Der Stand der Dinge – Gegensätzliche Trends in der globalen Sicherheit
Von Hans Blix *
Wir haben das Privileg, in einer Ära zu leben, die wie
nie zuvor von globaler Interdependenz, internationalem
Handel und kulturellem Austausch geprägt ist.
Informationen verbreiten sich unmittelbar und unseren
Möglichkeiten, um den Globus zu reisen, sind keine
Grenzen gesetzt. Zwischen den Großmächten bestehen
keine tiefen ideologischen Gräben und verhärteten
Fronten mehr, stattdessen treten diese Staaten
ebenfalls in eine – durch Handel und andere wirtschaftliche
Aktivitäten bedingte – komplexe Symbiose ein. Die
Angst vor einem größeren Schlagabtausch der Supermächte
ist verblasst.
Für immer mehr Menschen wird die Welt schrittweise
besser und sicherer. Die Zahl der Kriege und bewaffneten
Konfl ikte geht stetig zurück und die Zahl der Opfer in
den Konfl ikten, die noch ausgetragen werden, ist ebenfalls
niedriger als früher. Das Streben der Staaten nach
Sicherheit vor Bedrohungen und Angriffen von außen ist
indes um viel umfassendere Bemühungen ergänzt und
erweitert worden, um die Sicherheit des Einzelnen gegenüber
Bedrohungen wie Hunger, Natur- und Umweltkatastrophen,
Gewalt und Unterdrückung zu gewährleisten
– selbst wenn diese Bedrohung vom eigenen
Staat ausgeht.
Die Globalisierung hat uns historisch einmalige Anreize
für die internationale Zusammenarbeit geliefert. Gleichzeitig
zwingen uns die heutigen Sicherheitsrisiken geradezu
zur Kooperation – sie ist unverzichtbar, wenn wir in
der Lage sein wollen, diesen Gefahren zu begegnen.
Viren wie z.B. die Vogelgrippe breiten sich auch ohne
Visum in der Welt aus und es bedarf gemeinsamer Anstrengungen,
sie zu stoppen. Wir alle teilen uns die Atmosphäre
der Erde und gemeinsam müssen wir gegen
die drohende globale Erwärmung vorgehen. Der technologische
Fortschritt hat auch der organisierten Kriminalität
und den Terrornetzwerken neue Vorgehensweisen
und Betätigungsfelder beschert. Die Bedrohung,
die von solchen Gruppen ausgeht, kennt keine Grenzen.
Um sie wirksam zu bekämpfen, müssen wir zusammenarbeiten.
Die erste Weltorganisation, der Völkerbund, hatte nur
wenig mehr als zwanzig Jahre Bestand – nämlich zwischen
dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Folgeorganisation,
die Vereinten Nationen, besteht jetzt
schon seit mehr als sechzig Jahren.
Zur gleichen Zeit bauen sich aber neue Spannungen
zwischen Russland und China auf der einen sowie den
USA und Westeuropa auf der anderen Seite auf. Die
globalen Militärausgaben haben ein Niveau von deutlich
über einer Billion US-Dollar jährlich erreicht. Die internationalen
Verhandlungen über Rüstungskontrolle
und Abrüstung sind völlig zum Erliegen gekommen. Die
Gespräche in den internationalen Foren werden von
Misstrauen und Zerwürfnissen behindert.
Statt konstruktiv zu verhandeln, bewegen wir uns auf
ein neues Wettrüsten zu, das nicht durch konträre politische
Interessen angetrieben wird, sondern durch das
Bestreben, sich für eine ungewisse Zukunft strategisch zu
positionieren. Die USA sind entschlossen, ihre absolute
militärische Vormachtstellung zu erhalten, und andere
Mächte fürchten, an Einfl uss zu verlieren, wenn sie zu
sehr in Rückstand geraten. Wir erleben eine Neuaufl age
der Politik des Kalten Krieges ohne Kalten Krieg – mit
anderen Worten, einen Kalten Frieden.
Das sind anscheinend widersprüchliche Trends. Das
Fenster der Möglichkeiten, eine neue Weltordnung auf
der Grundlage kooperativer Sicherheit zu schaffen, das
sich nach dem Ende des Kalten Krieges geöffnet hatte,
blieb ungenutzt und die Sicherheits- und Verteidigungspolitik
der Staaten verläuft weiter in den alten Bahnen,
während die Globalisierung auf anderen Gebieten geradezu
explosionsartig voranschreitet.
