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Abrüstung statt Sozialabbau

Plädoyer für ein ziviles Konversionsprogramm

Von Anne Rieger*

"Freiheit wagen - Fesseln sprengen"


Während die einen gegen Hartz IV und die Agenda 2010 demonstrieren, mobilisieren die anderen gegen die Militarisierung der Europäischen Union und die Aufrüstungsverpflichtung, wie sie in der EU-Verfassung festgeschrieben wird. Einen Zusammenhang zwischen den Zielen der Montagsdemonstranten und der Friedensbewegung sehen nur wenige, andere leugnen ihn. Ganz anders die Vertreter der Industrie. Ungeniert und offen benennt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in seinem Gesamtreformkonzept "Für ein attraktives Deutschland - Freiheit wagen - Fesseln sprengen" den Zusammenhang zwischen den Zahlungen für die Aufrüstung einerseits und den Streichungen im Sozialbereich andererseits: "Um insbesondere die staatlichen Investitionen für Verkehr, für die Zukunftsaufgaben in Bildung und Forschung und für Verteidigung deutlich zu steigern, müssen die konsumtiven Ausgaben des Staates drastisch reduziert werden. Das betrifft neben den Sozialausgaben und den Subventionen auch die Personalausgaben des Staates." (S. 22, am 4. Februar 2004 an Bundeskanzler Schröder überreicht).

Auch die Regierenden sehen Zusammenhänge. Die Agenda 2010 ist den meisten von uns als Ankündigung für den massivsten, schnellsten und brutalsten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik bekannt. Weniger bekannt ist, dass in dieser legendären Regierungserklärung vom 14.März 2003, Bundeskanzler Schröder gleichzeitig den Zusammenhang dieser grausamen Innenpolitik mit der militarisierten Außenpolitik der Regierung erläuterte: "Um unserer deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht werden zu können, müssen wir zum Wandel im Innern bereit sein." Worthülsen verschlüsselten den Inhalt. Der 'Wandel im Innern' bedeutet für uns u.a. Eintrittsgeld beim Arzt, verschärfte Zuzahlungen bei Medikamenten, Krankenhausaufenthalten und Rehabilitationen, Hatz I - IV, Rentenkürzung. Mit so bezahlter Aufrüstung der neuen Interventionsarmee wird der "deutschen Verantwortung" am Hindukusch und in Afrika Nachdruck verliehen - tausende Kilometer von unseren Grenzen entfernt. DemonstrantInnen formulierten den Zusammenhang griffiger: "Bewaffnet bis an die Zähne, aber kein Geld für Zahnersatz", hieß es auf einem Transparent am 1. November 2003 in Berlin.

Januar-Alg II für Auslandseinsätze?

Beispiele dafür, dass Geld fürs Militär vorhanden ist und gleichzeitig Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen werden, gibt es zuhauf. Während die Bundesregierung uns in die private Riester-Rente zwingt, weil angeblich kein Geld da sei, stellt sie für Rüstungsgüter und Auslandeinsätze Steuergelder in zunehmenden Maße zur Verfügung. So wird sie sich nach einer Meldung der Financial Times Deutschland vom 22.10.04 mit 1,14 Mrd. Euro an der Entwicklung des neuen Luftverteidigungssystems 'Medium Extended Air Defense System'" beteiligen. Dem Rüstungsprojekt stimmten die Berichterstatter aller Bundestagfraktionen zu. Vorstellbar sei, dass die Bundeswehr zwischen 12 und 24 Systemen bestelle. Was Bau und Betreibung kosten wird, darüber schwieg die Zeitung. Erst zwei Wochen zuvor, hatten die Parlamentarier ein Gesetz verabschiedet, demzufolge Leistungen wie Zahnersatz und Krankengeld in Zukunft zusätzlich allein von den ArbeitnehmerInnen mit 0,9 Prozent versichert werden müssen.

