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Erfriert die konventionelle Abrüstung in der "neuen Eiszeit"?

Der KSE-Vertrag könnte ein Opfer der wieder entfachten Ost-West-Konfrontation werden

Von Wolfgang Kötter *

Russland werde die militärische Kooperation mit dem westlichen Bündnis "einfrieren", lautet Moskaus Antwort darauf, dass die NATO ihrerseits den NATO-Russland-Rat wegen des russischen Vorgehens in Georgien auf Eis gelegt hat. Botschafter Dmitri Rogosin ist in Brüssel für seine derben Sprüche bekannt. Was er aber dem westlichen Bündnis bei seiner letzten Pressekonferenz vor der Rückberufung nach Moskau empfiehlt, schockiert die Zuhörer doch einigermaßen. Die NATO solle doch "zuerst Hitler, dann Saddam Hussein und dann Georgiens Präsidenten Saakaschwili aufnehmen". Als dann noch ein gerahmtes Poster mit der Aufschrift "NATO-Russland Kooperation für Raketenabwehr" von der Wand fällt, witzelt der 44-jährige gelernte Journalist zwar, dies sei durchaus symbolisch, wenn auch nicht beabsichtigt. Doch die Lage ist ernst, denn es geht nicht nur um ein paar gemeinsame Manöver oder Flottenbesuche. Vielmehr steht das Schicksal der konventionellen Abrüstung und damit der militärischen Stabilität in Europa auf dem Spiel.

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts sind dabei bemerkenswerte Erfolge erzielt worden. Sie sind völkerrechtlich bindend im Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) festgeschrieben. 16 Mitglieder der NATO und 6 Warschauer-Pakt-Staaten hatten das Abkommen im Jahre 1990 unterzeichnet, das zwei Jahre später in Kraft trat. Es begrenzt für verschiedene europäische Subregionen die Zahl der offensivfähigen Hauptwaffensysteme, also die Zahl der Kampfpanzer, gepanzerten Fahrzeuge, Artilleriegeschütze, Militärhubschrauber und Kampfflugzeuge. Später wurden auch Obergrenzen für die Mannschaftsstärken der Mitgliedsländer beider Bündnisse festgelegt. Der Vertrag über den Offenen Himmel und eine Vereinbarung über vertrauensbildende Maßnahmen kamen ergänzend hinzu. Vertragsgemäß wurden in den Folgejahren rund 60.000 konventionelle Großwaffensysteme verschrottet, Militärs reisten zu Tausenden gegenseitigen Inspektionen und Beobachtungsbesuchen vor Ort, und schließlich sorgte der umfangreiche Informationsaustausch für eine bisher beispiellose Transparenz in militärischen Angelegenheiten.

Nach der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Vertrag entsprechend den veränderten Bedingungen modifiziert und statt der Gruppenbegrenzungen nationale Limits für Rüstungen und Obergrenzen der Streitkräfte festgelegt. Außerdem können weitere Staaten hinzu kommen. Allerdings haben die neuen NATO-Mitglieder Slowenien, Estland, Lettland und Litauen dies bisher nicht getan und unterliegen somit keinerlei Begrenzungen für Großwaffensysteme, Militärpersonal oder Verstärkungen. Demgegenüber traten die Sowjetnachfolger Russland, Kasachstan, Ukraine, Moldawien und Weißrussland dem neuen Vertrag inzwischen bei. Die NATO hat die Ratifizierung immer wieder auf die lange Bank geschoben, zunächst mit dem nicht erfolgten Truppenabzug Russlands aus Transnistrien in Moldawien begründet und verlangt jetzt vor allem den Rückzug der russischen Soldaten aus Georgien.

Russland hat wiederholt eine weitere Anpassung an die veränderten geopolitischen Verhältnisse gefordert, doch weder auf einer Sonderkonferenz der Vertragsteilnehmer noch im NATO-Russland-Rat konnte man sich einigen. Wie angekündigt setzte Moskau deshalb Ende vergangenen Jahres seine vertraglichen Verpflichtungen außer Kraft bis alle Teilnehmer den Vertrag ratifiziert haben.

Moskau hat nun drei Optionen: Erstens könnte es die festgelegten Obergrenzen für konventionelle Großwaffen überschreiten. Russland könnte zweitens die erlaubten Truppenstärken in den Militärbezirken Sankt Petersburg und Kaukasus erhöhen. Damit würde sich die Streitkräftepräsenz an den Grenzen zu Norwegen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen massiv erhöhen. Das beträfe fünf NATO-Mitglieder, im Süden wäre vor allem Georgien davon betroffen. Drittens schließlich könnte Russland die vereinbarten regelmäßigen Benachrichtigungen, Datenaustausch und gegenseitigen Inspektionen einstellen. Schon jetzt hat Moskau die Information über Truppenbewegungen gestoppt und ausländische Kontrollbesuche verwehrt.