Frieden und Abrüstung durch kooperative Sicherheit
Um die aktuellen Rüstungs- und Abrüstungstrends angemessen
darzustellen, sind zunächst die derzeitigen Entwicklungen
bei der internationalen Sicherheit insgesamt
zu betrachten. Wenn die Bemühungen um Abrüstung,
Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung (Nonproliferation)
erfolgreich sein sollen, müssen sie von der Prämisse
ausgehen, dass Staaten, die auf Massenvernichtungswaffen
(WMD) verzichten oder sie abschaffen sollen,
sich auch ohne solche Waffen ausreichend sicher
fühlen müssen. Voraussetzung dafür wiederum ist eine
glaubwürdige internationale Sicherheitsarchitektur, die
allen Staaten ein Gefühl der Sicherheit gibt – nicht nur
den wenigen, die stark und mächtig genug sind, sich
selbst zu verteidigen.
Lassen Sie mich also einmal den aktuellen Stand der
völkerrechtlichen Regelungen beleuchten, die Teil dieser
Architektur sind und die die Anwendung von Gewalt
zwischen den Staaten unterbinden sollen.
Die Autoren, die 1945 in San Francisco die UN-Charta
verfasst haben, waren keine Pazifi sten. Sie wussten aber
um die Gräuel des Krieges und schrieben deshalb in
Artikel 2.4 der Charta ein generelles Verbot der Androhung
oder Anwendung von Gewalt zwischen den Mitgliedern
fest, das lediglich zwei Ausnahmen vorsah:
-
Erstens haben die Staaten „im Falle eines bewaffneten
Angriffs“ das Recht zur Gewaltanwendung, um
sich selbst zu verteidigen, bis der Sicherheitsrat die
nötigen Maßnahmen ergreift. Dieses Recht wurde im
Allgemeinen so interpretiert, dass es die Anwendung
von Gewalt auch im Falle eines „unmittelbar bevorstehenden“
Angriffs zulässt, d.h. die Staaten müssen
nicht abwarten, bis Bomben auf ihr Gebiet fallen,
sondern können die Bomber sogar außerhalb ihres
Hoheitsgebietes abfangen.
- Zweitens kann der Sicherheitsrat in allgemeiner gelagerten
Fällen, insbesondere wenn er zu dem Schluss
kommt, dass eine „Bedrohung oder ein Bruch des
Friedens oder eine Angriffshandlung“ vorliegt, über
die Anwendung von Gewalt entscheiden oder diese
autorisieren.
Während des Kalten Krieges war der Sicherheitsrat durch
das Vetorecht, das jedem der fünf ständigen Mitglieder
eingeräumt worden war, in seinem Handlungsvermögen
weitgehend blockiert. Diese Situation änderte sich
jedoch mit dem Ende des Kalten Krieges gewaltig. Konsensentscheidungen
wurden nun im Sicherheitsrat zur
Regel. Am bedeutsamsten war die Entscheidung von
1991, als der Sicherheitsrat der von US-Präsident George
H. Bush zusammengerufenen breiten Allianz die Befugnis
gab, Gewalt anzuwenden, um Iraks eklatante Aggression
gegen Kuwait und seine Besetzung des Landes
zu beenden. Präsident Bush Senior sprach damals von
einer „neuen Weltordnung“.
Bedauerlicherweise hatte diese Ordnung aber nicht
lange Bestand. Im März 2003 marschierte die Allianz der
willigen Staaten im Irak ein, ohne dass ein bewaffneter
Angriff erfolgt war und ohne dass der Irak eine direkte
Bedrohung darstellte – und in vollem Bewusstsein der
Tatsache, dass der Sicherheitsrat den Angriff nicht billigen
würde. Die politische Rechtfertigung für den Krieg
gegen den Irak bestand vor allem in der Behauptung,
der Irak besitze und entwickele Massenvernichtungswaffen
und handele damit mehreren Resolutionen des
UN-Sicherheitsrates zuwider. Es ist unwahrscheinlich,
dass irgendein anderes Argument den US-Kongress
oder das britische Parlament dazu hätte bewegen können,
einem Vorgehen mit Waffengewalt zuzustimmen.
