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Wozu aus Raketen-Abrüstungsvertrag aussteigen?

Von Alexej Arbatow, Moskau *

Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Washington den Vertrag über die Vernichtung der Mittel- und Kurzstreckenraketen (INF-Vertrag).

Es handelte sich um die erste Vereinbarung über eine wirkliche Abrüstung der vorhandenen Waffen. Im Ergebnis wurden nicht nur alle Mittel- und Kurzstreckenraketen mit nuklearem Gefechtskopf vernichtet, sondern auch ein Präzedenzfall der Offenheit geschaffen: Der Vertrag war 13 Jahre für die gegenseitigen Kontrollen vor Ort verantwortlich.

Heute haben die USA die Absicht, in Europa ihr Raketenabwehrsystem aufzustellen. Als Antwort wurde in Russlands politischer und militärischer Führung wiederholt die Frage nach dem Austritt aus diesem Vertrag erhoben. Indes erfordert ein solcher Schritt eine sorgfältige Analyse. Es gilt, Pro und Kontra abzuschätzen, alle möglichen militärstrategischen, ökonomischen und politischen Folgen durchzurechnen.

Der Ausstieg aus dem INF-Vertrag hat keinen Sinn, wenn Russland nicht auf den Bau von Raketensystemen abzielt, die durch den Vertrag verboten sind. Andererseits können neue Mittelstreckenraketen, entwickelt für die Vernichtung von Raketenabwehrbasen in Europa, auch selbst zum Abfangobjekt der US-Raketenabwehr werden. Hier wird alles durch das Verhältnis ihrer Mengen und ihre technischen Charakteristika bestimmt.

Es fragt sich allerdings, woher das Geld für diese Mittelstreckenraketen nehmen. Denn die Entwicklung, Erprobung, Produktion und Aufstellung eines neuen Mittelstreckenraketensystems verlangt sehr hohe Ausgaben. Wird dieses Programm nicht die anderen, wichtigeren Programme benachteiligen, die ohnehin an einem Geldmangel leiden? Die Rede ist insbesondere über das Entwicklungsprogramm für die strategischen Atomwaffenkräfte oder die Umrüstung der Armee, die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Offiziere, die Umstellung der Armee auf Berufssoldaten, den Wohnungsbau und die Verbesserung der Gefechtsausbildung der Truppen.

Es lässt sich ohne weiteres voraussagen, dass die USA als Reaktion auf die russischen Mittelstreckenraketen ihr "Pershing-2"-Programm und die Aufstellung von seegestützten Flügelraketen wieder aufnehmen oder neue, verbesserte Mittelstreckensysteme entwickeln und in Europa stationieren können. Nach allem zu urteilen, werden die neuen NATO-Mitglieder eine solche Antwort der USA begeistert aufnehmen, während zu Beginn der 1980er Jahre die Sowjetunion die Stationierung von Mittelstreckenraketen als große Gefahr empfunden hatte, wird die Situation für das heutige Russland weit schlimmer aussehen.

Heute sind das Verhältnis der Kernwaffen- und konventionellen Streitkräfte sowie die geostrategische Lage der Seiten anders. Damals hätten die "Pershing-2" kaum das Gebiet Moskau erreichen können. Heute wären sie, falls in den neuen NATO-Mitgliedsstaaten analoge Raketensysteme mit kürzerer Flugzeit stationiert werden, imstande, Russland bis zum Ural, ja vielleicht weit jenseits des Gebirges zu erreichen. Diese Raketen können sowohl mit der Kern- als auch mit der konventionellen Präsizisionswaffen ausgerüstet sein und eine minimale Flugzeit bis zum Ziel haben. Dieser Umstand wird - anders als die Raketenabwehrbasen in Tschechien und Polen - das gesamte russische Potential der atomaren Abschreckung tatsächlich in Gefahr bringen und Russland dazu zwingen, riesige Summen für die Umrüstung seiner Atomstreitkräfte, Warn- und Steuersysteme zu verausgaben.

Dabei könnte Russland nötigenfalls statt eines neuen Programms der Mittelstreckenraketen für weit weniger Geld zusätzlich mehrere mit "Topol-M"-Raketen ausgerüstete Regimenter aufstellen oder einen konventionellen Präzisionsgefechtskopf für die vorhandenen ballistischen und Flügelraketen, die durch den INF-Vertrag nicht verboten sind, entwickeln - zumal die Stationierung der "Topol-M" mit einem konventionellen oder nuklearen Einfach- oder Mehrfachgefechtskopf durch den Moskauer Vertrag über die Reduzierung der strategischen Nuklearpotenziale von 2002 (SORT-Abkommen) in keiner Weise begrenzt ist. Zudem lassen seine "Höchstgrenzen" der Atomgefechtsladungen von 1700 bis 2200 Einheiten recht großen Spielraum.

Doch ist auch die Zweckmäßigkeit der Ausrichtung der strategischen Abwehrraketen, Mittelstrecken- oder operativ-taktischen Raketen mit einem konventionellen Gefechtskopf gegen Raketenabwehr-Objekte bei weitem nicht offensichtlich. Denn Schläge gegen die Raketenabwehr-Stellungen in Europa werden zum Ziel haben, das Raketenabwehrsystem am Abfangen von Topol-M-Raketen zu hindern, die gegen die USA und ihre Verbündeten bei Gegen- oder Erstschlägen gerichtet sein werden. Da diese Raketen atomare Gefechtsköpfe haben werden, kann der Schluss gezogen werden, dass es sich um einen Krieg mit Atomwaffen handelt. In diesem Fall starten die russischen Raketen zum Gegenschlag, nachdem die USA oder die NATO auf Russlands Territorium einen massierten Atomwaffenangriff unternommen haben.

Es fragt sich, welchen Sinn unter diesen Bedingungen der Versuch hätte, die Raketenabwehrbasen in Europa mit konventionelle Präzisionswaffen zu treffen. Ein solches schonendes Verfahren ist eindeutig unangebracht. Viel einfacher, billiger und zuverlässiger wäre es, dazu die Atomwaffen strategischer oder operativ-taktischer Bestimmung einzusetzen.

Der Vertrag über die Vernichtung der Mittel- und Kurzstreckenraketen ist einer der wenigen zentralen Verträge in der nuklearen Abrüstung, die nach der destruktiven Politik der Administration von US-Präsident George W. Bush noch in Kraft sind. Diese Politik wird in der Welt und in den USA selbst immer schärfer kritisiert und mit dem Machtwechsel in Washington nach der Wahl im Jahr 2008 überprüft werden.

* Alexej Arbatow ist korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 10. Dezember 2007



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