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Die Politiker sollten mal Kant lesen

Jürgen Todenhöfer über Donezk und Damaskus, das christliche und muslimische Tötungsverbot

Von Karlen Vesper *

Seine Bücher »Wer weint schon um Abdul und Tanaya?«, »Andy und Marwa. Zwei Kinder und der Krieg«, »Warum tötest du, Zaid?« waren Bestseller. Ein solcher ist auch seine jüngste Publikation »Du sollst nicht töten«, die er am heutigen Freitag in Berlin in der Kalkscheune (Johannisstr. 2, 20 Uhr, Eintritt 7 €) vorstellt. Jürgen Todenhöfer gewährte »nd« vorab ein Gespräch.

Auf seiner Homepage hat er zwei Briefe an den Bundespräsidenten veröffentlicht. In dem einen greift er Gaucks Forderung auf, dass Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernehmen solle, auch militärisch. Jürgen Todenhöfer bezweifelt, dass das Staatsoberhaupt weiß, wovon es redet und schlägt ihm einen Besuch im syrischen Aleppo und Homs vor: »Damit Sie einmal persönlich erleben, was Krieg bedeutet.« Oder: »Vier Wochen Patrouillenfahrt mit unseren Soldaten in afghanischen Kampfgebieten. Sie dürfen auch Ihre Kinder oder Enkel schicken.« Im zweiten Brief bezieht er sich auf Gaucks jüngste Rede in der Türkei und wünscht sich eine solche von ihm in den USA, und zwar über »die Ausspähung engster Freunde – einschließlich Angela Merkel – durch die NSA, über Hunderttausende getöteter Zivilisten im rechtswidrigen Irakkrieg und im sinnlosen Afghanistankrieg, über Folter in Guantanamo, Abu Ghraib und Bagram sowie über geheime US-Foltergefängnisse auf der ganzen Welt, über willkürliche Verhaftungen ohne richterliche Genehmigung« und andere drastische Einschränkungen der Bürgerrechte«.

Todenhöfer passt in keine Schublade. Der 1940 in Offenburg geborene langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete (bis 1990) scheint eine erstaunliche Wendung vollzogen zu haben. Unterstützte er noch vor über 25 Jahren den von den USA geförderten Guerillakrieg gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, so ist er heute einer der entschiedensten Kritiker der US-Kriege in Afghanistan und Irak. Im »nd«-Gespräch äußert er sich auch zum aktuellen Ukraine-Konflikt.

Um zu verhindern, dass sich der dortige Krieg ausweitet, empfiehlt To-denhöfer »ein Gipfelgespräch, an dem die führenden Staatsmänner aus West und Ost, also auch Obama und Putin, teilnehmen« und das eine »Neuordnung des Verhältnisses des Westens zu Russland« bringen muss. Ihm schwebt ein Drei-Punkte-Plan vor: »Erstens sollte die bei der deutschen Wiedervereinigung Gorbatschow mündlich gegebene Zusage, die NATO werde sich nicht ostwärts bewegen, zumindest für die Zukunft vertraglich fixiert werden.« Mittlerweile seien zwölf frühere Warschauer-Pakt-Staaten in die NATO aufgenommen. Auch der geplante Raketenabwehrschirm »vor der Nase Russlands« beunruhige Moskau, denn er unterlaufe die russische Abschreckungsfähigkeit. »Diese Sorge muss man ernstnehmen, so lange es die irrsinnige Strategie der gegenseitigen nuklearen Abschreckung gibt.«

Da, zweitens, auch die Sorge des Westens, dass jetzt Grenzen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden, »wenn auch nicht immer gerecht«, in Frage gestellt werden, berechtigt sei, sollte ein Gipfeltreffen die Unverletzbarkeit aller Grenzen in Osteuropa und den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Nachbarstaaten Russlands bekräftigen. Für Todenhöfer ist »die Einverleibung der Krim« rechtswidrig. Aber: »Auch die derzeitige Regierung in Kiew ist klar rechtswidrig.« Der Publizist beklagt die einseitige Berichterstattung in westlichen Medien. Er wundere sich, dass das Massaker in Odessa, als 46 prorussische Ukrainer im Gewerkschaftshaus bei lebendigem Leib von ukrainischen Nationalisten verbrannt wurden, kaum Empörung findet.