Die USA sagten zwar nicht offi ziell, dass ein Krieg als
Präventivschlag gegen die irakische Bedrohung gerechtfertigt
sei, aber zweifelsohne war dies die gängige
Sichtweise. Diese Vermutung wird durch die Nationale
Sicherheitsstrategie der USA, die im September 2002
veröffentlicht worden war, weiter untermauert. Darin
stand ganz unverblümt, dass es im Zeitalter der Raketen
und Terroristen unangemessen sei, das Recht zum Waffeneinsatz
zur Selbstverteidigung auf Situationen zu beschränken,
in denen ein „bewaffneter Angriff“ bereits
erfolgt sei oder „unmittelbar bevorstehe“ (die Voraussetzungen,
unter denen ein Verteidi gungsschlag in weiten
Kreisen als gerechtfertigt akzeptiert wird). Stattdessen
wurde konstatiert, die USA fühlten sich berechtigt,
einer entstehenden Bedrohung durch „Schurkenstaaten“
oder Terroristen mit einer militärischen Intervention
zu begegnen – notfalls auch unilateral und ohne
Billigung durch die UN. Die USA brauchten von niemandem
einen „Erlaubnisschein“.
Aus meiner Sicht zeigen die Sicherheitsstrategie von
2002 und der Krieg von 2003, dass die Bush-Administration
die völkerrechtlichen Beschränkungen, die die USA
1945 selbst mit formuliert hatten, über Bord geworfen
haben. Und es sind auch wohl kaum die restriktiven Bestimmungen
der UN-Charta, die die USA im Fall des Iran
bis jetzt zurückgehalten haben.
Wie groß der Schaden wirklich ist, den die nicht gebilligte
Invasion des Irak 2003 den völkerrechtlichen Beschränkungen
des Einsatzes von Waffengewalt zugefügt
hat, lässt sich schwer bestimmen. Diese Beschränkungen
sind auch schon früher von anderen missachtet
worden, insbesondere während des Kalten Krieges. Allerdings
ging solchen Aktionen nie die Verabschiedung
einer nationalen Doktrin voraus, die einer Aufkündigung
dieser Restriktionen gleichkam.
Sicher ist, dass sich die bereits vorhandenen Zweifel an
der Effektivität der UN-Charta – Zweifel, die mit dem
Golfkrieg 1991 und dem neuen Gewicht des Sicherheitsrates
nachgelassen zu haben schienen – mit dem
Golfkrieg 2003 gewaltig zurückmeldeten. Hier haben
wir es mit einer potenziell sehr gefährlichen Entwicklung
zu tun. Wenn jeder Staat das Recht hätte, gegen jeden
Staat, der angeblich eine Bedrohung darstellt, einen
Präventivkrieg zu führen, so wäre das gelinde gesagt
destabilisierend.
Aber das Fenster, das sich am Ende des Kalten Krieges
aufgetan hat, ist noch nicht wieder völlig geschlossen.
Tatsächlich könnten wir uns bald erneut in einer Phase
der Möglichkeiten befi nden. Der Fehlschlag des Krieges
im Irak – eine kostspielige Demonstration der Grenzen
militärischer Macht – hat selbst die derzeitige US-Administration
zu der Erkenntnis geführt, dass sie die Welt allein
nicht verändern kann. Inzwischen nimmt die Regierung
in Sachen internationale Sicherheit eine deutlich
kooperativere und versöhnlichere Haltung ein als noch
vor wenigen Jahren. Ich betrachte es als ein positives
Zeichen, dass der ehemalige US-Botschafter bei den
Vereinten Nationen, John Bolton, seine ernstliche Unzufriedenheit
mit der derzeitigen Außenpolitik der Bush-
Administration ausgedrückt hat.