Erinnert sei daran, dass Arbeitslose, die Arbeitslosengeld (ALG) II beziehen müssen, allein im Januar 2005 1,8 Mrd. Euro zum Staatssäckel beitragen sollten. Bundesminister Clement wollte ihnen einen Monat lang keine Leistungen auszahlen. Exakt die gleiche Summe kosten die Auslandseinsätze der ca. 7000 BundeswehrsoldatInnen in Afrika, Asien und Europa pro Jahr. Vor 10 Jahren waren es noch 131 Mio Euro, ein Zehntel der heutigen Summe. Würde die Bundeswehr im Inland bleiben, wie es der Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes vorsieht, hätten nicht durch Montagsdemos die sowieso kärglichen Monatsbezüge von 345 Euro pro Arbeitslosen erstritten werden müssen.

2003 gab die Bundesregierung für 2,2 Mio. Arbeitslosenhilfe-EmpfängerInnen 17,6 Mrd. Euro aus. Im Jahr 2005 wird sie den Betrag für eine Mio. Alg II EmpfängerInnen mehr, auf 13 Mrd. Euro kürzen. Dadurch wird die Zahl der von Armut betroffenen Kinder von 1 auf 1,5 Mio. steigen, gibt das Deutsche Kinderhilfswerk bekannt. Der Rüstungshaushalt dagegen bleibt unangetastet. Während nach wie vor für die Bundeswehr und deren Ausrüstung Milliardenbeträge ausgegeben werden - im Bundeswehrplan 1997 ist der Kauf von 213 Waffensystemen und Ausrüstungen für insgesamt 113 Milliarden Euro vorgesehen - kürzt die Bundesregierung ständig im Sozialbereich. Allein durch die Gesundheitsreform wird den Beschäftigten eine zusätzliche jährliche Belastung aufgebürdet, die beinahe im zweistelligem Milliardenbereich liegt.

Trotz Standortschließungen im Inland - keine Kürzung des Wehretats

Überall sollen wir den Gürtel enger schnallen. Gleichzeitig werden ständig neue Rüstungsprojekte für die Auslandseinsätze aufgelegt. So müssten die 60 Kriegstruppentransporter Airbus A400M für 8,3 Mrd. Euro und die 180 Eurofighter für 25 Mrd. Euro für eine reine Verteidigungsarmee nicht beschafft werden. Der aktuelle Rüstungsetat beläuft sich auf etwa 24 Mrd. Euro. Er wird 2005 sogar leicht angehoben und ab dem Jahr 2007 jährlich um 800 Mio € erhöht, obwohl die Zahl der SoldatInnen, Zivilbeschäftigten und innerdeutschen Standorte der Bundeswehr reduziert und acht Bundeswehrkliniken geschlossen werden. Ihr eigenes Satelliten-Aufklärungs-System "SAR-Lupe" dagegen, lässt sich die Bundeswehr für Entwicklung und Bau 300 Mio. € kosten. Erst im Juli 2004 wurde die Bodenstation zur Kontrolle der Satelliten und zur Auswertung ihrer Bilder in Gelsdorf bei Bonn in Betrieb genommen.

In der veröffentlichten Diskussion wird verschwiegen, dass in weiteren Bundes-Etats zusätzliche 24 Prozent der Militärausgaben versteckt sind. Nach offiziellen NATO-Kriterien belaufen sich die Militärausgaben der Bundesrepublik Deutschland auf 31 Mrd. Euro jährlich. Struck darf sogar als einziger Minister das Geld für alle seine Verkäufe von Grundstücken und Kriegesgerät, Vermietungen und Verpachtungen, behalten, das sind etwa weitere 600 Mio Euro für Rüstungsgüter, die im offiziellen Wehretat nicht erscheinen.

Sozialer Rechtsstaat

Obwohl im geltenden Grundgesetz in den Artikel 20 und 28 festgeschrieben ist, dass Deutschland ein "sozialer Rechtsstaat" ist, ist der Bundesregierung der Rüstungsbereich mehr ans Herz gewachsen als Bildung und soziale Sicherheit. Würden entsprechend den Forderungen der Pisa Studie in unseren Schulen die Klassenstärken auf ein Niveau gesenkt, wie es in Finnland oder Kuba üblich ist, müssten zusätzlich 230.000 Lehrer und Sozialarbeiter eingestellt werden. Das entspricht in etwa der geplanten Personalstärke der Bundeswehr.

