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Schrumpfprojekt

Hintergrund. Die EU will Rußlands Einfluß bei der Lieferung von Erdgas und Erdöl schwächen und sich einen Zugang zu den Ressourcen der kaspischen Staaten sichern. Das Großprojekt Nabucco-Pipeline wird indes höchstens in einer abgespeckten Variante realisiert

Von Jörg Kronauer *

Die Nabucco-Pipeline hat eine letzte Chance erhalten. Jahrelang in der EU in den höchsten Tönen gerühmt, dann mehrfach totgesagt, wird sie möglicherweise doch noch gebaut – wenngleich viel später als geplant und in deutlich abgespeckter Form. Ende Juni teilte das Konsortium, das das riesige Erdgasfeld Shah Deniz in Aserbaidschan ausbeutet, mit, es wolle sich im nächsten Jahr definitiv entscheiden, wer sein Gas von der türkisch-bulgarischen Grenze aus in der EU verteilen dürfe. Zwei Pipeline-Optionen seien in der Vorauswahl übriggeblieben; eine davon sei »Nabucco« bzw. die erheblich zurückgestutzte Version »Nabucco West«. Mit der Ankündigung klärt sich der hochkomplexe Machtpoker um die Erdgasröhren, die in den nächsten Jahren durch Südosteuropa gebaut werden sollen, etwas auf. Fällt das Shah-Deniz-Konsortium wirklich 2013 seinen Beschluß – lange läßt er sich nicht mehr aufschieben –, dann werden nach langen Kämpfen zentrale Weichen für die langfristige Erdgasversorgung der EU gestellt. Die Auseinandersetzungen darum gehen auf geostrategische Entscheidungen der westlichen Staaten zurück, die bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gefällt wurden – und die weltpolitische Konsequenzen in sich tragen.

Russische Röhren

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre suchten die Regierungen Westeuropas und Nordamerikas den Zerfall der Sowjetunion und die akute Schwäche Rußlands zu nutzen, um die einst sowjetischen Staaten Zentralasiens und des Kaukasus möglichst nachhaltig aus der Einflußsphäre Moskaus zu lösen – und sie dafür in ihre eigene zu integrieren. Damit stießen sie durchaus auf Wohlwollen in den betreffenden Staaten, die zwecks Stärkung ihrer frisch errungenen formellen Eigenständigkeit ihre engen Bindungen an Rußland lockern und ihre auswärtigen Beziehungen um intensive Kontakte in den Westen erweitern wollten. Einer der ersten Gegenstände, die man zu diesem Zweck nutzte, war genau das, woran Europa und die USA ohnehin erhebliches Interesse hatten – die reichen Erdöl- und Erdgasvorräte des Kaspischen Beckens. Die rohstoffbesitzenden Staaten am Kaspischen Meer öffneten ihre Öl- und Gasfelder dem Zugriff Europas und der USA. Mit dem neuen Ressourcenboom für den Westen stellte sich zugleich eine zweite Frage – die Frage, wie die Rohstoffe aus Zentralasien und dem Kaukasus abtransportiert werden sollten. Das ehedem sowjetische Pipelinesystem stand weitestgehend unter russischer Kontrolle; blieben die kaspischen Staaten darauf angewiesen, dann, das war klar, konnte man sie, ihr Öl und ihr Gas nicht vollständig dem Zugriff Moskaus entziehen. Aus westlicher Sicht waren daher Alternativen gefragt.