Wichtiger als die feine politische Kursänderung in der
zweiten Amtszeit von Präsident Bush ist jedoch die Tatsache,
dass die internationalen Beziehungen sowie
Frieden und Sicherheit in der Welt inzwischen zu heißen
Themen der amerikanischen politischen Debatte
geworden sind. Es besteht die Chance, dass Amerika
nach den Wahlen im November bei den Bemühungen
um stärkere multilaterale Institutionen und kooperative
Sicherheit wieder eine Führungsrolle übernimmt. Ich will
damit nicht sagen, dass das allein das Wundermittel
sein könnte, das generelle Rettung bringt. Aber gewiss
hätte die internationale Gemeinschaft einen besseren
Stand, wenn die USA bei dieser Entwicklung das Steuer
ergriffen, statt in die Bremsen zu treten.
Die Abrüstung neu beleben
Im Kalten Krieg waren es die Risiken eines atomaren
Krieges und der sicheren gegenseitigen Vernichtung,
die uns Sorgen bereiteten. Und das zu Recht, denn wir
sind einem solchen Krieg ja ein paar Mal gefährlich
nahe gekommen. Aus dieser Furcht heraus und dank
einer Achtung verdienenden politischen Führung kam
es zu direkten Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen
den USA und der Sowjetunion über Maßnahmen
zur Rüstungskontrolle und eine Reduzierung der vorhandenen
Waffenbestände. Diese Entwicklung setzte sich
in der ersten Hälfte der 1990er Jahre fort: 1993 wurde
nach über 20-jährigen Verhandlungen das Übereinkommen
zum Verbot von Chemiewaffen abgeschlossen,
1995 wurde der Vertrag über die Nichtverbreitung
von Kernwaffen (NVV) auf unbegrenzte Zeit verlängert;
1996 wurde der Umfassende Atomteststoppvertrag
(CTBT) verabschiedet und die Bestände an nuklearen
Sprengköpfen wurden von gut 55.000 zu Spitzenzeiten
während des Kalten Krieges auf nunmehr rund 27.000
reduziert.
Die vergangenen zehn Jahre jedoch waren eine düstere
Zeit in den internationalen Verhandlungen über
Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung. Die
Abrüstungskonferenz in Genf, das wichtigste internationale
Verhandlungsforum zur Abrüstung, war von Misstrauen,
taktischen Manövern und Verhandlungsblockaden
überschattet. In mehr als zehn Jahren ist es der
Konferenz nicht einmal gelungen, ein Arbeitsprogramm
zu verabschieden. Das letzte Ergebnis, der Atomteststoppvertrag,
ist nach wie vor nicht in Kraft getreten. Bei
der Konferenz zur Überprüfung des Nichtverbreitungsvertrags
im Mai 2005 konnten sich die Delegierten nicht
einmal auf ein Abschlussdokument verständigen und
beim UN-Gipfel im September desselben Jahres wurde
das gesamte Kapitel Abrüstung und Nichtverbreitung
aus dem Schlussdokument ausgeklammert, weil die Mitgliedstaaten
sich nicht auf den Wortlaut einigen konnten.
Dieser Stillstand in den internationalen Abrüstungsverhandlungen
ist schwerwiegend. Noch besorgniserregender
sind jedoch die zunehmenden Indizien dafür,
dass wir uns sogar rückwärts bewegen und in ein erneutes
Wettrüsten abgleiten. In den letzten paar Jahren mehren
sich die Anzeichen: Die US-Regierung strebt die Entwicklung
einer neuen Standardkernwaffe an (Reliable
Replacement Warhead – auf Deutsch: „Zuverlässiger
Austauschsprengkopf“) und hat ihren Haushaltsansatz
für das Raketenabwehrprojekt 2007 auf elf Milliarden
US-Dollar aufgestockt; China hat seine Streitkräfte modernisiert
und einen seiner Wettersatelliten abgeschossen,
womit es seine Fähigkeit zu Militäraktionen im Weltraum
unter Beweis gestellt hat; Russland hat die routinemäßigen
Langstreckenfl üge nuklear bewaffneter
Flugzeuge wieder aufgenommen und Großbritannien
hat beschlossen, sich die Option der Fortführung seines
nuklearen U-Boot-Programms Trident offen zu halten.
