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Deutsche Rüstungsindustrie - Überschätzter Wirtschaftsfaktor?

Ein Beitrag von Otfried Nassauer aus der NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Die deutsche Rüstungsindustrie ist in der Defensive. Die Bundeswehr bestellt immer weniger Waffensysteme, zugleich kann nicht beliebig ins Ausland verkauft werden, weil Deutschland eine restriktive Rüstungsexportpolitik verfolgt. Trotzdem verdienen die meisten Unternehmen gar nicht so schlecht. Deutsche Rüstungsgüter sind in der Welt begehrt. Deutlich wird das durch die regelmäßigen Anfragen nach deutschem Kriegsgerät wie beispielsweise dem Kampfpanzer Leopard 2. Jahrelang beklagte die Rüstungsbranche einen anhaltenden Schrumpfungsprozess. Jetzt hat sie sich zu einem Kurswechsel entschlossen. Die Rüstungsindustrie stellt inzwischen den wirtschaftlichen Beitrag heraus, den sie für die deutsche Volkswirtschaft leistet. Eine in Auftrag gegebene Studie soll diese neue Bedeutung untermauern. Otfried Nassauer hat sich das Papier genauer angesehen:


Manuskript Otfried Nassauer

Der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie – kurz BDSV – will der wehrtechnischen Industrie in Deutschland wieder eine gewichtige Stimme geben. 2009 gegründet, gehören dem Verband mittlerweile rund 80 Unternehmen an. Von A wie Atlas Elektronik bis Z wie die Zahnradfabrik Friedrichshafen. Großkonzerne wie EADS und Daimler Benz ebenso wie Mittelständler. Mit Georg Wilhelm Adamowitsch hat sich der Verband einen gut vernetzten Sozialdemokraten und ehemaligen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium als Hauptgeschäftsführer geholt.

Die Rüstungsindustrie in Deutschland schrumpft seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Zahl der Beschäftigten ist massiv zurückgegangen. Die Nachfrage seitens der Bundeswehr stagniert. Besserung ist nicht in Sicht, weil auch die wiederholten Reformen der Streitkräfte nicht genug Geld für wesentliche neue Investitionen freigesetzt haben. Noch immer ist der Verteidigungshaushalt durch Großprojekte blockiert, die bereits zu Zeiten des Kalten Krieges begonnen wurden. Beispiele sind der Eurofighter oder der Kampfhubschrauber Tiger. Die Produktionskapazitäten der Industrie werden inzwischen immer stärker durch Rüstungsexportgeschäfte ausgelastet. Bei vielen Firmen werden 70 bis 80 Prozent des Umsatzes durch Exporte erwirtschaftet. Der regelmäßige Ruf, Wettbewerbsnachteile für die deutsche Industrie zu beseitigen und Rüstungsexporte endlich freigiebiger zu handhaben, wirkt vor diesem Hintergrund weder glaubwürdig noch kommt er in der Öffentlichkeit gut an. Kein Wunder, wenn bereits drei Viertel oder vier Fünftel der Produktion in den Export gehen. Kommt die Bundesregierung den Bedürfnissen der Rüstungsindustrie weiter entgegen, so muss sie heute langjährige Tabus brechen und öffentlich Ärger riskieren. Denn wer Panzer nach Saudi-Arabien oder U-Boote nach Israel oder Ägypten liefern lässt, muss sich öffentlich rechtfertigen. Politisch ist auf diesem Weg nur schwer ein Blumentopf zu gewinnen. Selbst dann, wenn die Politik zum Tabubruch bereit ist.

Der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, BDSV, will deshalb andere Wege gehen. Er will der Rüstungsindustrie wieder ein günstigeres argumentatives Umfeld schaffen. Eines, in dem sie wieder erfolgreich auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen und dafür werben kann, dass sich die Bedingungen für ihr wirtschaftliches Wachstum verbessern. Der Name des BDSV signalisiert den Ansatzpunkt. Künftig soll nicht mehr von Wehrtechnik oder Rüstungsindustrie die Rede sein, sondern von der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Aus der klassischen wehrtechnischen Industrie und den neuen Sicherheitsindustrien, die Risiken wie den Terrorismus, zerfallende Staaten, die Gefährdung kritischer Infrastrukturen, Cyberangriffe oder Pandemien als Geschäftsfelder entdeckt haben, soll eine neue, größere und wieder schlagkräftige Branche geformt werden.