Damit droht eine weitere Säule des in Jahrzehnten errichteten Gebäudes internationaler Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen einzustürzen. Bereits seit längerem fürchtet der Kreml, dass die USA ihre bereits vor Jahrzehnten gescheiterte Containment-Strategie wiederaufleben lassen. Moskau ist zum einen darüber besorgt, dass die NATO entgegen früheren Versprechungen mit ihrer Infrastruktur immer näher an die russischen Grenzen heranrückt. Durch eine kontinuierliche Osterweiterung hat das westliche Bündnis seine Militärpräsenz von der Ostsee bis zum Schwarzen und Kaspischen Meer, vom Baltikum bis nach Zentralasien ausgedehnt. Die jetzt gegründete NATO-Georgien-Kommission und die hastige Einigung Washingtons mit den Regierungen in Prag und Warschau über die Stationierung seines Raketenabfangsystems in beiden Ländern verschärften die Situation weiter. Und noch ist kein Ende abzusehen. Demnächst wird es US-Militärstützpunkte mit bis zu 10.000 GIs in Bulgarien und Rumänien geben. Die dritte Erweiterungsrunde für Albanien, Kroatien und Mazedonien ist bereits eingeläutet, und Georgien wie auch der Ukraine wurde die NATO-Aufnahme fest versprochen. Mit "asymmetrischen Antworten" - eigener Aufrüstung und militärischen Kontern im grenznahen Raum - will Russland eine weitere Umzingelung verhindern und die territoriale Einkreisung durchbrechen. Das gegenseitige Vertrauen ist durch diesen Aktions-Reaktions-Mechanismus jedenfalls nachhaltig beschädigt. Wenn es nicht gelingt, die Wellen des Misstrauens wieder zu glätten, könnte die "neue Eiszeit" in einen langen Winter münden.

Mitgliedstaaten des angepassten KSE-Vertrages

30 Vertragsstaaten: Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, Belgien, Bulgarien, Kanada, Tschechische Republik, Dänemark, Frankreich, Georgien, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Island, Italien, Kasachstan, Luxemburg, Moldawien, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Slowakei, Spanien, Türkei, Großbritannien, Ukraine, USA.

Chronik

  • 1973-1989: Verhandlungen über die gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen in Europa bleiben ohne Ergebnis.
  • 9. März 1989: Zwischen NATO und Warschauer Pakt beginnen Verhandlungen über die Begrenzung von konventionellen Streitkräften in Europa.
  • 19. November 1990: 22 NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten unterzeichnen in Paris den aus 23 Artikeln und einen umfangreichen Anhang bestehenden Vertrag über die Begrenzung von Streitkräften und Rüstungen in Europa (KSE-Vertrag).
  • Juni 1992: Die Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) unterzeichnen den Vertrag nach dem Ende der UdSSR.
  • 6. Juli 1992: Unterzeichnung des sogenannten KSE-1A-Abkommen, das Personalobergrenzen für die nationalen Streitkräfte festlegt und einer "abschließenden Akte" durch 29 NATO-Staaten und Exmitglieder des Warschauer Pakts in Helsinki.
  • 9. November 1992: Der KSE-Vertrag tritt in Kraft. Er begrenzt die Zahl der Kampfpanzer auf 40.000, gepanzerten Fahrzeuge (60.000), Artilleriegeschütze (40.000), Militärhubschrauber (4.000) und Kampfflugzeuge (13.600).
  • August 1999: 1. NATO-Osterweiterung um Polen, Tschechien und Ungarn.
  • November 1999: Die inzwischen 30 Vertragsstaaten unterzeichnen in Istanbul den an die neuen Verhältnisse adaptierten KSE-Vertrag. Dieser weist nun zulässigen Obergrenzen für die jeweilige Waffenart den einzelnen Staaten zu.
  • Mai 2002: Der Nato-Russland-Rat wird gebildet und soll u.a. Konsultationen über den KSE-Vertrag führen.
  • April 2004: 2. NATO-Osterweiterung um Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei.
  • Juni 2004: Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Moldawien, Russland, die Ukraine und Weißrussland treten dem angepassten KSE-Vertrag bei.
  • April -- Juni 2007: Russlands Präsident Putin kündigt bei weiterem Ausbleiben der Ratifizierung ein Moratorium der Vertragserfüllung an. Der NATO-Russland-Rat und eine Vertrags-Sonderkonferenz können die Meinungsverschiedenheiten nicht lösen.
  • 12. Dezember 2007: Russlands zeitweilige Suspendierung des KSE-Vertrages wird wirksam.
  • August 2008: Die NATO legt den NATO-Russland-Rat auf Eis. Moskau kündigt daraufhin an, die militärische Kooperation mit der NATO "einzufrieren".


* Dieser Beitrag erschien - gekürzt - unter dem Titel "Rogosin lässt die Bilder tanzen" in der Wochenzeitung "Freitag" vom 29. August 2008


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