Gleichzeitig hat Nordkorea einen zumindest teilweise
erfolgreichen Atombombentest durchgeführt und damit
jegliche Zweifel der internationalen Gemeinschaft
an seiner Kernwaffenfähigkeit ausgeräumt. Der Iran arbeitet
weiter am Aufbau seiner Kapazität zur Urananreicherung,
die in Zukunft dazu genutzt werden könnte,
waffenfähiges Material herzustellen, was diese ohnehin
sehr fragile Region weiter destabilisieren würde.
Es ist an der Zeit, dass wir dieser Realität ins Auge sehen
und die internationalen Abrüstungsanstrengungen
mit neuem Elan angehen. Der Nichtverbreitungsvertrag
bleibt der wichtigste Eckpfeiler der internationalen Bemühungen
um eine atomwaffenfreie Welt. In einem
großartigen Versuch, die Welt von Atomwaffen zu befreien,
verpfl ichteten sich die unterzeichneten Nichtnuklearwaffenstaaten
dazu, keine Kernwaffen zu beschaffen,
während sich die damals fünf Nuklearmächte im
Gegenzug dazu bereit erklärten, ohne Hintergedanken
über die nukleare Abrüstung zu verhandeln.
Da es inzwischen vier Nuklearmächte mehr gibt als in
den 1970er Jahren und nach wie vor zehntausende
Kernwaffen vorhanden sind, hat der Nichtverbreitungsvertrag
seine Ziele offenkundig noch nicht erreicht. Es
gibt sogar einige Stimmen, die vor einem möglichen
Scheitern des Vertrags und einer „Kaskade“ von Staaten
warnen, die Kernwaffen entwickeln. In mehrfacher
Hinsicht war der NVV jedoch ein großer Erfolg. Nur drei
Staaten – Indien, Israel und Pakistan – sind dem Vertrag
nicht beigetreten. Weiterhin sind es – neben den
fünf anerkannten Atommächten – nur diese drei Staaten
und möglicherweise Nordkorea, die heute de facto
Kernwaffen besitzen. Der Irak und Libyen haben es
versucht, wurden aber daran gehindert. Der Iran steht
unter Verdacht. Die gute Nachricht aber ist, dass die
Welt heute nicht von Beinahe-Nuklearwaffenstaaten
wimmelt.
Es sollte auch beachtet werden, dass Weißrussland, Kasachstan
und die Ukraine, die Kernwaffen auf ihrem Territorium
hatten, diese an Russland abgegeben haben
und dem Nichtverbreitungsvertrag beigetreten sind.
Südafrika hat ebenfalls Abstand vom Nuklearwaffenstatus
genommen. Andere Länder, darunter auch mein
Heimatland Schweden, lehnen Nuklearwaffen ab und
unterstützen die Idee einer atomwaffenfreien Welt.
Heute leidet der NVV allerdings unter einem Vertrauensdefizit. Die Staaten, die auf Nuklearwaffen verzichtet
haben, sind nicht damit zufrieden, dass die Zahl der
Kernwaffen seit dem Kalten Krieg abgenommen hat. Sie
monieren, dass die Vertragsparteien, die über Kernwaffen
verfügen und die eigentlich einen Zeitplan für den
schrittweisen Abbau ihrer Arsenale vorlegen sollten, de
facto genau das Gegenteil tun – nämlich Zeitpläne für
die Modernisierung ihrer Waffensysteme aufstellen.
Bestehen denn dann überhaupt Aussichten auf die dringend
nötige Wiederaufnahme der Rüstungskontrolle
und Abrüstung? Einige bedeutsame Anzeichen weisen
darauf hin, dass wir uns möglicherweise auf eine neue
Phase der Möglichkeiten zu bewegen, die Hoffnung auf
internationale Abrüstung und die Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen bietet.