Bereits im kommenden Jahr werden die militärischen Beschaffungen der Bundeswehr um 5,2 Prozent erhöht. In der neuen Europäischen Verfassung wird festgeschrieben: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Artikel I-41 (3)). Diese verfassungsmäßig festgelegte Aufrüstungsverpflichtung der National-Staaten muss finanziert werden, offensichtlich aber nicht von den Reichen und Superreichen, denn Vermögende und Konzerne zahlen immer weniger Steuern. Bis 1999 galt ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent, heute liegt er bei 45 Prozent, im kommenden Jahr wird er auf 42 Prozent abgesenkt. Auch der absolute Rückgang der Steuereinnahmen 2002 um fast 48 Mrd. Euro gegenüber 2000 ist komplett auf den Verminderung der Unternehmens- und Gewinnsteuern zurückzuführen.

Steigende Umsatzsteuern werden für Aufrüstung, nicht aber für notwendige soziale Leistungen verwendet. Die Gewerkschaften hatten mehrfach gefordert, die Steuerfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu erhöhen, um die Verschuldung der GKV zu verhindern. Eichel lehnte ab. Im Gegenzug erhöhte er nur einen Tag später Versicherungs- und Tabaksteuer, kaufte für einen Teil des Geldes Spezialausrüstungen für die Bundeswehr und stellte anschließend diese Summe dauerhaft in den Militärhaushalt ein - so geschehen im September 2001. "Zwei Eurofighter, die man nicht beschafft, würden ausreichen, um die Haushaltslöcher einer großen Stadt wie Rostock zu füllen", zeigt auch Prof. Dr. Wolfgang Methling, Umweltminister in Mecklenburg - Vorpommern die finanziellen Zusammenhänge drastisch auf. Man kann es auch anders rechnen: Die Kosten eines einzigen Eurofighters entsprechen 20.000 Hüftgelenken.

Warum wird das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes nicht erfüllt? Warum wird ab 2005 die Rentenbesteuerung jährlich um jeweils 2 Prozent erhöht, während ab 2007 der offiziell ausgewiesene Militärhaushalt erhöht werden wird? Angeblich sei kein Geld für da. Die Beispiele zeigen, dass fürs Militär Geld genug da ist.

Auch das innerhalb von 10 Jahren gestiegenen Bruttoinlandsprodukt um 560 Mrd. Euro auf 2.063 Mrd. Euro jährlich und unsere erneute Weltmeisterschaft im Export zeigen deutlich auf, dass Deutschland keineswegs ein armes Land ist und durchaus in der Lage, die notwendigen Sozialleistungen aus seinem Bruttoinlandprodukt zu finanzieren. Zumal die Sozialleistungsquote seit ca. 30 Jahren - trotz Übernahme der DDR - etwa konstant bei ca. 31 Prozent liegt. Wo liegen also die Ursachen?

"Putsch von ganz oben"

Wir müssen uns darüber klar werden, das es sich beim Sozialabbau nicht allein um Alg II oder die Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge geht. Die Umsetzung der Agenda 2010 ist kein sozialpolitische Waffenstillstand. Schröder nannte die Vereinbarung im vergangenen Dezember im Vermittlungsausschuss eine "Zwischenstation" (Süddeutsche Zeitung, 16.12.03), Arbeitgeberpräsident Hundt nur "erste Schritte" ... der "Anfang für weitere Reformen" (Manager Magazin, 16.12.03). Die Dimension des Angriffs ist erheblich weitergehender. Es geht um einen grundlegenden Angriff auf das System der sozialen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, einen "Putsch von ganz oben", wie Stern Redakteur Arno Luik am 21.10.04 schrieb.

Das Gesicht des Kapitalismus hat sich seit 1990 gewandelt in einen reinen Shareholder Kapitalismus. Internationale Großbanken, Versicherungen, Fond-Gesellschaften und Konzerne, denen es ausschließlich um kurzfristige Erhöhung des Anlagewerts bzw. Profits geht, haben eine beherrschende und treibende Rolle. Die Globalisierung der Finanzmärkte schafft weltumspannende Finanzinstitute und gigantische Mega-Konzerne, die zu einen weltweiten Konzentrations- und Zentralisationsprozess und einen gnadenlosen Konkurrenzkampf insbesondere europäische und US-amerikanischer Konzerne führt. In diesem brutal geführten Standortwettkampf setzen sich die reichen Länder wechselseitig und noch mehr die "übrige Welt" unter Druck, um den eigenen Konzernen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und die Konkurrenten in die Verlustzone zu treiben

