Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Neuer Abrüstungsvertrag: Kuhhandel um Topol-Raketen und Raketenabwehr

Von Ilja Kramnik *

Am 8. April haben Russland und die USA einen Vertrag zur weiteren Reduzierung und Einschränkung von strategischen Offensivwaffen (START-Vertrag) unterzeichnet.

Der in Prag geschlossene Vertrag soll gleich zwei Dokumente ersetzen: Den START-1-Vertrag, den die Sowjetunion und die USA 1991 unterzeichneten und der im Dezember 2009 abgelaufen war, sowie das SORT-Abkommen, das Russland und die USA 2002 besiegelten.

Der neue Vertrag begrenzt die Atomwaffenarsenale der beiden Länder auf 1550 Gefechtsköpfe, wie bereits früher berichtet wurde. Die Zahl der stationierten Träger ist auf 700 Stück für jede Seite begrenzt worden. Die Gesamtzahl inklusive der Träger, die nicht stationiert sind, beläuft sich auf 800 Stück. Die Träger schließen Startrampen für ballistische Interkontinentalraketen, ballistische U-Boot-Raketen und schwere Bomber ein.

Die neue Konstellation des strategischen atomaren Gleichgewichts lässt sich dem Vertrag zufolge mit folgenden Aspekten darstellen.

1. Anders als bei START-1 werden im neuen Vertrag die Fläche und Zahl der Stellungsräume der mobilen bodengestützten Raketensysteme (beispielsweise Topol, Topol-M, Jars) nicht beschränkt.

2. Der Vertrag setzt rigorose Grenzen für die Zahl der eingelagerten Träger. Auch die Gesamtmaximalzahl der Träger wird stark begrenzt. Das gleicht die Möglichkeiten der USA und Russlands zur Erhaltung der Atomwaffenarsenale in großem Maße aus.

3. Der Vertrag enthält keine Beschränkungen für die Entwicklung der US-Raketenabwehrsysteme (ABM-Systeme). Dabei wird aber die Verknüpfung zwischen den Defensiv- und Offensivwaffen anerkannt.

Russland hat sich das Recht vorbehalten, aus dem Vertrag auszusteigen, falls es sich bedroht fühlt durch den Aufbau der amerikanischen ABM-Systeme. Dieses Recht wird in einer Sondererklärung festgehalten, die die russische Seite gleichzeitig mit dem Vertrag unterzeichnete. Die Seiten haben sich auch darüber geeinigt, dass die zurzeit existierenden ABM-Systeme die Effizienz der strategischen Offensivwaffen nicht beschränken.

Dabei ist die Schaffung eines effizienten Raketenabwehrsystems nahezu ausgeschlossen, weil die Stellungsräume der mobilen Startrampen nicht beschränkt sind. In absehbarer Zeit wird kein ABM-System errichtet werden, das die Raketen dieser Systeme abfangen könnte.

4. Die Vertragsseiten können die Struktur ihrer atomaren Streitkräfte, also das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den luft-, see- und bodengestützten Trägern selbst bestimmen. Sie können auch neuartige Raketen und andere Träger in Dienst stellen, solange sie sich gegenseitig darüber in Kenntnis setzen. Das heißt unter anderem, dass Russland den Bau von Raketensystemen auf Eisenbahnen wieder aufnehmen kann.

5. Die Zahl der stationierten bodengestützten Raketen mit einzeln lenkbaren Mehrfachgefechtsköpfen wird nicht beschränkt. Das bedeutet, dass Russland die Gruppierung der Raketen des Typs RS-20 und RS-18 erhalten und neue Raketen mit einzeln lenkbaren Mehrfachgefechtsköpfen entwickeln kann.

6. Der Vertrag verbietet die Stationierung von strategischen Offensivwaffen außerhalb des eigenen Gebiets der Vertragspartner. Das schützt die Welt vor möglichen Wiederholungen von Zwischenfällen wie der Kuba-Krise und erleichtert den Vertragspartnern erheblich die gegenseitige Kontrolle der strategischen Waffen.

7. Die juristische Begrenzung der Zahl der Sprengköpfe auf 1550 Stück wird jedoch nicht mit der faktischen Zahl übereinstimmen. Der Vertrag setzt nämlich neue Regeln bei der Zählung der atomaren Sprengköpfe. Den neuen Regeln zufolge entspricht ein schwerer Bomber einem Gefechtskopf. In der Realität kann ein Bomber allerdings je nach Typ 12 bis 24 Raketen oder Bomben tragen. Somit wird die tatsächliche Zahl der Gefechtsköpfe rund 2100 für Russland und rund 2400 für die USA, die etwas mehr schwere Bomber haben, betragen. Die amerikanischen B1-B-Bomber sollen allmählich aus dem Dienst der atomaren Truppen genommen und für konventionelle Waffen umgebaut werden. Das wird den Einsatz von Atomwaffen mit diesen Trägern ohne deren zeitraubenden Rückumbau ausschließen. Damit wird der Abstand zwischen Russland und den USA allmählich kleiner werden.

Außer dem Vertrag haben die Parteien einen Protokoll unterzeichnet, der die Termini des Vertrags definiert und neue Verfahren zur Kontrolle über seine Umsetzung festlegt. Dieses umfangreiche Dokument muss noch geprüft werden. Doch der erste Eindruck zeigt, dass beide Verhandlungsteams penibel gearbeitet haben, um die Positionen der beiden Seiten so weit wie möglich zu präzisieren, damit alle möglichen Unklarheiten vermieden werden.

Im Endeffekt ist die Unterzeichnung des neuen START-Vertrags ebenso für Russland wie für die USA von Vorteil. Dieses Dokument kann für die anderen Atommächte, von denen jetzt der Anschluss an die russisch-amerikanischen Abkommen erwartet wird, als Vorbild dienen.

* Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der der RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 9. April 2010; http://de.rian.ru



Zu weiteren Beiträgen über Rüstung und Abrüstung

Zur USA-Seite

Zur Russland-Seite

Zur Atomwaffen-Seite

Zur Raketenabwehr-Seite

Zurück zur Homepage