Recht bald schon nahmen die EU, die USA und die kaspischen Ressourcenstaaten den Ausbau eines »südlichen Korridors« in den Blick, über den der Abtransport der Rohstoffe jenseits des – nördlich gelegenen – russischen Territoriums erfolgen sollte. Im Gespräch war damals auch der Bau von Pipelines über Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean; die Wahl fiel jedoch auf die als zuverlässiger eingeschätzte und für Europa weitaus günstigere Route von der Westküste des Kaspischen Meers durch den südlichen Kaukasus auf das Territorium des NATO-Partners Türkei. Erstes konkretes Ergebnis war die Einigung auf den Bau der Pipeline Baku–Tbilisi–Ceyhan (BTC) im Jahr 1994, die seit dem Jahr 2006 nun Öl aus dem Azeri-Chirag-Güneschli-Feld vor der Küste Aserbaidschans ins türkische Ceyhan transportiert; der dortige Tiefseehafen ist für Tanker aller Art geeignet. Das Azeri-Chirag-Güneschli-Feld, eines der zehn größten weltweit, wird von einem Konsortium unter Führung von BP ausgebeutet, und der britische Konzern führt auch das BTC-Pipeline-Konsortium an. Allerdings ist damit aus westlicher Sicht noch längst nicht alles erreicht: Das Erdöl aus den riesigen Feldern Kasachstans kann von der BTC-Pipeline nur in geringem Umfang transportiert werden und fließt deshalb weiterhin vor allem durch russische Röhren. Zudem bietet BTC keine Lösung für das kaspische Gas.

Babylonische Gefangenschaft

Eine erste Lösung für den Abtransport der kaspischen Erdgasvorräte bietet mittlerweile die South Caucasus Pipeline (SCP). Sie verläuft parallel zur BTC-Röhre und ist im Jahr 2006 in Betrieb genommen worden. Durch sie wird Gas aus dem riesigen Shah-Deniz-Feld in Aserbaidschan, das ein Konsortium unter der Führung von BP und der norwegischen Statoil ausbeutet, in die Türkei transportiert. Doch genügt das aus westlicher Sicht immer noch nicht. Der Energiekorridor aus dem Kaspischen Becken durch den Südkaukasus in die Türkei werde »seine volle Dimension« erst dann erreicht haben, wenn eine weitere Pipeline für den Erdgastransport zur Verfügung stehe, urteilte im Jahr 2010 die vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Deshalb war schon 2002 das Nabucco-Projekt in Angriff genommen worden. Damals hatten Vertreter der Erdölkonzerne OMV (Österreich) und Botas (Türkei) eine Kooperationsvereinbarung initiiert – mit dem Ziel, eine Erdgaspipeline aus der Türkei via Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Österreich zu bauen. Befüllt werden sollte diese vor allem mit Erdgas aus dem Kaspischen Becken, dessen Verteilung in die westliche EU dann von Österreich aus vorgesehen war. Die genannte Kooperationsvereinbarung wurde im Oktober 2002 von OMV, Botas, MOL (Ungarn), Transgaz (Rumänien) und Bulgargaz (Bulgarien) unterzeichnet – also von Konzernen aus sämtlichen Staaten, über deren Territorium die Gaspipeline verlaufen sollte. Nach getanem Werk, so erzählen es Funktionäre des Konsortiums, begab man sich gemeinsam zur Entspannung in die Wiener Staatsoper und wohnte einer Aufführung von Giuseppe Verdis Oper Nabucco bei. Das Werk beschreibt das Sehnen des jüdischen Volkes nach seiner Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft.

Babylonische Gefangenschaft – nun, die Anspielung auf die Abhängigkeit der EU von russischen Erdgaslieferungen und auf das Bemühen, Rußlands Rohstoffeinfluß zu schmälern, liegt auf der Hand. Rußland ist größter Erdgaslieferant nicht nur Deutschlands, sondern auch der Europäischen Union – mit je rund einem Drittel des gesamten Imports. Als Land mit den größten Erdgasreserven weltweit, das außerdem Einfluß auf die Transportinfrastruktur der öl- und gasreichen Staaten des Kaspischen Beckens besitzt, wird es auch in Zukunft großen Einfluß haben – zumal die EU, wie im Herbst 2011 Stefan Meister, ein Rußlandexperte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), schrieb, »in den nächsten Jahrzehnten mit großer Wahrscheinlichkeit vermehrt Erdgas importieren« muß. Schließlich steht die Erdgasförderung in der EU selbst vor einem starken Rückgang, während es aufgrund des Atomausstiegs wohl zu einem zusätzlichen Anstieg des Bedarfs kommt. Passend dazu stuften Europaparlament und Europäischer Rat im Herbst 2006 den Erdgaskorridor aus dem Kaspischen Becken durch den Südkaukasus in die Türkei als »Vorhaben von europäischem Interesse« ein. Im Jahr 2009 unterzeichneten dann Vertreter der mit Nabucco befaßten Staaten eigens eine Regierungsvereinbarung, um das Pipelineprojekt zu unterstützen.