Der Artikel, den die ehemaligen nationalen Sicherheitsarchitekten
Henry Kissinger, George Schultz, William
Perry und Sam Nunn im Januar 2007 im Wall Street
Journal veröffentlichten [1], und die daran anknüpfende
Diskussion 2008 haben neue Hoffnung geweckt, dass
ein breiter politischer Konsens über die Notwendigkeit
weiterer Abrüstung erzielt werden kann. In ihrem
Artikel haben diese vier erfahrenen Staatsmänner und
ehemaligen amerikanischen Sicherheitsarchitekten
die USA dringend aufgefordert, in einer gemeinsamen
Initiative mit den anderen Kernwaffenstaaten für
eine schrittweise nukleare Abrüstung die Führung zu
übernehmen. Die Autoren riefen dazu auf, mit neuer
Führungskraft und Mut daranzugehen, die unzeitgemäße
Politik der abschussbereiten Dislozierung von Kernwaffen
zu ändern und die Vorwarnzeiten zu verlängern, um
die Gefahr eines versehentlichen oder unbefugten
Einsatzes zu verringern. Des Weiteren argumentierten
sie aus der Sicherheitsperspektive sehr überzeugend
für eine weitere Reduzierung der Kernwaffenbestände,
erneute Bemühungen um das Inkrafttreten des CTBT
und Verhandlungen für ein Verbot der Herstellung von
spaltbarem Material für Waffenzwecke.
Mit einer neuen Führungsriege in Washington, Moskau
und andernorts – einer neuen Generation internationaler
Führungskräfte – öffnet sich das Fenster der Möglichkeiten
wieder und wir haben die Chance, unsere Beziehungen
neu zu gestalten und unsere Positionen zu überdenken.
Es ist an der Zeit, uns von den veralteten militärischen
Strategien des Kalten Krieges zu verabschieden
und uns den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
gemeinsam zu stellen.
Die großen Veränderungen der internationalen Szene
in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt die schon
beschriebene Zunahme der globalen Interdependenz
und der revolutionäre technologische Fortschritt, haben
die Bedrohung für unsere Sicherheit und die Mittel,
die zur Verteidigung gegen diese Gefahren nötig sind,
in fundamentaler Weise verändert. Im Kampf gegen
den internationalen Terrorismus oder zur Beendigung
von Gräueltaten in ethnischen Konfl ikten haben Kernwaffen
keinerlei sinnvolle Funktion. Heute gibt es keine
denkbare Einsatzmöglichkeit für Kernwaffen mehr und
der abschreckende Effekt verliert zunehmend an Wirkung.
In Regionen, in denen die Abschreckung eine
echte Grundlage für den Erhalt der Sicherheit sein könnte,
sind andere Maßnahmen, wie z.B. die Einbindung in
die Strukturen der internationalen Gemeinschaft, wahrscheinlich
wirkungsvoller.
Die Kommission zu Massenvernichtungswaffen – Schritte auf dem Weg zur Abrüstung
Am 1. Juni 2006 hat die Kommission zu Massenvernichtungswaffen,
deren Vorsitz zu führen mir eine Ehre war,
ihren Bericht Weapons of Terror: Freeing the World of
Nuclear, Biological and Chemical Arms [2] vorgelegt. Der
Bericht ist auf die folgende unzweideutige Prämisse
gegründet: „(…) solange irgendein Staat [Massenvernichtungswaffen]
– insbesondere Kernwaffen – besitzt,
werden andere auch solche Waffen haben wollen.
Solange sich irgendwelche Waffen dieser Art in den
Arsenalen irgendeines Staates befi nden, besteht das
Risiko, dass sie eines Tages eingesetzt werden könnten,
mit Absicht oder aus Versehen. Jeglicher Einsatz wäre
eine Katastrophe.“ Der Bericht wurde von den 14 Kommissionsmitgliedern,
renommierten Experten mit unterschiedlichem
Hintergrund aus verschiedenen Teilen der
Welt, einstimmig verabschiedet. Er greift einige Ideen
aus früheren Arbeiten auf, beinhaltet aber auch eine
Reihe neuer Empfehlungen. Insgesamt 60 Empfehlungen,
davon 30 zum Thema Kernwaffen, weisen mögliche
neue Marschrouten auf dem Weg zur Abschaffung
sämtlicher Massenvernichtungswaffen aus. Zwei Jahre
nach der Vorstellung des Berichts haben wir ein bedeutendes
Ziel erreicht, nämlich das Thema ganz oben auf
der Tagesordnung zu halten und bereit zu sein, sobald
das Klima für Abrüstungsverhandlungen günstiger wird.
Die Kommission hat alle Vertragsparteien des Nichtverbreitungsvertrages
dringend aufgefordert, zu den
ursprünglichen Abmachungen des Vertrages zurückzukehren.
