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Raketenschach

Um ein Zeitalter zurück - Russland und die USA könnten bald wieder auf die einst abgeschafften Mittelstreckenwaffen zurückgreifen

Von Wolfgang Kötter *

Ein Ableben noch vor dem 20. Geburtstag ist immer tragisch. Im Fall des vor zwei Jahrzehnten geborenen INF-Vertrages zur Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen (Intermediate Range Nuclear Forces/INF) wäre das zugleich hochgefährlich, könnten sich doch damit die Schleusen für eine Flut neuer Raketen öffnen.

Die Vorgeschichte

Es war im Oktober 1977, als der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt das Thema Mittelstreckenwaffen erstmals öffentlich thematisierte. In einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies in London bemängelte er, dass diese "Grauzonenwaffen" nicht in die Verhandlungen zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion über strategische Waffen (SALT) einbezogen wären und daher möglicherweise zu einer Gefahr für Westeuropa werden könnten. Dahinter verbarg sich die Sorge, vom amerikanischen nuklearen Schutzschirm abgekoppelt zu werden, wenn sich Washington und Moskau über Begrenzungen und vielleicht sogar Reduzierungen ihrer weitreichenden Nuklearwaffen einigen würden. Dann nämlich bekämen die sowjetischen, auf Westeuropa zielenden Mittelstreckenwaffen ein höheres Gewicht und könnten die westliche Abschreckung unterlaufen. Man zweifelte zudem daran, dass die USA ihr verbleibendes strategisches Potential für die Europäer einsetzen würden, wenn eine sowjetische Vergeltung auf das eigene Territorium droht. Wäre den USA im Ernstfall der Preis nicht zu hoch? Würde ein amerikanischer Präsident wirklich Cincinnati für Celle opfern, so lautete die Befürchtung? Wenn die Mittelstreckenraketen also weiterhin außerhalb der Verhandlungen blieben, gäbe es nur zwei Alternativen: Entweder eigene Aufrüstung oder sowjetische Abrüstung. Damit war der Grundgedanke für den NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 geboren. Aber entscheidend für den weiteren Verlauf der Dinge waren nicht die zum Teil gutwilligen, zum Teil aber auch höchst demagogischen Argumente im Streit um die angebliche Nachrüstung. Denn die Aufrüstung verlief nach ihren eigenen Gesetzen und war längst unterwegs. Erinnert sei an das absurde Abschreckungsdogma im Ost-West-Konflikt: Jede Seite rüstete auf Teufel komm raus, um dem Feind ja keinen Vorsprung zu gewähren. Da aber neue Waffen nicht erst entwickelt werden können, wenn sie bereits auf den gegnerischen Militärparaden zu bestaunen sind, drehten sich die Rüstungsspiralen der Forschungslabors und Produktionsanlagen beider Seiten relativ unabhängig voneinander. Sie gehorchten einer inneren Eigendynamik, denn vom Reißbrett bis zum Schlachtfeld veranschlagte man mindestens fünf bis acht Jahre. Anders gesagt, als die Propagandaschlachten begannen, waren genauso wie die sowjetischen SS-20 auch in den USA die Marschflugkörper Cruise Missiles und die Pershing-2-Raketen bereits längst in der Entwicklungspipeline.

Missverständnisse, Fehlkalkulationen und die Ironie der Geschichte Unter diesen Umständen war das Zustandekommen einer Vereinbarung schon an sich ein Wunder, denn am Anfang der im Herbst 1980 begonnenen Verhandlungen standen Missverständnisse, Fehlurteile und gegensätzliche Absichten. Für die Moskauer Strategen erschien die ganze Nachrüstungsdiskussion ohnehin unverständlich. Sie hatten doch nur ihre alternden Mittelstreckenwaffen modernisieren wollen. Ja sicher, die SS-20 waren mobil, ihre drei Sprengköpfe ein bisschen zielgenauer und sie reichten etwas weiter als die Vorgänger SS-4 und SS-5. An der geostrategischen Situation in Europa aber änderten sie aus Moskauer Sicht nichts Grundsätzliches. Bedrohungsängste der westeuropäischen Bevölkerung hingegen unterschätzten die Greise im Kreml völlig. Auf amerikanischer Seite wollte man vor allem die neuen Hightech-Produkte ihrer Waffenschmieden ohne größere Reibungsverluste in Westeuropa stationieren. Dafür bot die propagandistische Ausschlachtung des NATO-Doppelbeschlusses eine hervorragende Grundlage. Es kam nur darauf an, den Verhandlungsansatz versanden zu lassen und den öffentlichen Protest immer mal wieder mit der Beschwörung einer "Gefahr aus dem Osten" zu beschwichtigen. So schlichen die Verhandlungen mit taktischen Finessen und Propagandamanövern jahrelang ohne konkrete Fortschritte dahin und zeitweise waren sie sogar unterbrochen.