Entsprechend wurde bei Nabucco nicht gekleckert, sondern geklotzt. Die Pipeline, die allein in der Türkei auf 2581 Kilometer veranschlagt war und bis zum Ziel in Baumgarten (Niederösterreich) eine Länge von fast 3900 Kilometern erreichen sollte, werde im Vollbetrieb bis zu 31 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich transportieren können, berichtete der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages im Sommer 2006. Damals lag der Gesamtverbrauch der EU bei 550 Milliarden Kubikmetern pro Jahr. Daß man solche Größenordnungen anstreben muß, wenn man die Stellung Rußlands als Erdgasmacht schwächen will, zeigt ein simpler Vergleich: Nord Stream, die sogenannte Ostsee-Pipeline, wird nach Fertigstellung beider Stränge jährlich 55 Milliarden Kubikmeter transportieren können; inzwischen ist sogar ein weiterer Ausbau im Gespräch.

Neue Option China

Dennoch: Nabucco hatte schon zu Beginn erhebliche Schwierigkeiten, ausreichend Lieferzusagen einzutreiben. Aserbaidschan, das ja mit dem Shah-Deniz-Feld die Kernquelle für Nabucco stellte, sah sich nicht in der Lage, allein die von Brüssel geforderte Erdgasmenge bereitzustellen. Die Möglichkeiten für das Nabucco-Konsor­tium, weitere Erdgaslieferanten zu finden, sind durch die geographische Lage der Vorkommen begrenzt. Große Mengen an Erdgas besitzen Kasachstan und vor allem Turkmenistan. Beide liegen jedoch – von Europa aus gesehen – jenseits des Kaspischen Meers; Landpipelines von dort nach Aserbaidschan und weiter via Nabucco in den Westen hätten über russisches oder iranisches Territorium zu verlaufen. Ersteres widerspräche dem Zweck des gesamten Projekts; letzteres wäre – die Iran-Sanktionen zeigen es – politisch schlicht inopportun. Es bliebe die Möglichkeit, eine Pipeline durch das Kaspische Meer zu verlegen, doch hätten Rußland und Iran als unmittelbare Anrainerstaaten einige Möglichkeiten, das Vorhaben juristisch und politisch zu torpedieren. Die Verflüssigung des Gases für den Transport per Schiff würde ganz erhebliche Kosten für die notwendige Infrastruktur erfordern. Trotz höchst intensiver Bemühungen hat das Nabucco-Konsortium in dieser Richtung bis heute keinen Erfolg erzielt.

Der Essener Energiekonzern RWE, der seit Februar 2008 dem Konsortium angehört, konnte sich 2009 eine Explorationslizenz direkt vor der turkmenischen Küste sichern; doch auch dies hat in Sachen Nabucco nichts voranbringen können. Schlimmer noch: Kasachstan hat sich verpflichtet, jährlich gut zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas in die Zentralasien-Pipeline nach China einzuspeisen, die im Dezember 2009 in Betrieb gegangen ist. Im selben Monat begann auch Turkmenistan Erdgas in eine weitere Röhre in die Volksrepublik zu pumpen; die Regierung des Landes hat Peking gar Lieferungen in Höhe von 30 Milliarden Kubikmeter jährlich zugesagt – über einen Zeitraum von 30 Jahren. Mit dem Aufstieg Chinas öffnen sich eben neue Optionen für die Länder östlich des Kaspischen Meers, die den Einfluß des Westens langsam, aber sicher zu relativieren beginnen.