Der BDSV hat das Darmstädter Wirtschaftsforschungsinstitut WIFOR beauftragt, die neue Branche und deren volkswirtschaftliche Bedeutung zu beschreiben. Ein erstaunlicher Vorgang, wenn man bedenkt, wie intensiv die wehrtechnische Industrie die Aussagekraft gerade solcher meist kritischer Studien in früheren Jahrzehnten immer wieder bestritten hat. Der Hauptgeschäftsführer des BDSV, Georg Wilhelm Adamowitsch, vertrat jetzt anlässlich der Veröffentlichung der Ergebnisse des Darmstädter Wirtschaftsforschungsinstituts WIFOR Mitte Dezember eine ganz andere Position:

O-Ton Adamowitsch
„Der BDSV will mit dieser Studie zu einer Versachlichung der Diskussion über den Stellenwert der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie als Teil der deutschen Volkswirtschaft beitragen.“

Auf den ersten Blick erfüllt das Ergebnis voll und ganz den erhofften Zweck. Sprach der BDSV bislang davon, dass die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie gemeinsam rund 80.000 Menschen beschäftigen, einen jährlichen Umsatz von rund 16 Mrd. Euro erwirtschaften und dies zu 70-80 Prozent durch Exportgeschäfte erreichen, so klingt das jetzt ganz anders. Noch einmal Adamowitsch:

O-Ton Adamowitsch
„In der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie waren 2011 ca. 98.000 Mitarbeiter direkt beschäftigt. Die gesamte Geschäftstätigkeit der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie sichert darüber hinaus ca. 220.000 Arbeitsplätze in Deutschland.“

Die Beschäftigungswirkung der Branche liegt also laut Studie insgesamt bei knapp 320.000 Arbeitsplätzen. Eine ganz andere Größenordnung als bisher, die vor allem den Daten aus der erweiterten Sicherheitsindustrie geschuldet ist. Hier sei die Beschäftigung in den vergangenen Jahren viel schneller als in der Gesamtwirtschaft gewachsen. Das Güteraufkommen und der Produktionswert der Branche habe sich ebenfalls kräftig erhöht. Dank der starken Binnennachfrage von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft betrage der Exportanteil in der erweiterten Sicherheitsbranche nur knapp 45 Prozent. Luft nach oben also. Zahlen, mit denen sich gut argumentieren lässt, wenn man von einem prosperierenden Wirtschaftszweig mit großer Beschäftigungswirkung reden möchte, mit hohem Innovationsbeitrag, Wachstumspotential und steigenden Exportmöglichkeiten. Zahlen, die dem BDSV als Verband mehr Gewicht versprechen.

Doch ein zweiter Blick weckt Zweifel. Die Studie unterscheidet zwischen zwei Bereichen: Einem Kernbereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, der Waffensysteme, Waffen und Munition herstellt und einem erweiterten Bereich der Sicherheitsindustrie, der Güter für Ausbildung und Einsatzbereitschaft produziert, sowie für Mobilität, Überwachung, Aufklärung, Führung, Kontrolle und Kommunikation und für die Schadensminimierung. Die Güter des Kernbereichs finden ihre Abnehmer weitestgehend beim Militär und bei paramilitärischen Strukturen, also praktisch nur bei Staaten. Die Güter des erweiterten Bereichs finden ihre Abnehmer teils bei staatlichen Behörden wie Polizei, Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk oder Rettungsorganisationen und – vor allem natürlich auch in der Privatwirtschaft. Diese Zweiteilung stellt einen Paradigmenwechsel dar.