Die Glaubwürdigkeit dieser Regelung und
das Vertrauen in ihre Wirksamkeit muss wieder hergestellt
werden. Außerdem haben wir zahlreiche konkrete
Maßnahmen vorgeschlagen, um die Abrüstungsagenda
voranzubringen.
Wie die Kommission betonte, gibt es nichts Wichtigeres
als dafür zu sorgen, dass der Umfassende Kernwaffenteststoppvertrag
(CTBT) in Kraft treten kann. Die noch
ausstehende Ratifi zierung durch neun der 44 Annex-2-
Staaten – Ägypten, China, Indien, Indonesien, Iran, Israel,
Nordkorea, Pakistan und die USA – verhindert dies
bislang. Das Inkrafttreten des CTBT ist von entscheidender
Bedeutung für die Bemühungen, die Entwicklung
einer neuen Generation von Kernwaffen zu verhindern
und die Sicherheitspolitik von der nuklearen Abschreckung
unabhängig zu machen. Das Inkrafttreten des
CTBT würde die Uhren für die globale nukleare Abrüstung
neu stellen und der Welt signalisieren, dass die führenden
Nationen sich wieder fest zu ihren Abrüstungszusagen
bekennen.
Trotz des Zögerns einiger entscheidender Staaten, den
CTBT zu ratifi zieren, gibt es starken politischen Widerstand
gegen die Durchführung von Atomwaffentests.
Seit dem Abschluss des CTBT 1996 haben nur Indien,
Pakistan und im vergangenen Jahr Nordkorea Tests
durchgeführt. Die internationale Gemeinschaft reagierte
darauf nahezu geschlossen mit einer Verurteilung.
Nordkoreas Kernwaffentest am 9. Oktober 2006 wurde
vom Sicherheitsrat einstimmig verurteilt – ebenso wie
der indische und der pakistanische Test im Mai 1998.
Bemerkenswert war, dass der nordkoreanische Test
vom Sicherheitsrat ausdrücklich als eine Bedrohung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gewertet
und mit Sanktionen beantwortet wurde.
Die zweitwichtigste Aufgabe besteht darin, zu einer Vereinbarung
über einen verifi zierbaren Vertrag zu kommen,
der die Herstellung von spaltbarem Material für
Waffenzwecke verbietet. In Verbindung mit der weiteren
Reduzierung der vorhandenen Atomwaffen könnte
ein verifi ziertes Verschließen der Quelle für waffenfähiges
spaltbares Material dazu beitragen, den weltweiten
Atombombenbestand zu verringern.
Des Weiteren könnten alle Nuklearwaffenstaaten Schritte
unternehmen, um ihre strategischen nuklearen Arsenale zu verkleinern. Die USA und Russland, die über die
größte Zahl solcher Waffen verfügen, sollten dabei die
Führung übernehmen. Alle Staaten, die Kernwaffen besitzen,
sollten sich kategorisch dazu verpfl ichten, keinen
Ersteinsatz in Betracht zu ziehen, und die USA und Russland
sollten ihre Kernwaffen in einem Akt der Gegenseitigkeit
aus der Alarmbereitschaft herausnehmen. Mit
der zunehmenden Kooperation zwischen Russland und
der Europäischen Gemeinschaft sollten die russischen
Atomwaffen aus den vorderen Dislozierungspositionen
in zentrale Lager zurückgezogen und alle US-Atomwaffen
auf amerikanisches Territorium zurückverlegt werden.
Wenn die Abhängigkeit von Kernkraft wie erwartet zunimmt,
ist auch der steigende Produktionsbedarf für
gering angereichertes Uran und für die Entsorgung des
abgebrannten Brennstoffs vorherzusehen. Dies muss in
solcher Weise geschehen, dass das Risiko der Proliferation
und des Abzweigens von Nuklearmaterial nicht
zunimmt. Es liegen verschiedene Vorschläge dazu auf
dem Tisch, und es sollte ausgelotet werden, welche
Möglichkeiten bestehen, internationale Vereinbarungen
zu treffen, die die Verfügbarkeit von Kernbrennstoff
für zivile Reaktoren sicherstellen und gleichzeitig das Risiko
der Kernwaffenverbreitung auf ein Minimum reduzieren.