Man müsse sich um eine langfristige Lösung bemühen, sagt Todenhöfer. »Bei einem Blick auf die Landkarte ist unschwer die Schicksalsgemeinschaft Russland-Europa zu erkennen. Alle europäischen Politiker, die das übersehen haben, sind krachend gescheitert. Von Napoleon bis Hitler.« Als drittes fordert er daher, »dass Russland und die EU zumindest ein Freihandelsabkommen abschließen und sich gegenseitig bindende Sicherheitsgarantien geben. So wie Bismarck neben allen Bündnissen und Abkommen in Mitteleuropa die sogenannten Rückversicherungsverträge mit Russland als überragend wichtig ansah.« Todenhöfer betont, sein Drei-Punkte-Vorschlag basiere »auf der festen Verankerung Deutschlands im transatlantischen Bündnis, mit dem Deutschland bisher gut gefahren ist. Wir sollten diese Partnerschaft nicht ersetzen, sondern durch eine strategische Partnerschaft mit Russland ergänzen.«

Russland sei eines der reichsten Länder der Welt. »Eine Freihandelszone zwischen Russland und der EU wäre gut für den Wohlstand der Russen, der Deutschen und der Europäer.« Des Weiteren gibt Todenhöfer zu bedenken: »Wenn wir Russland nicht immer ausschließen würden, müsste Putin nicht ständig unterstreichen, wie mächtig er ist.« Ohne Einkreisungssorgen könnte er auch viel lockerer gegenüber den Nachbarstaaten, aber auch gegenüber Westeuropa und den USA auftreten.

Die USA hätten Sicherheitsinteressen Russlands wie auch der Stolz der Russen nie interessiert, beklagt Todenhöfer. »Wenn Obama sagt, Russland sei nur eine Regionalmacht, bringt er natürlich nicht nur Putin, einen Mann, für den Prestige wichtig ist, gegen sich auf, sondern verletzt auch das russische Volk. Das sind unnötige Provokationen.«

Dialog war und bleibt für Todenhöfer die einzige Möglichkeit der Konfliktlösung. Er erinnert sich: »Mich wollten die Sowjets 1980 noch ›auspeitschen und dann erschießen‹, weil ich aus Afghanistan über den Kampf der Mudschaheddin gegen die sowjetische Invasion berichtete. Samjatin, Breschnews Sprecher, kündigte das öffentlich auf einem deutsch-sowjetischen Empfang an. Später habe ich in Moskau vorzügliche Gespräche mit führenden Sowjets geführt und war zum Mittagessen beim Chef des Generalstabs der sowjetischen Streitkräfte Achromejew. Ich habe meinen Gesprächspartnern zugehört und sie haben auch mir ein bisschen zugehört.«

Es müssten in auswegslosen Krisen- oder Kriegssituationen alle Kontrahenten respektive Kombattanten an einen Tisch, rät Todenhöfer, der u. a. im Iran-Konflikt zu vermitteln versuchte und 2010 bei einem Treffen mit dem Chefkoordinator der US-Geheimdienste Blair »versehentlich« ein Friedensangebot Teherans an Washington hinterließ. Im »nd«-Gespräch bedauert er: »Es war unklug, dass man nach der Zerschlagung des Talibanregimes nicht alle Gruppen, also auch die Taliban, zu den Friedensverhandlungen auf den Petersberg bei Bonn eingeladen hat. Also blieben die Taliban im Widerstand und konnten wieder erstarken. Man wird jetzt selbstverständlich mit den Taliban verhandeln müssen, die übrigens nicht alle so radikal sind wie die pakistanischen Taliban.« In Syrien sprach Todenhöfer nicht nur mit Assad, sondern viel mehr mit Rebellen, Kämpfern der Freien Syrischen Armee sowie Vertretern diverser gesellschaftlicher Gruppen. Den syrischen Krieg nennt er eine große Tragödie. Und Irak »ein zerbrochenes Land. Zerbrochen durch verantwortungslose Politiker.« Es sei eine unglaubliche Torheit der USA gewesen, die irakische Armee und die Baath-Partei aufzulösen, in der sich fast die gesamte Elite befand, sowie den Beamtenapparat zu zerschlagen.

Todenhöfer ist überzeugt: »Es gibt keine anständigen Kriege.« Und: »Es gibt keine humanitären Bomben.« Er wünscht sich, die Politiker würden mal wieder Kants Schrift »Zum Ewigen Frieden« lesen. Für sein jüngstes Buch wählte der Christdemokrat das Fünfte Gebot »Du sollst nicht töten«, dessen Adäquat sich in Sure 5, Vers 32 des Korans findet: »Wenn du einen Menschen tötest, so ist es, als hättest du die ganze Welt getötet.« Abschließend warnte Todenhöfer im »nd«-Gespräch: »Wir sehen immer nur den Splitter im Auge der Anderen. Den Balken in unseren Augen sehen wir nicht.«

Jürgen Todenhöfer: Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden. C. Bertelsmann, München. 448 S., geb., 19,99 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag 16. Mai 2014


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