Wenn’s nur das wäre. Im Falle von Nabucco kommen EU und USA sich auch noch selbst ganz kräftig in die Quere. Immer wieder war im Gespräch, die Nabucco-Pipeline in der Türkei mit einem Anschluß in Richtung Mittleren Osten zu versehen. Anfang Februar 2003 veröffentlichte die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) aus Hannover einen knappen Überblick über »Erdöl und Erdgas im Irak« – die deutsche Wirtschaft, der die BGR ihre Dienstleistungen zur Verfügung stellt, hatte damals aus einleuchtenden Gründen großes Interesse zu erfahren, was bei dem kurz bevorstehenden westlichen Überfall alles auf dem Spiel stand. Der Irak belege auf der Weltrangliste der Erdgasbesitzer immerhin Rang neun, berichtete die BGR – und wies darauf hin, daß etwa aus Feldern bei Kirkuk längst Gas gefördert werde. Ein Pipelinestrang aus Kirkuk in die Türkei mit Anschluß an Nabucco wäre durchaus denkbar – wenn da nicht die durch den Überfall verursachte desolate Lage im Irak noch heute große Schwierigkeiten verursachte. Denkbar wäre es auch, Erdgas aus dem Iran zu beziehen und es in die Nabucco-Pipeline einzuspeisen. »Die Erschließung der iranischen Gasvorkommen« sei »trotz der politischen Risiken für die Wirtschaftlichkeit des Nabucco-Projektes von großer Bedeutung«, urteilte im Sommer 2006 der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags. Tatsächlich ist auch dieser Plan an der Konfrontationspolitik gescheitert, die besonders die USA und transatlantische Fraktionen in Deutschland und der EU vorangetrieben haben – bis hin zu den aktuellen Erdöl-Sanktionen. Eine Zeitlang waren sogar Erdgaszulieferungen für Nabucco aus Ägypten im Gespräch. Falls jemand immer noch damit liebäugeln sollte – Pipelines aus Ägypten in die Türkei müßten den Irak oder Syrien durchqueren.

Russisches Konkurrenzprojekt

Zu guter Letzt hat Nabucco es auch mit Rußland zu tun, das seine Schwächung nicht kampflos hinnimmt. Rußland hat 2007 angekündigt, eine Pipeline mit dem Namen South Stream zu bauen – erkennbar eine Entsprechung zur inzwischen in Betrieb befindlichen Nord-Stream-Röhre (»Ostsee-Pipeline«). Während Nord Stream ein russisch-deutsches Vorhaben ist, war South Stream ursprünglich ein russisch-italienisches Projekt. Die Röhre soll von Südrußland aus durch das Schwarze Meer verlaufen und dann in Bulgarien die EU erreichen. Von dort soll das Gas innerhalb der EU weiterverteilt werden. South Stream werde sich aus dem russischen Erdgasnetz speisen, teilt das Konsortium mit – und das bedeutet nichts anderes, als daß Rußland prinzipiell auf alle seine Lieferanten zurückgreifen wird, gegebenenfalls auf Kasachstan und Turkmenistan. Die Pipeline soll jährlich sogar bis zu 63 Milliarden Kubikmeter in die EU transportieren können – doppelt so viel wie Nabucco. Der Bau soll nach aktuellem Stand Ende 2012 beginnen. Im Jahr 2010 urteilte die SWP kategorisch über das russische Konkurrenzprojekt: »Nabucco und South Stream schließen einander aus.«

Moskau bemüht sich dabei, Berlin aus der Nabucco-Front herauszubrechen. In dieser ist Deutschland durchaus solide verankert: Der deutsche RWE-Konzern ist Teil des Nabucco-Konsortiums, das darüber hinaus im Juni 2009 Exaußenminister Joseph Fischer als »Berater« engagiert hat. Nun ist es Gasprom 2011 jedoch gelungen, die Kasseler BASF-Tochter Wintershall, mit der es schon bei Nord Stream kooperiert, mit 15 Prozent der Anteile in das von ihm geführte South-Stream-Konsortium zu holen. Während Ex-SPD-Kanzler Gerhard Schröder Vorsitzender des Aktionärsausschusses von Nord Stream ist und das Projekt massiv protegiert, hat im April 2012 der einstige Erste Bürgermeister von Hamburg Henning Voscherau (SPD) den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden beim Nabucco-Rivalen South Stream übernommen. Die deutschen Beziehungen zu Gasprom sind schon seit langem eng, da Deutschland der bevorzugte europäische Kooperationspartner Rußlands in der Erdgasbranche ist. Moskau nutzt seine engen Kontakte nach Berlin nun für den Kampf gegen Nabucco.