Im diesem Konkurrenzkampf sind Europa und die USA gleichermaßen darauf angewiesen, Rohstoffe zu kontrollieren, Märkte offen zu halten und profitable Anlagemöglichkeiten für ihre Finanzkapitalien zu sichern. Dabei bedienen sie sich graduell unterschiedlicher Strategien, die sich aus unterschiedlichen ökonomische und historischen Bedingungen erklären lassen. Obwohl die ausländischen Direktinvestitionen in den letzten Jahren insgesamt zurückgegangen sind, war es den Unternehmen der EU gelungen, jahrelang ihren Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen deutlich steigern zu können - während der Anteil der US-Konzerne im gleichen Zeitraum dramatisch gesunken war. Heute hat der Dollar als Weltwährung und Machtfaktor mit dem Euro echte Konkurrenz bekommen und gründet sich zudem auf einen einmalig hohen Schuldenberg.

Gnadenloser Standortwettkampf

Die USA versuchen ihre Dominanz in der Runde der feindlichen Brüder zu behalten, indem sie ihre Militärmacht (400 Mrd. US $ in 2004) einsetzen. Es ging nicht allein ums Öl im Krieg gegen die irakischen Menschen, nicht um Bin Laden in Afghanistan, sondern um die politisch-ökonomische Kontrolle eines Raumes, der weit über den Irak und Afghanistan hinausgeht und von zentraler Bedeutung für die Konflikte der Zukunft sein wird, nämlich für die Konkurrenz mit China und einem sich irgendwann auch wieder erholenden Russland. Es geht um den Ausbau einer geostrategischen Machtposition. Die Strategen in Washington denken und reden schon lange von noch größerer Beute. Dazu gehören die arabischen Staaten, Iran, die Türkei und alle anderen, die heute ungehorsam sind oder in Zukunft sein könnten. Sie alle sollen "befreit" und auf den rechten Weg gebracht werden. Darin sind sich Bush und Kerry einig. Nur in der konkreten Umsetzungsstrategie und dem Grad der Einbindung der Verbündeten gibt es Differenzen zwischen ihnen.

Und Europa? Während 56 Millionen Bürger der EU von Armut bedroht sind, die Sozialsysteme in allen Ländern der EU geschleift werden, wird auch bei uns weiter auf Waffen gebaut, werden 60 Prozent der Verteidigungsausgaben des USA (Anke Ludwig: Rüstungskooperation eine transatlantische Aufgabe, Konrad Adenauer-Stiftung, 2.7.04) fürs Militär ausgegeben. In unserem Interesse sind weder die nächsten US-Kriege, noch die Absicht, die Armeen der EU weiter aufzurüsten und das auch noch über eine EU-Agentur organisieren und kontrollieren zu lassen, wie in der EU-Verfassung festgeschrieben ist: "Es wird eine Agentur für die Bereiche Entwicklung und Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet ... " (EU-Verfassungs Artikel I-41(3)).

Aber Europa und dabei - in Vorreiterrolle - Deutschland, oder besser gesagt seine Konzerne, sichern ihre Dominanz nicht nur durch politisch-militärische Macht. Sie kämpfen - wie es Karls Marx formuliert hat "mit der schweren Artillerie der billigen Warenpreise". "Anders als noch in Zeiten der Systemkonkurrenz, also bis 1990, muss der Kapitalismus jetzt nicht mehr beweisen, dass er sozial, human und gerecht sein kann" (Luik, a.a.o.). Zweifellos ist diese Weltmarktstrategie weniger brutal, als die Bedrohung der Welt durch Krieg. Friedlich ist sie trotzdem nicht; sie wirkt sogar als eine ausgesprochen aggressive Strategie, die Millionen Menschen in aller Welt die Aussicht auf ein besseres Leben raubt und Verelendung vorantreibt. Auch diese Art den Konkurrenzkampf zu führen fordert unschuldige Opfer - nicht nur in den armen Ländern, sondern zunehmend auch hier. "Jetzt darf ein Spitzenmanager - ohne einen Aufschrei auszulösen - sagen: 'Menschen? Das sind Kosten auf zwei Beinen'" (Luik a.a.o).