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA),
in der diese Themen derzeit diskutiert werden, ist das am
besten geeignete Forum für diese Aufgabe. Die Herstellung
von hoch angereichertem Uran sollte schrittweise
beendet werden.
Es sollten regionale Ansätze verfolgt werden, insbesondere
in Spannungsgebieten. Es wäre wünschenswert,
die Staaten des Nahen Ostens (einschließlich des Iran
und Israels) dazu zu bewegen, einer längerfristigen verifi
zierten Suspendierung der Produktion von hoch angereichertem
Uran und Plutonium zuzustimmen, die
durch internationale Zusagen über die Lieferung von
Brennstoff für zivile Kernkraftwerke flankiert würde. Eine
ähnliche Regelung ist für die koreanische Halbinsel vorgesehen.
Und schließlich sind Inspektionen durch internationale
Experten, so wie sie von den Vereinten Nationen, der
IAEA und der Chemiewaffenbehörde (OPCW) durchgeführt
werden, weiterhin ein wichtiges und wirksames
Instrument zur Verifizierung, das genutzt und weiterentwickelt
werden sollte. Internationale Inspektionen stehen
nicht in Widerspruch zu nationalen Verifizierungsmaßnahmen.
Im Gegenteil, die Datenerhebungsverfahren
können sich gegenseitig ergänzen. Viele Staaten
verfügen über keine eigenen Mittel zur Verifizierung und
sollten dadurch nicht von anderen abhängig werden.
Staaten, die selbst solche Quellen besitzen, könnten ihre
Informationen in einer Art Einbahnstraßen-Regelung an
die internationalen Verifizierungssysteme liefern. Internationale
Berichte können den Regierungen auch die
Chance bieten, ihre nationalen Systeme einer Qualitätskontrolle
zu unterziehen und ihre Ergebnisse bestätigen zu lassen.
Schlussbemerkungen
Eine der größten Herausforderungen für die derzeitige
Generation politischer Führer besteht darin, mit der bemerkenswerten
Kriegs- und Zerstörungskapazität fertig
zu werden, die die Menschheit erlangt hat und die sich
in ihrer schlimmsten Form in Kernwaffen manifestiert. Es
ist absolut unerlässlich, dass wir die Abrüstung wieder in
Gang bringen und mit verdoppelten Anstrengungen
eine weitere Proliferation derartiger Waffen verhindern.
Den heutigen Bedrohungen unserer Sicherheit können
wir nicht mit der Herangehensweise des Kalten Krieges
begegnen. Wir brauchen eine kühle Analyse der real
vor uns liegenden Herausforderungen und zeitgemäße
Antworten auf die Bedrohungen.
Es sind zwar einige wirklich besorgniserregende Entwicklungen
festzustellen, aber insgesamt schätze ich
die Aussichten für Frieden und Abrüstung als gut ein. Wir
brauchen keine neue Roadmap oder bahnbrechende
politische Formel. Der Weg, der vor uns liegt, mag zwar
nicht einfach sein, aber wir kennen ihn. Die Pläne für
Fortschritte liegen auf dem Tisch. Ein großer Teil der Verantwortung
liegt bei den Staaten, die Kernwaffen besitzen
– aber wir alle müssen das Unsere dazutun.
Fußnoten-
Schultz, George P., William J. Perry, Henry A. Kissinger and
Sam Nunn. 2007. “A World Free of Nuclear Weapons.”
January 4; Page A15, Wall Street Journal
[Siehe auf unserer Website: "Für eine Welt ohne Atomwaffen"]
-
auf Deutsch: Waffen des Terrors: Die Welt von nuklearen,
biologischen und chemischen Waffen befreien
* Prof. Dr. Hans Blix ist Vorsitzender der International Commission
on Weapons of Mass Destruction, Stockholm, und Mitglied des Internationalen Beirats des BICC.
Quelle: Website des BICC; www.bicc.de
Der vollständige Jahresbericht des BICC kann hier heruntergeladen werden:
www.bicc.de (pdf-Datei)
Hier geht es zu einer Zusammenfassung des BICC-Berichts:
Alarmierende Fakten: Rüstungsausgaben auf neuer Rekordhöhe
Zu weiteren Beiträgen über Rüstung und Rüstungsexport
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