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Wird der Mangel an gegenseitigem Verständnis ein neues Wettrüsten verursachen?

Von Alexander Chramtschichin, Moskau *

Die Situation um die Stationierung des amerikanischen Raketenschilds in Europa und die Gefahr eines russischen Moratoriums über die Teilnahme am Vertrag über die konventionellen Waffen (KSE) - all das sind eine Folge der Ambitionen der Seiten und deren Weigerung, gegenseitiges Verständnis an den Tag zu legen. Ein Resultat dieses "vielen Lärms um nichts" könnte eine Zuspitzung der bilateralen Beziehungen sein, was keine der Parteien braucht. Die Unzufriedenheit Russlands mit der Stationierung des amerikanischen Raketenschildes in Europa und mit der Situation um den KSE-Vertrag hat viele rationale Gründe. Praktisch alle Militärexperten in Russland sehen zwar ein, dass der amerikanische Raketenschild mit den jetzigen technischen Merkmalen keine Bedrohung für die strategischen Nuklearkräfte Russlands darstellt, doch bleibt für die russischen Beobachter weiterhin unklar, warum ausgerechnet Polen und Tschechien als Stationierungsorte gewählt wurden. Man kann sich unmöglich vorstellen, dass die amerikanischen Militärs im Ernst die Gefahr sehen, dass Iran interkontinentale ballistische Raketen entwickeln und diese gegen die USA abschießen wird. Dies gehört eher in den Bereich der Psychiatrie als in den der militärpolitischen Prognosen. Aus diesem Grund entsteht in Moskau automatisch der Verdacht, dass der Raketenschild eben nicht gegen Iran, sondern gegen Russland gerichtet ist. Dabei dominiert die Version, dass in den polnischen Raketensilos keine Abfangraketen vom Typ GBI, sondern Mittelstreckenraketen stationiert werden, die eine überaus kurze Anflugzeit bis zu den Zielen im europäischen Teil Russlands haben würden.

Außerdem verbietet der 1987 geschlossene Vertrag über die Raketen mittlerer und geringer Reichweite nur Russland und den USA, Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5 500 Kilometer zu haben. Für die USA hat das keine prinzipielle Bedeutung, weil sie keine Gegner in der westlichen Hemisphäre haben. Für Russland aber ist die Situation völlig anders. Kurz- und Mittelstreckenraketen werden von vielen der Länder produziert bzw. entwickelt, die in der Nähe der russischen Grenze liegen: Israel, Iran, Saudi-Arabien, Pakistan, Indien, China, Nordkorea… Von diesen Ländern lassen sich nur Indien und Nordkorea kaum als potentielle Gegner Russlands vorstellen.

Dementsprechend kommt Russland in die starke Versuchung, aus dem Vertrag über die Kurz- und Mittelstreckenraketen auszusteigen. In der Ural-Region oder in Sibirien stationierte Mittelstreckenraketen würden praktisch jeden Punkt in Eurasien erreichen können. Damit könnten auch der amerikanische Raketenschild in Osteuropa und die Raketenarsenale der oben erwähnten asiatischen Staaten kompensiert werden, ohne dass teurere interkontinentale ballistische Raketen diesem Zweck gewidmet werden.

Was den KSE-Vertrag anbelangt, so hat dieses Dokument, das unter völlig anderen geopolitischen Bedingungen geschlossen wurde, seinen Sinn in bedeutendem Maße verloren. Moskaus Unzufriedenheit mit der jetzigen Situation lässt sich durch mehrere Momente erklären. In erster Linie mit der "Grauzone" im Baltikum: Litauen, Lettland und Estland gehören nicht zum Vertrag und können theoretisch beliebig starke eigene Streitkräfte und ausländische Truppenkontingente auf ihrem Territorium haben. Die vom Vertrag vorgesehenen Flankenbeschränkungen verbieten indessen Russland, seine Streitkräfte auf eigenem Territorium nach eigenem Ermessen zu stationieren. Zugleich gelten Bulgarien und Rumänien laut Vertrag als Mitgliedsländer des Warschauer Paktes, obwohl sie längst zur Nato gehören.

Nicht akzeptabel ist auch die Tatsache, dass die Nato-Länder den "angepassten KSE-Vertrag" nicht ratifiziert haben, obwohl Russland seine Streitkräfte aus Georgien so gut wie vollständig abgezogen hat, während in Moldawien nur ein unbedeutendes Kontingent praktisch ohne schwere Kampftechnik geblieben ist. Es dient dort ausschließlich der Bewachung riesiger Waffendepots der Sowjetarmee. In diesem Fall schützt Russland faktisch Europa vor einer unkontrollierten Verbreitung von Waffen und Sprengstoff aus diesen Depots.

Russlands Einwände gegen den KSE-Vertrag sind zwar durchaus berechtigt, haben aber einen rein theoretischen Charakter. In der Praxis aber liegen sowohl die Streitkräfte Russlands als auch die eines jeden Nato-Landes unter den Quoten, die sowohl vom "alten", als auch vom „angepassten“ KSE-Vertrag vorgesehen sind. Die Streitkräfte der baltischen Länder und Sloweniens, die nicht zum KSE-Vertrag gehören, sind unbedeutend, auf dem Territorium dieser Länder gibt es keine ausländischen Kontingente - von vier Jagdflugzeugen abgesehen, die in Litauen stationiert sind. In keiner der fünf Klassen der Militärtechnik, für die vom KSE-Vertrag Einschränkungen vorgesehen sind, hat die Nato zumindest eine dreifache Überlegenheit über Russland, während die wirtschaftliche Überlegenheit der Nato über Russland - bei der absoluten BIP-Größe - nahezu 30-fach ist. Insofern wäre eine Auflösung des Vertrags für Russland absolut nicht einträglich, weil die Nato in dem Fall die Möglichkeit bekommen würde, ihre wirtschaftliche Überlegenheit in eine militärische zu verwandeln. Es geht nur darum, ob sich die europäischen Nato-Länder in ein neues Wettrüsten einbeziehen lassen. Sollte aber ein solches Wettrüsten beginnen, würde Russland ganz bestimmt aus dem Vertrag über die Kurz- und Mittelstreckenraketen aussteigen, um seine Schwachstellen bei den konventionellen Rüstungen wettzumachen. Eine Wiederaufnahme der Produktion von Mittelstreckenraketen des Typs Pionier würde dabei für Russland kein prinzipielles Problem darstellen, weil diese Raketen den interkontinentalen ballistischen Raketen vom Typ Topol sehr ähnlich sind. Der einzige nennenswerte Unterschied: Die Pionier-Raketen haben nicht drei, sondern nur zwei Stufen.

* Alexander Chramtschichin ist Chefanalyst des Instituts für politische und militärische Analyse in Moskau.
Dieser Beitrag wurde für RIA Novosti geschrieben und uns von dort dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. 29. Oktober 2007



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