Bei allen Unterschieden werden sowohl von den Mächtigen in den USA, als auch von den Mächtigen in Deutschland aggressive Strategien vorangetrieben, die beim Kampf um den Rest der Welt im Innern die Ausbeutung verschärft, Instabilität produziert und menschliche Existenzen gefährdet und vernichtet. Da wird natürlich auch gegen die diejenigen Front und Politik gemacht, die dabei organisiert stören können, die Gewerkschaften. Und so nimmt es nicht wunder, dass Michael Rogowski, zu diesem Zeitpunkt Präsident des BDI fordert: "Man müsste Lagerfeuer machen und erst mal die ganzen Tarifverträge verbrennen".

Politisch-strategische Funktion der wehrtechnischen Industrie

Die Bandagen sind hart, unter denen auf dem Weltmarkt um ökonomische Wettbewerbsvorteile gekämpft wird. Aber die "Zurichtung des nationalen Standortes" (Freerk Huisken, Bremen, 3.9.04) ist das eine. "Die Standorterfolge auf dem Weltmarkt abzusichern, ist jedoch etwas anderes". Um auf dieser "äußeren Kampffront" zu den Gewinnern zu gehören, "will man in Sachen militärischer Wucht schon irgendwann einmal mit den USA gleich ziehen können" (ebenda). Und das kostet Geld. Da passt es ins Bild, wenn bei der Eröffnung der Hannover Messe am 6. April vergangenen Jahres Bundeskanzler Gerhard Schröder vor der versammelten Industrieelite verkündete: "Die angekündigte Schritte für einen Umbau der Sozialsysteme sind gerade vor dem Hintergrund des Irak-Krieges und der dadurch verstärkten weltwirtschaftlichen Unsicherheit unerlässlich".

Schon im Jahr 2000 reklamierte Ludolf von Wartenberg, BDI, in Soldat und Technik 6/2000: "Wer nur die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen wehrtechnischen Industrie im Auge hat, übersieht diese politisch-strategische Funktion. Deutsche Mitsprache bei der Gestaltung des Außen- und Sicherheitspolitik in der EU und der Sicherheitspolitik des Bündnisses wie deutsche Mitsprache im Rahmen der europäischen und transatlantischen Rüstungszusammenarbeit setzen voraus, dass Deutschland auch Rüstungsfähigkeiten einbringen kann."

Seidenstraße aktivieren - gegen die US-Konkurrenz in Fernost

Wozu? Um "Deutschland am Hindukusch zu verteidigen", wie der Minister fürs Militärische nicht müde wird, in der Öffentlichkeit immer wieder zu wiederholen. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Bemühungen, die legendäre Seidenstraße wieder zum neuen Handelsweg zu erwecken, bekommt die Äußerung Strucks im transatlantischen Konkurrenzkampf eine neue Dimension. Unter großem medialen Getöse hatte im vergangenen Jahr Daimler Chrysler "mit einem der größten Projekte der Konzerngeschichte" die Landroute von Europa nach Asien mit einem Lastwagen - Tross aus 14 Actros-Sattelschleppern und zehn Begleitfahrzeugen wiederbelebt (Die Welt, 19.11.2003). Anfang Oktober diesen Jahres fand in Hanoi das "Asia-Europe Meeting" (ASME) als informelles Dialogforum von 26 Partnern statt. Teilnehmer waren die 15 EU-Staaten, die EU-Kommission, die Asean-Staaten, sowie China, Südkorea und Japan. U.a. wurde auf dem seit 1996 regelmäßig tagenden Forum vorgeschlagen, eine Studie über die Integration des transasiatischen Eisenbahnnetzes und dessen mögliche Anbindung an das transeuropäische Schienennetz in Auftrag zu geben. Zu den verschiedenen Bemühungen die Seidenstraße als Handelsweg weder zu aktivieren, schreibt das Hamburger Abendblatt: "Europa fördert das gewaltige Projekt aus gutem Grund: Je breiter der Weg nach China, desto besser die Chancen gegen die US-Konkurrenz in Fernost."