Ein historischer Vertrag

Doch die Machtübernahme Gorbatschows im Jahre 1985 änderte die Situation plötzlich. Moskaus unerwartetes Eingehen auf eine Verhandlungslösung bereitete Washington heftige Kopfschmerzen, denn wie man der überraschenden Wendung begegnen sollte, war umstritten. Namentlich zwei Proponenten vertraten auf der Arbeitsebene aus voller Kraft und mit allen Mitteln jeweils unterschiedliche Verhandlungsstrategien: Der damals 33-jährige Exjournalist Richard Burt vom State Department und der nur sechs Jahre ältere Richard Perle vom Pentagon. Die "beiden Richards", wie die Medien das Paar gerne nannten, stilisierten den strukturell und missionsbedingten Interessenkonflikt zwischen Außen- und Verteidigungsministerium zur ihrer persönlichen Männerfehde hoch. Perle propagierte überraschenderweise die "Nulllösung", aber nicht um das Problem zu lösen, sondern im Gegenteil, um eine Vereinbarung zu verhindern. Der bis in die jüngste Vergangenheit als Hardliner und einer der Hauptproponenten des Irakkrieges hervorgetretene NeoCon hielt es für schlichtweg ausgeschlossen, dass die sowjetische Führung sich auf einen Deal einlassen könnte, dem zufolge sie ihre bereits vorhandenen und einsatzbereiten Raketen gegen nicht stationierte Waffensysteme des Westens aufrechnen müsste. Zumal bei denen noch nicht einmal klar war, ob öffentlicher Widerstand sie nicht ohnehin verhindern würde. Bei sowjetischer Verweigerung, so Perles Kalkül, könnte man Moskau den schwarzen Peter für die gescheiterten Verhandlungen zuschieben und in aller Seelenruhe das volle Programm von 572 Raketen in Belgien, der Bundesrepublik, Großbritannien, Italien und in den Niederlanden dislozieren. Burt hingegen strebte in der Art klassischer Diplomatie einen Kompromiss an. Er hielt es für erstrebenswert und gleichzeitig erreichbar, die Sowjetunion zu einer Reduzierung der SS-20 zu bewegen und im Gegenzug die westliche Stationierung gegenüber den ursprünglichen Plänen ebenfalls geringer zu halten. Gorbatschows Akzeptanz der "doppelten Nullösung" jedoch warf alle Spekulationen und taktischen Manöver über den Haufen. Reagan blieb überhaupt keine andere Wahl als das Angebot zu akzeptieren.

Als am 8. Dezember 1987 US-Präsident Reagan und der sowjetische Staatschef Gorbatschow in Washington den INF-Vertrag unterschrieben, war das in mehrfacher Weise ein historischer Durchbruch. Jenseits der Denkschablonen des Kalten Krieges befreiten sich die Führer der beiden Supermächte von der irrationalen Logik des nuklearen Erbsenzählens und gaben gleich eine ganze Waffenkategorie zur Verschrottung frei. Erleichtert wurde Ronald Reagan die Entscheidung für eine "doppelte Nulllösung" durch Gorbatschows "Neues Denken", das die Sowjets auf weitaus mehr Waffen verzichten ließ als die Amerikaner. Unter dem Strich befreite der INF-Vertrag die Welt bis 1991 von etwa 2.700 Atomraketen (UdSSR: 1.846; USA: 846), immerhin etwa vier Prozent der nuklearen Gesamtpotenziale beider Staaten.

