Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Heute steht ihr auf Seiten derer, die aktive Beihilfe zum Völkermord leisten."

Ein Brief von Jürgen Grässlin an Bundestags-Abgeordnete der Grünen

Jürgen Grässlin
Freiburg, den 2. März 2001
Bundessprecher Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK) und Vorstandsmitglied Rüstungs-Informationsbüro Baden-Württemberg (RIB e.V.)

An
Angelika Beer, Annelie Buntenbach, Monika Knoche, Winfried Nachtwei, Claudia Roth, Christian Simmert, Christian Sterzing, Hans-Christian Ströbele, Sylvia Voß,
Mitglied des Deutschen Bundestags, Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Platz der Republik
11011 Berlin

OFFENER BRIEF
zur Kenntnisnahme Friedens- und Menschenrechtsbewegung und Medien


Betreff: Rot-grüne Rüstungsexportpolitik / Bericht in "Kontraste" vom 01.03.01

Liebe FreundInnen,
den gestrigen TV-Bericht von Roland Jahn und Susanne Opalka in "Kontraste" (Manuskript siehe Internet), in dem ich mich sehr kritisch über die Rot-Grüne-Rüstungsexportpolitik geäußert habe, nehme ich zum Anlass, mich auch persönlich an euch zu wenden.

Noch 1993 haben Angelika Beer (für den GRÜNEN Bundesvorstand) und ich (für das Rüstungs-Informationsbüro Baden-Württemberg/RIB e.V.) zusammen mit vielen weiteren Menschenrechts- und Friedensorganisationen gegen die vormalige CDU/CSU-FDP-Bundesregierung Strafanzeige wegen Erfüllung des "Tatbestands des Völkermordes nach §220 a STGB" in Sachen Rüstungsexporten gestellt.

In einem flammenden Plädoyer für Menschenrechte hat Angelika Beer im Fall der Türkei angemahnt: "Mitten in Europa herrscht Krieg - doch niemand sieht hin." Die "eigenen Kriegsverbrecher" dürfte man nicht weiter "ungestraft Beihilfe Völkermord am kurdischen Volk leisten" lassen. So Angelikas Forderung im Namen der GRÜNEN mit Blick auf die vormalige Bundesregierung.

Diese Forderung stimmte damals und stimmt immer noch. Inzwischen sind SPD und GRÜNE für die hemmungslose Rüstungsexportpolitik verantwortlich. Wer sind nach eurer Definition heute die "eigenen Kriegsverbrecher"?

Unter Rot-Gün stieg die Zahl deutscher Rüstungsexporte weiter an - auch in das Krisen- und Kriegsgebiet Türkei. So liegt die Türkei mit Waffentransfers in Höhe von rund 1,9 Milliarden DM mit deutlichem Abstand an erster Stelle der Empfängerländer.

Mittlerweile hat der Bundessicherheitsrat die Lieferung einer Munitionsfabrik (Kooperationsprojekt bei Beteiligung der deutschen Rüstungsfirma Fritz Werner) genehmigt. Bundesaußenminister Joschka Fischer hat dagegen votiert und ansonsten geschwiegen. Deutsche Munition aus deutschen Gewehrläufen ist die tödlichste Form der Beihilfe zum Massenmorden an Kurdinnen und Kurden!

Im Nahen Osten (siehe "Kontraste"-Bericht) werden weiterhin nahezu alle Staaten mit deutschen Waffen, Rüstungsgütern (bzw. deren Teile) beliefert. Ich erspare euch weitere Ausführungen - der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung von 1999 ist euch bekannt. Die Öffentlichkeit - so euer Glück - hat sich dafür bislang kaum interessiert. Dieser Tatbestand entschuldigt nichts und legitimiert auch nicht eure weitgehende Passivität.

Aus den genannten Fakten schließe ich: Heute steht ihr auf Seiten derer, die aktive Beihilfe zum Völkermord mit deutschen Waffen leisten. Bisher spielen Menschenrechte in der Rot-Grünen Rüstungsexportpolitik allenfalls auf dem Papier, nicht aber in der Praxis eine relevante Rolle. Ihr wollt oder könnt euch nicht gegen die deutsche Rüstungsindustrie durchsetzen - das kann ich nicht beurteilen. Offensichtlich aber ist, dass das Profitinteresse der Rüstungskonzerne über eure Schönwetterreden einer "glaubwürdigen Menschenrechtspolitik" dominiert. Politik ist kein Zustand, den man erdulden muss - Politik wird gemacht und umgesetzt: im Fall von Rüstungsexporten seitens der Bundesregierung und der untergeordneten Behörden.

Gerne bin ich bereit, mit euch in persönlichen und öffentlichen Gesprächen über die Gründe, Fakten und Änderungsmöglichkeiten der Rot-Grünen-Exportpolitik in einen intensiven Meinungsaustausch zu treten. Ich bin mir sicher, dass eine Vielzahl von Menschenrechts- und Friedensorganisationen an diesem Diskussionsprozess teilhaben wollen.

Nach Erkenntnissen des "Forum Rüstungsexporte der deutschen Nichtregierungsorganisationen" könnte die Lieferung der Munitionsfabrik von Fritz Werner kurzfristig noch gestoppt werden. Ihr solltet alles Menschenmögliche unternehmen, um diesen Transfer zu verhindern. Weitere Waffenexporte und Lizenzvergaben (z.B. Großwaffensysteme sowie Handfeuerwaffen, z.B. das Gewehr G36) - gerade in die Türkei und an andere menschenrechtsverletzte Regierungen bzw. Regime - dürfen nicht erfolgen.

Euren Vorschlägen sehe ich mit gespannter Erwartung entgegen. Bitte handelt jetzt!

Liebe Grüße
Jürgen Grässlin
Bundessprecher DFG-VK, RIB-Vorstand

Zu weiteren Beiträgen über Rüstung und Rüstungsexport

Zurück zur Homepage