Die Abgrenzung des Kernbereichs der Verteidigungsindustrie von dem erweiterten Bereich der Sicherheitsindustrie und vieles andere in der Studie können jedoch kaum überzeugen: Gefechtsübungszentren, Aufklärungsdrohnen, Radar- oder Führungssysteme, also typische Militärgüter, die an Staaten geliefert werden, finden sich jetzt in der Kategorie der erweiterten Sicherheitsindustrie ebenso wie Radioaktivitätsdetektoren, die für die ABC-Abwehr genauso bedeutsam sind wie für den Katastrophenschutz oder die Lebensmittelindustrie. Die Folge: Der Bereich der erweiterten Sicherheitsindustrie wird aufgebläht und teilweise konturlos. Der Kernbereich der Wehrtechnik dagegen, die wehrtechnische Industrie wird künstlich kleingerechnet. Doch die Studie enthält noch andere Ungereimtheiten und Widersprüche: Zum wehrtechnischen Kernbereich zählen die Autoren nur noch gut 17.000 der 98.000 direkt Beschäftigten, auf die man offenbar nur dann kommt, wenn weite Teile des zivilen, sicherheitstechnischen Bedarfs der privaten Industrie zum Produktportfolio der erweiterten Sicherheitsindustrie zählt. Mit 3,9 Mrd. Euro entfallen laut vorgelegter WIFOR-Studie nur noch rund 17 Prozent des Produktionswertes der gesamten Sicherheits- und Verteidigungsindustrie auf den wehrtechnischen Kernbereich. Bedenkt man, dass die Bundesregierung 2011 Einzel- und Sammelausfuhren von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern im Wert von über 10 Milliarden EURO genehmigt hat, so zeigt sich, dass mit den Zahlen der BDSV-Studie vor allem eins erreicht wird: Unvergleichbarkeit und Verwirrung. Das könnte zwar durchaus gewollt sein, aber auch auf die Verfasser der Studie und ihre Auftraggeber zurückfallen. Zumindest dann, wenn sich andere Volkswirtschaftswissenschaftler einmal kritisch mit Methodologie und Datenbasis der WIFOR-Studie auseinandersetzen.

Für eine Lobbyarbeit zugunsten der klassischen Rüstungsindustrie sind die neuen wohlfeilen Zahlen jedoch bereits heute kaum hilfreich Auch wenn der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie von erheblich mehr Beschäftigen ausgeht als bisher - die Zahlen bleiben willkürlich und signalisieren der Öffentlichkeit letztlich, dass der Rüstungsindustrie eine viel zu große Bedeutung und noch immer ein viel zu großes politisches Gewicht beigemessen wird.

* Aus: NDR-Forum "Streitkräfte und Strategien", 9. Februar 2013; www.ndr.de/info


P r e s s e i n f o r m a t i o n

Mittwoch, 12. Dezember 2012, 10.00 Uhr

Georg Wilhelm Adamowitsch, Hauptgeschäftsführer des BDSV e.V.

Der BDSV hat das Darmstädter Wirtschaftsforschungsinstitut WifOR im Frühjahr 2012 beauftragt, eine Studie über die „volkswirtschaftliche Bedeutung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (SVI) für den deutschen Wirtschaftsstandort“ vorzulegen. Der BDSV will mit dieser Studie zu einer Versachlichung der Diskussion über den Stellenwert der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie als Teil der deutschen Volkswirtschaft beitragen.

Die SVI verfügt über einen Kernbereich, der weitgehend mit der traditionellen Rüstungsindustrie vergleichbar ist und Waffen, Waffensysteme und Munition produziert, und einen stark wachsenden Erweiterten Bereich, der Güter für Prävention und Einsatzmanagement umfasst.

Das Ziel des Forschungsprojektes besteht darin, die volkswirtschaftliche Bedeutung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie zu bemessen. Die zu diesem Zweck ermittelten ökonomischen Indikatoren spiegeln die gesamten Produktions-, Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekte der Branche wider, die aus der Geschäftstätigkeit der Branche resultieren.

Neben den direkten ökonomischen Effekten der SVI beleuchtet das Forschungsprojekt auch die indirekten und induzierten ökonomischen Wirkungen. Diese Effekte strahlen in Wirtschaftszweige aus, die der SVI vor- und nachgelagert sind. Auf diese Weise lassen sich die ökonomischen Verflechtungen sichtbar machen, in die das Wirtschaftshandeln der Branche eingebunden ist.

I. Beschäftigungseffekte

In der deutschen SVI waren in 2011 ca. 98.000 Mitarbeiter direkt beschäftigt. Die gesamte Geschäftstätigkeit der SVI sichert darüber hinaus ca. 220.000 weitere Arbeitsplätze. Dabei werden die Ausstrahleffekte auf Vorleistungsbranchen und nachgelagerte Wirtschaftszweige berücksichtigt.