 Für Rußland steht beim Ringen um die Kontrolle der kaspischen Ressourcen außergewöhnlich viel auf dem Spiel. Die russische Industrie ist in den letzten Jahrzehnten ziemlich rückständig und marode geworden. Die »Modernisierungspartnerschaft« mit Deutschland, durch die Moskau seine Betriebe auf Vordermann bringen wollte, gilt als gescheitert; Rußlands Abhängigkeit vom Ressourcensektor nimmt zu. Rohstoffe und rohstoffbasierte Produkte stellten in der russischen Exportstatistik des Jahres 2011 rund 80 Prozent; der Anteil von Maschinen, Ausrüstungen und Transportmitteln an den Ausfuhren brach bereits 2010 um ein Viertel ein und belief sich nur noch auf 4,1 Prozent. Moskau bleibt zur Zeit nur der Energiesektor, um sich wirtschaftlich und auch machtpolitisch zu konsolidieren. Gelinge dies nicht, dann werde das Land in absehbarer Zukunft »von seiner geopolitischen Bedeutung her in etwa die Rolle Brasiliens in Lateinamerika spielen«, urteilt Alexander Rahr, einer der profiliertesten Rußland-Kenner im außenpolitischen Establishment Berlins. Allenfalls »mit den Instrumenten der Energiegroßmacht« könne Moskau »eine teilweise Wiederherstellung seines Einflußgebietes« erkämpfen, schreibt Rahr in seinem jüngsten Rußland-Buch (»Der kalte Freund«). Dazu jedoch wäre nötig, was Experten als »Energieimperium« beschreiben: Die Kontrolle über die gesamte Energie-Verwertungskette von der Förderung der Rohstoffe über ihren Transport bis hin zum Verkauf. Daß der Westen ihm seine zentralasiatischen Ressourcenpartner abspenstig zu machen sucht, kann Moskau in seiner aktuellen Lage umso weniger tolerieren.

Türkische Konzepte

Den letzten schweren Schlag hat dem Nabucco-Konsortium allerdings weder Rußland noch China oder – unfreiwillig – der Westen selbst versetzt, sondern die Türkei. Im November 2011 haben sich Ankara und Baku geeinigt, selbst eine Pipeline durch Anatolien bis an die türkisch-bulgarische Grenze zu bauen. Den Hintergrund hat die SWP schon 2010 ausführlich beschrieben: Die Türkei gibt sich nicht mehr mit der passiven Rolle eines bloßen Transitlandes zufrieden und will zur aktiven Energiedrehscheibe werden. Hintergund sind größere Verschiebungen in der türkischen Außenpolitik, die seit einigen Jahren sich nicht mehr nur auf den Westen und die turksprachigen Staaten des Kaukasus und Zentral­asiens orientiert, sondern die islamisch geprägten Länder des ehemaligen Osmanischen Reiches enger an sich anzubinden sucht. Dieses Konzept, oft als »Neo-Osmanismus« bezeichnet, ermöglicht Ankara eine größere Eigenständigkeit gegenüber EU und USA, die sich auch auf dem Energiesektor niederschlägt. Warum soll man etwa als Standort einer Pipeline dienen, die vor allem der EU Profite bringt, wenn man die Röhre selbst bauen und den Gewinn in die eigene Kasse wirtschaften kann? Ende Juni haben der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und der aserbaidschanische Staatspräsident Ilham Aliyev die zum Bau der Trans Anatolian Pipeline (TANAP) nötigen Regierungsabkommen unterzeichnet. Für Nabucco in der ursprünglich geplanten Form ist das wohl das Aus.

