.

Auch in anderen großen Industriestaaten wird der Energiemix zugunsten von Erdgas verschoben. Dafür sprechen Preis und Verträglichkeit. Zwar ist Erdgas im Unterschied zum kleinen Bruder Biogas, der aus Nahrungspflanzen und Holzresten produziert wird, kein nachwachsender Rohstoff, doch der Einsatz ist ebenfalls relativ klimaschonend, da Erdgas bis zu 98 Prozent aus Methan besteht.

Wichtigster Verbraucher ist die Industrie, die Erdgas als chemischen Rohstoff und zur Energieerzeugung nutzt. Der Vertrieb an die privaten Endverbraucher erfolgt in Deutschland über 700 Gasversorger, insbesondere Stadtwerke, die aber an den Pipelines der großen Importeure wie E.on Ruhrgas, VNG und RWE hängen. Die EU-Kommission möchte aus Wettbewerbsgründen die Netze vom Gasvertrieb trennen.

Die Möglichkeiten des Erdgases sind längst nicht ausgereizt. »Es gibt – überspitzt formuliert – tausende Anwendungen, für die Erdgas besser wäre als Öl, Kohle oder Kernenergie«, sagt Energieexperte Christian Gotthardt. Gaskraftwerke könnten die deutsche Ökobilanz entlasten, da sie weit umweltfreundlicher und effizienter Strom erzeugen als die üblichen Großkraftwerke mit Kohlebefeuerung sowie ungleich sicherer als Atomkraftwerke sind. Verhindert wird dies laut Gotthardt durch eine Strafsteuer auf die Gasverstromung und durch die Lobbyinteressen der deutschen Energiekonzerne, die sich weiterhin weltweit mit der Kohleverstromung profilieren wollen.

Für Erdgas sprechen zudem die Ressourcen, die 500 Jahre und vielleicht auch länger reichen könnten; die nachgewiesenen Vorräte reichen für knapp 70 Jahre. Die globalen Reserven an Erdgas seien nach Angaben der Bundesanstalt für Geologie und Rohstoffe langfristig ausreichend, um den weltweiten Energiebedarf zu decken. So wird nichtkonventionelles Erdgas – wie Methan in Kohleflözen oder Gesteinsschichten – in den USA auf das Fünfhundertfache des jährlichen Verbrauchs geschätzt. Zudem regen Gashydrate die Phantasie von Geologen und Energiebossen an. Gashydrate, erklärt Professor Gerhard Bohrmann vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften in Kiel, seien eisähnlich. Die Verbindung von Wasser und Gas entsteht unter hohem Druck und niedrigen Temperaturen in den arktischen Permafrostgebieten und im Meeresboden.

Gewaltige Explorationsprojekte wie bei Hammerfest und in der Barentssee (Schtokman-Feld) konzentrieren sich heute auf die Suche nach Erdgas, das tief unter dem Meeresgrund zu finden ist. Flüssiggastanker sorgen für den Abtransport in alle Welt – außer nach Deutschland. Bislang konnten die Energiekonzerne den Bau eines Flüssigerdgas-Terminals abwenden und damit ihr Pipeline-Monopol schützen, was ihnen wiederum hohe Preise sichert.

Ende der 60er Jahre war in der Industrie kurzzeitig die Idee aufgetaucht, in Wilhelmshaven eine riesige Anlandestation für Flüssiggas zu bauen, doch das Erdgasröhrengeschäft mit der Sowjetunion ließ das Projekt unnötig erscheinen: Die Russen lieferten Gas und erhielten im Gegenzug Röhren von Mannesmann; die Deutsche Bank finanzierte den Deal. Die 2000 Kilometer lange Pipeline ist bis heute eine der Hauptlieferwege für Gasimporte.

Lexikon

Der weltgrößte Erdgasproduzent Gazprom beansprucht fast ein Fünftel der Förderung für sich. Im Zuge der Finanzkrise und sinkender Rohstoffpreise verlor Gazprom drei Viertel seines früheren Börsenwertes. Der Konzern mit gut 400 000 Beschäftigten, der für etwa ein Fünftel der russischen Haushaltseinnahmen steht, bat beim Kreml um Milliardenhilfen. Der Staat hält die Kontrollmehrheit von 50,002 Prozent. Ausländische juristische Personen besitzen 13,2 Prozent. Die E.on-Tochter Ruhrgas hält als größter ausländischer Aktionär 6,43 Prozent.

Gazprom lieferte 2006 etwa 34 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Deutschland – zu 80 Prozent über die Ukraine, zu 20 Prozent über Belarus. Die aus politischen und ökologischen Gründen umstrittene Ostsee-Pipeline von Russland nach Lubmin am Greifswalder Bodden ist voraussichtlich nicht vor 2012 fertig. Am Konsortium sind Gazprom (51 Prozent), E.on, BASF/ Wintershall und die niederländische Gasunie beteiligt. ND/dpa



* Aus: Neues Deutschland, 9. Januar 2009


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