Flugbahn entlang der russischen Grenze

20 Jahre später scheint es immer unwahrscheinlicher, dass die USA und Russland dauerhaft auf Mittelstreckenwaffen verzichten, während andere Länder gerade diese Arsenale ausbauen. Natürlich wäre es denkbar, dem konstruktiv zu begegnen, indem der INF-Vertrag "multilateralisiert" wird und weitere Staaten aufnimmt. Doch stehen die Zeichen derzeit eher auf Aufrüstung - ein ganzes Vertragsgebäude scheint dem Einsturz preisgegeben.

Dass die USA in Osteuropa für 3,5 Milliarden Dollar Komponenten eines Raketenabfangsystems errichten und sogar Transkaukasien einbeziehen wollen, empfindet Russland als Gefahr vor der eigenen Haustür und eine weitere einseitige Korrektur der geostrategischen Balance. Die Pläne seien "ein ernsthaft destabilisierender Faktor mit großen Auswirkungen auf die globale und regionale Sicherheit", analysiert Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow. Die Flugbahn jeder Rakete, die in Osteuropa oder dem Kaukasus abgeschossen werde, verlaufe unmittelbar entlang der russischen Grenzen, zudem könnten Raketenbasen in Zentralrussland und bei der Nordmeerflotte überwacht werden. Auch wären die Mission wie auch die Zielkoordinaten einmal in Polen, Tschechien oder Georgien installierter Radars und verbunkerter Raketen schnell veränderbar.

"Wir fühlen uns betrogen", sagt Präsident Putin unumwunden. "Potenziell werden wir Alternativen dazu schaffen müssen, allerdings mit einem geringeren Aufwand und einer höheren Qualität." Ostentativ nachgereichte Kooperationsangebote der US-Außenministerin oder der NATO-Verteidigungsminister vor Tagen in Oslo quittiert Moskau mit unverhohlenem Ärger als Camouflage. Für den Kreml steht die Geschäftsgrundlage des KSE- (s. o.) und INF-Vertrages zur Disposition - unter den jetzigen Umständen könnte der Verzicht auf nukleare Mittelstreckenraketen hinfällig sein.

Als Reaktion auf diese harschen Reaktionen wird im Westen viel "Unverständnis" laut. Eine Radarstation in Tschechien und lediglich zehn Abfangraketen in Polen - das beschwöre doch keine wirkliche Gefahr für Tausende russischer Atomraketen herauf. Im Übrigen richte sich alles gegen Nordkorea und den Iran. Doch rügt nicht zuletzt Helmut Schmidt, der Spiritus rector des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, der zur Dislozierung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa führte, gegenüber der Financial Times die Stationierungsabsicht als "unverantwortlich und destabilisierend". Und das aus gutem Grund.

Die fehlende Sensibilität des Westens gegenüber russischen Sicherheitsbedenken ignoriert, dass sich Bedrohungsängste keineswegs auf arithmetische Vergleiche von Waffenkapazitäten reduzieren lassen. Sie enthalten vielmehr sozio-psychologisch geprägte Empfindungen, die auf traumatischer historischer Erfahrung gründen. Russland musste in zwei Jahrhunderten - erst mit dem Einmarsch Napoleons, dann durch zwei Weltkriege - verheerende Eroberungsfeldzüge hinnehmen, die mit Millionen Menschenopfern bezahlt wurden. Es kommt hinzu: Die zur Supermacht aufgestiegene Sowjetunion brach 1990/91 wie ein Kartenhaus zusammen. Russland als ihr mächtigster Nachfolgestaat musste sich mit dem Status einer Regionalmacht abfinden, die im weltpolitischen Ranking als zweitklassig galt.

Eine nie zuvor erlebte Militärpräsenz

Gleichzeitig schob sich der einst feindliche Westen unter Bruch getroffener Zusagen näher und näher an die russischen Grenzen heran. Von der Ostsee bis zum Schwarzen und Kaspischen Meer, vom Baltikum bis nach Zentralasien hat sich eine nie zuvor erlebte Militärpräsenz etabliert, größtenteils ausgelöst durch die extensive Osterweiterung der NATO. Auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz warnte Putin denn auch vor einem neuen Wettrüsten und fragte: "Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was geschah mit den Erklärungen, welche die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages abgaben?"

