Raketenschild bremst nukleare Abrüstung
Washington will Zeit gewinnen und testet diverse Kompromissvarianten
Von Wolfgang Kötter *
USA-Präsident Obama und Russlands Staatschef Medwedjew haben einen neuen
Abrüstungsvertrag bis zum Jahresende versprochen. Auf dem Moskauer
Gipfeltreffen wird ein erstes Resümee gezogen.
Die Materie ist sehr komplex und viele Positionen sind kontrovers. Da
mag Außenamtssprecher Ian
Kelly noch so kategorisch erklären: »Die Obama-Regierung vertritt in den
STARTNachfolgeverhandlungen
die Position, dass die Themen Abwehrraketen und Reduzierung der
Offensivwaffen getrennt behandelt werden sollten.« Für Moskau dagegen
ist klar: Wenn es zu den
USA-Plänen einer weltweiten Raketenabwehr einschließlich der für
Osteuropa vorgesehenen
Komponenten keine Einigung gibt, dann sieht es auch für radikale
Reduzierungen der atomaren
Offensivwaffen düster aus.
Die Errichtung eines umfassenden Raketenschutzschirms (Anti Ballistic
Missile – ABM-System) hat
starke Befürworter in den USA, denn es ist eine verführerische Idee und
eine milliardenschwere
Profitquelle. Dem Traum von der eigenen Unverwundbarkeit hingen
Präsidenten über Jahrzehnte
hinweg nach, angefangen von Ronald Reagans »Krieg der Sterne« in den
1980er Jahren bis zu den
Stationierungsvereinbarungen mit Polen und Tschechien unter George W.
Bush. Seine
Verwirklichung würde den USA freie Hand für militärische Aktionen auf
der ganzen Welt geben,
ohne eine Bestrafung durch gegnerische Waffen befürchten zu müssen.
Bisher stand dieser
»Idealsituation« vor allem die gegenseitige Vernichtungsfähigkeit mit
Russland entgegen.
Obama hält sich nun alle Optionen offen und hat wiederholt erklärt, er
unterstütze eine
Raketenabwehr, aber nur wenn sie kosteneffektiv sei und auch
funktioniere. Die neue Administration
kündigte außerdem an, das Raketenschild-Projekt auf seine Zweckmäßigkeit
hin zu überprüfen.
Denn es gehe nicht mehr um die traditionellen ballistischen Raketen, wie
man sie vom Kalten Krieg
mit der Sowjetunion her kenne, erklärte Vizegeneralstabschef James E.
Cartwright kürzlich, sondern
um Marschflugkörper, die mit atomaren, biologischen oder chemischen
Sprengköpfen bestückt
seien, deren Flugbahn beliebig verändert werden könne und gegen die es
extrem schwer sei, sich
zu verteidigen. »Kein Feind da draußen wäre so beschränkt, uns mit einer
minimalenergetischen
Flugbahn anzugreifen.«
Doch die Obama-Regierung geht behutsam vor, um die mächtige ABM-Lobby
nicht frontal zu
verprellen. Gleichzeitig wird der Boden für einen unspektakulären
Rückzug aus dem
Stationierungsprojekt bereitet. Eine Studie des New Yorker
Ost-West-Instituts bewertet das geplante
Antiraketensystem in Osteuropa als unwirksam gegen potenzielle Raketen
aus Iran. Im Übrigen
könne Teheran Raketen dieser Reichweite frühestens in fünf Jahren bauen,
einen dafür geeigneten
Sprengkopf erst in acht Jahren. Im Zuge der kritischen Überprüfung hat
das Pentagon aus dem
Gesamtprojekt der Raketenabwehr bereits 1,2 Milliarden Dollar gestrichen
und einige langfristige
Programme beschnitten oder ganz eliminiert. Die Zahl der im Fort Greely
in Alaska und auf dem
Luftwaffenstützpunkt Vandenberg in Kalifornien zu bauenden Raketensilos
wurde um 14 auf 30
reduziert, was rund 160 Millionen Dollar spart.
Das Obama-Team scheint vor allem Zeit gewinnen zu wollen und testet
Kompromissvarianten.
Verteidigungsminister Gates brachte die Möglichkeit ins Spiel, dass ein
Teil des USARaketenschilds
in Russland installiert werden könnte, weil Moskau nun angeblich
ebenfalls über die
von Iran ausgehende Raketengefahr beunruhigt sei. Das russische
Außenministerium dementierte
umgehend. Gates verkündete außerdem, Moskau und Washington erwägten den
Aufbau eines
gemeinsamen Radars oder eines Datenaustauschzentrums in Russland.
Dahinter steckt wohl der
Versuch Washingtons, Russland zu besänftigen und kooperativ zu
erscheinen, ohne vorher die
Verträge mit Prag und Warschau offiziell aufkündigen zu müssen. Die
Stationierung eines solchen
Systems in Polen und Tschechien sei nur »eine der Optionen« zur Abwehr
befürchteter
Raketenangriffe aus Iran, erklärte Pentagon-Vizechef William Lynn vor
dem Verteidigungsausschuss
des Senat.
Der Kreml steckt in einem Dilemma. Einerseits kann er die einseitige
Raketenabwehr der USA nicht
widerspruchslos hinnehmen, andererseits will man aber potenziellen
Bedrohungen durch feindliche
Raketen auch nicht schutzlos ausgeliefert bleiben. Russland lehnt
deshalb zwar unilaterale Schritte
der USA ab, favorisiert aber multilaterale Lösungen. Beide Präsidenten
stehen vor einer
strategischen Grundsatzentscheidung: Wollen Russland und die USA sich
künftig eher in einer
globalen Verantwortungspartnerschaft oder doch immer nur als Gegner
begegnen? Nur mit einer
partnerschaftlichen Perspektive ist ein drastischer Abbau der
Kernwaffenarsenale als Schritt zur
angekündigten atomwaffenfreien Welt vorstellbar.
* Aus: Neues Deutschland, 6. Juli 2009
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