II. Arbeitsproduktivität und Qualitätsniveau

Die deutsche SVI weist im Vergleich zu anderen Branchen eine überdurchschnittliche Arbeitsproduktivität in Höhe von ca. 82.000 Euro aus, die durchschnittliche Arbeitsproduktivität in Deutschland liegt bei 53.500 Euro. Der Grund für diese hohe Arbeitsproduktivität liegt im hohen Qualifizierungsniveau der Fachkräfte, das sich auch im durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von ca. 61.000 Euro niederschlägt und 36% über dem Durchschnitt der verarbeitenden Industrie liegt.

III. Hoher Verflechtungsgrad der SVI

Die Vorleistungsgüter, die von der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie bezogen werden, erreichten im Jahr 2011 einen Wert von 14,3 Mrd. EUR. Dies rührt daher, dass die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie hochwertige und hochinnovative Vorleistungsgüter konsumiert. Mit dem Wert der bezogenen Güter sind deutliche Wertschöpfungs-, Beschäftigungs- und Innovationseffekte in den vielfach mittelständisch geprägten Vorleistungsindustrien verbunden. Ohne Einbindung in die Lieferkette für Güter der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie wäre eine Vielzahl von mittelständischen Unternehmen in ihrer betrieblichen Substanz gefährdet.

IV. Schlussfolgerungen
  1. Die Bedeutung von militärischen und sicherheitsrelevanten Gütern neben der Produktion von Waffen, Waffensystemen und Munition nimmt zu. Die Bewertung der durchschnittlichen Wachstumszahlen zeigt, dass das Wachstum insbesondere bei den Gütern für Prävention und Einsatzmanagement liegt. Das größte Wachstumspotential bei den Arbeitsplätzen spielt sich ebenfalls in diesem Bereich ab.
  2. Der Anteil innovativer Produkte am Umsatz ist in der deutschen SVI ist überdurchschnittlich hoch, im Branchenvergleich liegt die SVI hinter der Automobilindustrie und der Elektroindustrie auf dem dritten Platz. Die Innovationsfähigkeit der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie strahlt auch ab auf die Vorleistungsbranchen, die ihre FuE-Investitionen nur durch die Einbindung in die Lieferkette der SVI aufrecht erhalten können. Die Teilnahme an Forschungskooperationen ist für den Kompetenzgewinn der Unternehmen unverzichtbar.
  3. Gemessen an der Bruttowertschöpfung ergibt sich für die SVI eine interne FuE-Quote von ca. 19%. Damit ist die SVI die Branche mit dem fünftgrößten FuE-Impuls in Deutschland, hinter Automobil, Pharma, Chemie und Erzeugnissen der Nachrichtentechnik, vor Luftfahrtleistungen, Medizin-, Mess-, und Regelungstechnik und Maschinenbau.
  4. Aufgrund der starken Einbindung der Vorleistungsgüter und die damit verbundenen Effekte u.a. in der Wertschöpfungskette ist die deutsche SVI ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil der deutschen Volkswirtschaft. Dazu tragen auch die überdurchschnittlichen großen Innovationspotentiale und eine hohe FuE Quote bei.
  5. Die zum Teil sehr emotionale Diskussion über die deutschen Rüstungsexporte in den letzten Monaten hat unterschiedliche Fragestellungen aufgeworfen. Für die deutsche SVI steht völlig außer Zweifel, dass beim Thema von genehmigten Exporten das Primat der Politik ohne Alternative ist.

    Zu den Kriterien der „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ gibt es ebenfalls keine Alternative.

    Auch die vertrauliche Beratung im Bundessicherheitsrat (BSR) über die sog. Voranfragen dient dem Schutz der Länder, die diesen Antrag gestellt haben. Die deutsche SVI lässt keinen Zweifel daran, dass bei der Entscheidung im BSR die Frage der Beurteilung und Abwägung von Menschenrechten ebenso sorgfältig abgewogen werden wie die Frage der außen- und sicherheitspolitischen Beurteilung in dem vom Antrag stellenden Land oder der entsprechenden Region. Das wirtschaftliche Interesse eines möglichen deutschen Auftragsnehmers gehört nicht zu den Abwägungskriterien im BSR oder der vorgelagerten Entscheidungsprozesse.

    Ich begrüße ausdrücklich die Beurteilung im Rüstungsexportbericht 2012 der GKKE vom 10.12.2012, „Den deutschen Regelwerken für die Rüstungsexportpolitik ist eine Sensibilität gegenüber den Normen von Frieden, Sicherheit und Entwicklung eigen.“
Berlin, 12.Dezember 2012




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