Angesichts der Widerstände und der gewaltig explodierenden Kosten – statt acht Milliarden Euro war zuletzt von zwölf oder gar mehr Milliarden die Rede – sah es im Frühjahr 2012 so aus, als ob Nabucco vollständig scheitern würde. Der ungarische MOL-Konzern stieg aus, RWE stellte ebenfalls das Ende seiner Beteiligung in Aussicht. Dann kam – überraschenderweise gerade wegen TANAP – eine Wende: Die Nabucco-Pipeline könnte in einer stark abgespeckten Form doch noch gebaut werden – als »Nabucco West«. Denn das Erdgas, das via TANAP aus Aserbaidschan an die türkisch-bulgarische Grenze gelangen soll, muß von dort ja weitertransportiert werden. Wer dieses Geschäft abwickeln darf, darüber wird im kommenden Jahr entschieden. Zwei Konsortien stehen dabei zur Auswahl: Nabucco und die Trans Adriatic Pipeline (TAP), an der übrigens der E.ON-Konzern beteiligt ist. Weil TAP vor allem auf die Belieferung Südeuropas ziele, während Nabucco sowohl West- als auch Südeu­ropa mit Erdgas versorgen könne, habe es bessere Chancen, vermutet EU-Energiekommissar Günther Oettinger.

Allerdings kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß von dem ursprünglichen Vorhaben nicht allzu viel übriggeblieben ist. Anstatt mit der eigenen Pipeline bis fast in die Ressourcengebiete vorzustoßen, geht es nun nur noch darum, das Erdgas an der EU-Außengrenze in Empfang zu nehmen und es innerhalb der EU zu verteilen. Von den stolzen 3900 Kilometern bleiben gerade einmal rund 1300 übrig. Und ob TANAP es wirklich schafft, die angekündigten 31 Milliarden Kubikmeter jährlich zusammenzubekommen, die Brüssel gerne hätte, das bleibt abzuwarten.

Dabei geht nun auch noch der aserbaidschanische Energiekonzern Socar in die Offensive. Socar hat angekündigt, Anteile an demjenigen Konsortium erwerben zu wollen, das in Zukunft das TANAP-Erdgas in die EU weitertransportieren darf. Die Anteile müßten groß genug sein, daß man auch ernsthaft an den Entscheidungen des Konsortiums beteiligt werde, wird Socar-Präsident Rovnag Abdullayev zitiert. Genau das ist in den Konzeptionen Berlins und der EU jedoch überhaupt nicht vorgesehen: Daß kleine, rohstoffbesitzende Staaten wie Aserbaidschan ein Wörtchen bei der Verteilung ihrer Ressourcen mitreden und damit den großen Mächten die Alleinherrschaft streitig machen. Da sind gewiß nicht alle Kämpfe ausgekämpft.

EU-Energiekommissar Günther Oettinger, der Nabucco stets entschlossen gefördert hat, sucht einstweilen das Beste aus der Sache zu machen. »Unser großes Ziel ist die Öffnung des südlichen Korridors«, sagte er im Juni: »Wie das Kind dann letztlich heißt, ist uns egal.« Es gehe schlicht um die Möglichkeit, Erdgas aus dem Kaspischen Becken in die EU zu bekommen. Wenn man sich die Kontrolle nicht unmittelbar sichern könne und mit TANAP zu handeln habe, dann müsse man eben mit verläßlichen Verträgen arbeiten, um sich die Erdgaslieferungen zu sichern. Ungeachtet solcher Schönrednerei: Eine Schlappe ist es für Nabucco und für die EU allemal, daß das Projekt, wenn es denn wirklich zustande kommt, allenfalls im Kleinformat als Nabucco West realisiert werden kann. Berücksichtigt man Konkurrenzprojekte wie South Stream, dann bleibt selbst das noch abzuwarten.

* Jörg Kronauer ist Sozialwissenschaftler, freier Journalist und Redakteur bei german-foreign-policy.com.

Aus: junge Welt, Donnerstag, 12. Juli 2012



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