Unter diesem Blickwinkel liegen die Verteidigungspolitischen Richtlinien völlig im Interesse von Industrie und Wirtschaft, dort heisst es, "Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen- und mitteln zusätzlich verwundbar ... . Krisen, die Europa berühren, muss die EU mit einer breiten Palette ziviler und militärischer Fähigkeiten begegnen können. ... Der Erhalt und die Verbesserung der militärischen Kernfähigkeiten hat Vorrang". Und so schlussfolgert der BDI: "Demzufolge ist die Transformation der Bundeswehr von einer klassischen Verteidigungsarmee hin zu hochmobilen Krisen-Interventionskräften zwingend erforderlich." (Freiheit wagen, Fesseln sprengen, 2004). Dazu soll der "Verteidigungshaushalt erhöht" werden und "der für Forschung und Beschaffung relevante Investitionsanteil mittelfristig auf über 40 Prozent" gesteigert werden.(ebenda). Im Gegenzug sollen die Sozial- und Personalausgaben des Staates nach Meinung des BDI drastisch reduziert werden (siehe oben).

Die "Agenda 2010" ist der Beginn einer neue Runde der ökonomischen Aufrüstung im Standortwettkampf - die Auf- und Umrüstung der Bundeswehr, der Aufbau und Einsatz der Europäischen Armee außerhalb der EU-Länder, ist die Vorbereitung dazu, diesen Standortwettbewerb - wo nötig - militärisch zu flankieren und abzusichern.

Konversion - Schwester der Abrüstung

Man muss sich darüber im klaren sein, dass die Abrüstung nicht unmittelbar zu Einsparungen führt. Denn es gibt eine gigantische Anzahl von Soldaten und Soldatinnen, von zivilen Angestellten bei der Bundeswehr und hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in der Rüstungsproduktion tätig sind. Auch für die Zulieferer und die Gewerbetreibenden, die von der Bundeswehr und Rüstungsfirmen mit ihre Arbeitsplätze abhängen, müssen neue Arbeitsplätze geschaffen werden, die erst einmal Geld kosten.

Hier von jetzt auf gleich ohne Alternativen den Hahn abzudrehen, würde für die Betroffenen zu massiven Verwerfungen führen. Das hieße auch die Binnennachfrage weiter zu schwächen. Deswegen brauchen wir ein umfassendes nachhaltiges Rüstungs- und Standortkonversionsprogramm, das auf mehrere Jahre angelegt ist. Es muss sicherstellen, dass die bisher im Militär- und Bundeswehrbereich Tätigen nicht in die Arbeitslosigkeit gestürzt werden, dass die im militärischen Sektor erworbenen Kompetenzen für zivile Zwecke nutzbar gemacht werden, und dass die durch Abrüstung frei werdenden Mittel für andere öffentliche Investitionen genutzt werden.

Die Gewerkschaften fordern zur Belebung der öffentlichen Infrastruktur ein 20 Mrd. Investitionsprogramm. Finanziert werden könnte es durch die Erhebung einer Vermögenssteuer von 1 Prozent auf Vermögen von über 500 000 Euro aber auch durch die schrittweise Kürzung von Geldern für Militärgüter der neuen weltweiten Interventionsarmee. Eine solche Politik würde zu mehr gesellschaftlicher Wohlfahrt führen; denn wenn die Ressourcen nicht mehr in die Rüstung und Militärtechnik gesteckt werden, dann werden zusätzliche Werte für die Menschen geschaffen, die auch gesellschaftlich genutzt werden, wie z.B. Umweltschutz, Öffentlicher Nahverkehr, Bildung und Kinderbetreuung, Schulen, Krankenhausbetten, Infrastrukturen für Tourismus und vieles mehr. Dies ist bei Rüstungsgütern gerade nicht der Fall, hier können wir von Glück reden, wenn sie nicht genutzt wen. Hinzu kommt zum anderen, dass im zivilen Bereich investierte Mittel zu mehr Arbeitsplätzen führen als in der Rüstungsindustrie.