Putin hätte seinen Vorwurf, einer absichtsvoll vorangetriebenen Konfrontation auch durch den Verweis auf einen Vorgang erhärten können, der fünf Jahre zurückliegt. Seinerzeit hatte die US-Regierung mit dem ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen nicht irgendein Abkommen aufgekündigt, sondern das zentrale Agreement des bipolaren Zeitalters. Der ABM-Vertrag begrenzte die Abwehrkapazitäten, um die eigene Verwundbarkeit im Falle eines Atomangriffs so zu steigern, dass jeder Angriffsbefehl einer Order zur Selbstvernichtung gleichkommen musste. Als Washington 2002 die Parität des Schreckens aufkündigte, hieß das: Russland ist als gleichrangiger Partner abgeschrieben.

Während der Präsidentschaft Wladimir Putins ist nun allerdings viel getan worden, um zu einem Verhältnis auf Augenhöhe zurückzukehren. Das bezeugen allein schon die Verteidigungsausgaben, die sich seit 2001 vervierfacht haben. Zu gleichwertigen Rüstungsanstrengungen mit den USA ist Moskau dennoch weder willens noch in der Lage. Man weiß im Kreml nur zu gut, dass die Sowjetunion auch an einem gigantischen Wettrüsten gescheitert ist. Um so mehr werden "asymmetrische" Antworten auf die Einkreisung gesucht, und man besinnt sich auf das Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Prinzip des Kalten Krieges. Das heißt, wenn sich die ehemaligen Verbündeten Polen und Tschechien zu willfährigen Hilfsdiensten für die Amerikaner hergeben, sollen sie in Schach gehalten werden. Dazu würden sich nukleare Mittelstreckenwaffen optimal eignen, wären die nicht durch den INF-Vertrag verboten.

Führende Militärs wie Generalstabschef Juri Balujewskij bedauern öffentlich, dass "Russland leider viele einzigartige Raketensysteme verloren" habe, weil es sich an diesen Vertrag gehalten habe. Sie könnten aber als mobile Flugkörper vom Typ RSD-10 Pionier oder mit der neueren taktischen Rakete Iskander relativ schnell wieder verfügbar sein. Auf der anderen Seite empfände auch das Pentagon die Wiedergeburt der Waffenkategorie von einst als willkommene Option. Da der START-I-Vertrag 2009 ausläuft und der SORT-Vertrag über strategische Offensivwaffen drei Jahre später, scheint ein neues Wettrüsten programmiert. Welche Risiken das birgt, geht allein aus der Tatsache hervor, dass etliche der im Moment etwa 30 Staaten mit Raketenprogrammen in diesen Wettlauf einsteigen dürften.

Ratifizieren oder neu verhandeln - Der KSE-Vertrag

Nachdem die USA sich in den letzten Jahren schrittweise völkerrechtlicher Beschränkungen ihrer militärischen und Rüstungsaktivitäten entledigt haben, folgt nun Russland dem schlechten Beispiel. Präsident Putin kündigte in seiner Rede zur Lage der Nation an, man werde den Vertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) zeitweilig aussetzen.

Außenminister Lawrow präzisierte kurz darauf vor den 26 NATO-Außenministern in Oslo, das bedeute, "dass wir die Verpflichtungen nach dem Vertrag auf Eis legen". Russland sei praktisch das einzige Land, dass den Vertrag umsetze. Er rügte auch die schleppenden Ratifizierung des Vertrages durch NATO-Länder. Siebeneinhalb Jahre nach seiner Unterzeichnung durch 30 Staaten ist der überarbeitete Vertrag noch immer nicht in Kraft. Und Moskau befürchtet, dass es bis auf weiteres so bleibt. Wenn sich daran nichts ändere, "werden wir den Vertrag ganz aufkündigen", setzte er noch eins drauf.