Denn es ist leider immer noch so: Kaum etwas ist derzeit so profitabel, wie der Rüstungsproduktion. Prof. Bontrup weist nach, dass die Preisbildung, als eine Art Vehikel-Funktion bei der Realisierung von überproportional hohen Rüstungsprofiten verantwortlich zeichnet. Die sogenannten Selbstkostenpreise garantieren den Rüstungsanbietern, das sie ihre vorkalkulierten bzw. tatsächlich entstandenen Kosten vom Staat, aufgrund einer Nachfrageverpflichtung der produzierten Rüstungsgüter, einschließlich eines Profitaufschlages auf die Kosten erstattet bekommen (Bontrup, Preisbildung bei Rüstungsgütern, 1986). Außerdem sehen sich die staatlichen "Kunden" in strategischen Sektoren nur einem Lieferanten gegenüber, was zu hohen Preisen führt. Auch die Stückkosten steigen, weil der militärische Verlust auf ein Mindestmaß beschränkt werden soll - es also nicht zur Massenproduktion kommt. Dieser friedenspolitische Vorteil in diesem Mordsgeschäft ist ökonomisch gesehen für den Staat eben ein Nachteil.

Diese Profite finden sich folglich nicht in den Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder. Sie können den Konsum und die Nachfrage nicht beleben. Hingegen wäre die Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt auch ökonomisch sinnvoll, weil die Nachfrage angekurbelt und dadurch die Konjunktur belebt wird. Wäre es also nicht vernünftiger, sozialer, umweltfreundlicher, beschäftigungswirksamer statt eines neuen militärischen Transportflugzeuges beispielsweise 570 Berufsschulen zu bauen? Statt 180 Eurofighter 250 000 Sozialwohnungen?

Berufe der Beschäftigten

Heute ist über all in der Wirtschaft lebenslanges Lernen angesagt. 2-3 mal im Leben muss heute jeder einen neuen Beruf erlernen, lassen uns die Industriebosse ständig wissen. Wäre es da nicht sinnvoll
  • für einen Ingenieur, der Eurofighter konstruiert, umzulernen und z.B. ein hochqualifizierter Ausbildungsingenieur an einem Berufschulzentrum oder im Umweltschutz zu werden?
  • für einen Piloten eines militärischen Transportflugzeuges komplizierte Aufträge in einem besser ausgestatteten Technischen Hilfswerk zu übernehmen oder auch etwas ganz anderes zu machen, z .B als hochqualifizierter Architekt gut durchdachte Sozialwohnungen zu entwerfen und bauen
  • oder kann ein Koch auf einem Kriegsschiff nicht Koch in einem Kindergarten werden und dabei neueste ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse für die Nahrung unserer Kinder berücksichtigen? Die Industrie sucht ständig hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Warum sie nicht aus der Rüstungsindustrie nehmen?
Freilich, das Umlernen kostet Geld - aber Geld ist genug da! Geben wir es für Konversionsprogramme statt für Hochrüstung aus. Dies ist kein Selbstläufer. Konversion ist kein plötzlicher Schritt, kein Schritt von heute auf Morgen sondern es bedarf eines nachhaltigen, langfristigen Umbau-Programms, das staatlich unterstütz wird. Schritte könnten sein:

Entlassung von Soldaten altershalber aus der Armee und keine Widerbesetzung dieser Soldaten- und Offiziersstellen. Jedes Jahr verlassen 20 000 die Bundeswehr. Umschulung und Weiterbildung in Bereiche wie z.B. Spitzentechnologien in Umwelttechniken und Erneuerbare Energien, Müllvermeidung und -verwertung. Biomasse - Heizanlagen erweisen sich für finanzschwache öffentliche Haushalte als zu teuer, der Anteil der Solar- und Windenergie an der Energieproduktion kann die drohenden Ölkrise nicht auffangen. Weitsichtige Bundespolitik würde schon jetzt, um sich an der Sicherung der Energie nicht mir Waffengewalt zu beteiligen, in jede Hochtechnologie investieren, die Energie sparen hilft und sie bezahlbar machen.

Anne Rieger ist Gewerkschaftssekretärin bei der IG Metall, Waiblingen; Landessprecherin der VVN-BdA; Sprecherin des Bundesausschusses Friedensratschlag

Der Beitrag erschien in: ZivilCourage (Zeitschrift der DFG-VK), Dezember 2004



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