Der KSE-Vertrag geht in seinen Ursprüngen auf Verhandlungen zwischen den Militärblöcken NATO und Warschauer Pakt zurück, die im Herbst 1973 in Wien begannen. Ursprünglich zielten sie darauf ab, das Ungleichgewicht konventioneller Streitkräfte zwischen beiden Seiten abzubauen und Überraschungsangriffe unmöglich zu machen. 22 NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten schlossen dann am 19. November 1990 in Paris das aus 23 Artikeln und einen umfangreichen Anhang bestehende Abkommen, das zwei Jahre später in Kraft trat. Neben fixen Obergrenzen für verschiedene Subregionen – in denen zum Beispiel nur eine bestimmte Zahl an Kampfpanzern stationiert sein darf – gilt im KSE-Vertrag die so genannte „Suffizienzregel“. Sie besagt, dass kein einzelner Staat über mehr als ein Drittel der Waffensysteme insgesamt in einer Region verfügen darf. Der Vertrag sieht umfassende Verifikationsprozeduren mit detailliertem Informationsaustausch, Vor-Ort-Inspektionen, Stichproben-Besuchen und Maßnahmen zur Verschrottung bestimmter Waffen vor. Außerdem wurde in Wien ein gemeinsames Beratungsgremiums eingerichtet. Doch das Paritätsprinzip NATO-Ostblock wurde mit der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zerfall der Sowjetunion obsolet. Als UdSSR-Nachfolger unterzeichneten die betroffenen GUS-Staaten den Vertrag im Juni 1992 und übernahmen jeweils nationale Obergrenzen. Verhandlungen zur Reduzierung des militärischen Personals führten im Juli desselben Jahres auch zur Unterzeichnung einer „abschließenden Akte“ durch 29 NATO-Staaten und frühere Mitglieder des Warschauer Pakts: Das so genannte KSE-1A-Abkommen legt Personalobergrenzen für die Streitkräfte fest, wobei aber beispielsweise Truppen der Inneren Sicherheit und Soldaten unter UNO-Kommando ausgenommen sind. Der KSE-Vertrag ist rechtsverbindlich, die „abschließende Akte“ dagegen eine nicht-bindende politische Selbstverpflichtung.

Im November 1999 unterzeichneten die inzwischen 30 Vertragsstaaten in Istanbul den entsprechend den neuen Verhältnissen adaptierten KSE-Vertrag (AKSE-Abkommen). Dieses sieht nun ein System vor, das die zulässigen Obergrenzen für die jeweilige Waffenart den einzelnen Staaten zuweist. Dazu wurden nationale und territoriale Limits eingeführt. Die nationalen Obergrenzen legen fest, wie viele konventionelle Großwaffen - also Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriegeschütze, Militärhubschrauber und Kampfflugzeuge - ein Staat im gesamten Gebiet vom Atlantik bis zum Ural aufstellen darf. Territoriale Obergrenzen schreiben vor, wie viele solcher Waffen auf dem Gebiet eines Staates stehen dürfen, Fremdverbände inklusive. Außerdem gibt es Flankenlimits für den Norden und Süden, außerdem können weitere europäische Staaten dem Vertragswerk beitreten. Allerdings haben Slowenien und die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen diesen Schritt bisher nicht getan. Moskau drängt schon seit längerem auf Verhandlungen über eine erneute Überarbeitung des AKSE-Vertrages, um ihn an die zweite NATO-Erweiterung anzupassen.

Die Sowjetnachfolger Russland, Kasachstan, Ukraine und Weißrussland haben den neuen Vertrag inzwischen ratifiziert. Die NATO zögert hingegen und verlangt vorher den Abzug russischer Truppen aus Georgien und Moldawien/Transnistrien. Doch Experten halten das lediglich für einen Vorwand. Mit Georgien hat Russland sich über einen Abzugsplan bis 2008 geeinigt und bereits weitgehend umgesetzt. In Moldawien sind nur noch 500 Soldaten zur Bewachung eines Depots eingesetzt, sodass schon rein zahlenmäßig die dort stationierten russischen Soldaten im Gesamtzusammenhang völlig irrelevant sind. In Wirklichkeit ist es vor allem Washington, das auf einem russischen Truppenabzug als Vorbedingung besteht. Gleichzeitig weitet es die amerikanische Militärpräsenz in ehemaligen Ostblock- und UdSSR-Nachfolgestaaten massiv aus. Der Verdacht liegt also nahe, dass es der Bush-Regierung gar nicht um den AKSE-Vertrag, sondern vielmehr um den Ausbau der eigenen strategischen Positionen in russischen Anrainerregionen geht.

* Dieser Beitrag erschien - leicht gekürzt - unter dem Titel "Um ein Zeitalter zurück" in der Wochenzeitung "Freitag" vom 4. Mai 2007


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