Ein Netz mit mehreren Spinnen
Drei Supermächte – USA, China und EU – befinden sich im "Kampf um die Zweite Welt", meint Parag Khanna
Von Ekkehard Sauermann *
Der 1977 in Indien geborene und in Washington lebende Parag Khanna hat in Barack Obamas Wahlkampfteam als außenpolitischer Berater mitgewirkt. Sein jüngstes Buch »Der Kampf um die Zweite Welt« ist ein groß angelegter Beitrag zur Einschätzung der weltpolitischen Situation.
Parag Khanna vertritt die These, dass das »amerikanische« 20. Jahrhundert mit der Präsidentschaft George W. Bushs endgültig zu Ende gegangen ist. »Tatsächlich erleben wir mit dem Amtsantritt Obamas eine Zäsur, nämlich eine Situation, in der die neue US-Regierung möglicherweise versuchen wird, die Welt zu erneuern, ohne dass die Welt allerdings bereit wäre, sich auf einen solchen Versuch einzulassen«, erklärte er vor Obamas Machtübernahme in einem Interview mit den »Blättern für deutsche und internationale Politik« (1/09). Khanna legt seine Auffassung von den drei großen Mächten dar, die weltweit ihren Einfluss ausdehnen können: die USA, China und Europa. Den entscheidenden Unterschied sieht er in deren diplomatisch-politischen Stilen: »Da gibt es die sogenannten drei K: den Koalitionsstil der USA, den konsultativen Stil Chinas und den Konsensstil der Europäischen Union.«
Khanna ist der Überzeugung, dass die reichen Erste-Welt-Staaten, die Schwellenländer der »Zweiten Welt«, aber auch die Entwicklungsländer immer stärker alle drei Welten in sich vereinen. China ist für ihn die Supermacht der Zweiten Welt und dennoch »aufgrund seiner globalen Ausstrahlung eine Weltmacht«. Der Autor verweist darauf, dass der weltpolitische Einfluss der neuen US-Administration davon abhängt, über welches reale Machtpotenzial sie noch verfügt. Das Potenzial der USA sieht Khanna primär an ihre wirtschaftlichen Stärke oder Schwäche gebunden. Deshalb laufen alle seine Erwägungen über die gegenwärtige und künftige Rolle des Landes auf die Forderung nach einem Marshallplan für die USA als dringender Eigenbedarf hinaus, um – möglicherweise – eine neue Chance zu gewinnen.
Die USA im Niedergang
Mit seinen Gedanken über die historische Perspektive der USA reiht sich Khanna ein in die Gruppe jener konservativen Denker, welche nach dem Kalten Krieg den Triumphalisten entgegengetreten sind, die das »Ende der Geschichte« in Gestalt der endgültigen Durchsetzung des von den USA repräsentierten Kapitalismus prophezeit haben. Gestützt auf die biologistische Zyklentheorie von Oswald Spengler und Arnold Toynbee sagten sie den bevorstehenden Niedergang der USA als Weltmacht voraus und plädierten für eine langfristig angelegte Strategie eines ausgewogenen Umgangs mit dem noch vorhandenen Weltmachtpotenzial, was die Entschärfung weltpolitischer Konflikte einschließen sollte. Khanna bringt die Linie einer realistischen Einordnung des Weltmachtpotenzials der Vereinigten Staaten gewissermaßen auf den »neuesten Stand«.
Seine Einordnung in Erste und Dritte Welt entspricht den üblichen Klischees: Die Erste Welt umfasst die stabilen und wohlhabenden Länder, die von der internationalen Ordnung profitieren. Dazu gehören die dreißig Staaten der OECD – außer Mexiko und der Türkei. Zur Dritten Welt gehören insbesondere die von der Weltbank aufgeführten 48 am wenigsten entwickelten Staaten, die überwiegend in Lateinamerika, Afrika, Südasien und dem pazifischen Asien anzutreffen sind; insgesamt aber mindestens einhundert Länder, die den größten Teil der Weltbevölkerung umfassen und deren Zukunft ungewiss ist. Und die Zweite Welt? Dieser Begriff »bezeichnete einstmals das ›sozialistische Sechstel‹ der Erdoberfläche und dann für kurze Zeit die postkommunistischen Transformationsländer; anschließend verschwand der Terminus dann immer mehr aus der öffentlichen Diskussion.« Khanna will ihn dorthin zurückführen. Der Autor teilt diese Zweite Welt in fünf Regionen ein, denen er jeweils einen Teil seines Buches widmet: die ehemaligen sowjetischen Gebiete in Europa sowie die Balkan-Staaten und die Türkei; zentralasiatische Staaten; Lateinamerika; der Nahe und Mittlere Osten; China, Indien, Südostasien. Seinen hohen Aufwand für die Beschreibung und Charakterisierung dieser Zweiten Welt begründet Khanna mit deren außerordentlicher weltpolitischer Bedeutung. Es geht ihm dabei aber nicht um die Bedeutung für die Völkergemeinschaft, sondern für die Machtpolitik der Großmächte.
»Indem die EU und China die Stellung der USA in der globalen Machthierarchie herausfordern und sich weltweit Verbündete und Loyalitäten sichern, haben sie drei relativ gleichstarke Einflusszentren hervorgebracht – Washington, Brüssel und Beijing.« Diese Feststellung untermauert Khanna mittels der zyklischen Geschichtstheorie von Spengler und Toynbee, nach der alle Imperien naturnotwendig einen Zyklus von Frühling, Sommer, Herbst und Untergang durchlaufen. »Der Aufstieg von Europa und China ist jetzt ein ebenso unaufhaltsamer Prozess wie die biologische Evolution. Überall kann man sehen, dass die Erde gleichzeitig amerikanisiert, europäisiert und sinisiert wird.«
Khanna geht sowohl davon aus, dass sich der Konkurrenzkampf zwischen diesen drei Supermächten verschärfen wird, als auch, dass gleichzeitig eine friedliche Koexistenz zwischen ihnen notwendig und möglich ist. »Die drei zusammen gleichen siamesischen Drillingen, und wenn eine Arterie durchtrennt wird, zieht dies alle in Mitleidenschaft. Vermutlich kann nur diese Form der weltweiten Verflechtung verhindern, dass zwischen drei ehrgeizigen Supermächten auf einem kleinen Planeten eine geopolitische Rivalität mit unverminderter Heftigkeit wiederaufflammt … Die heutige wechselseitige Abhängigkeit ist in der Tat ein Netz – aber eines mit mehreren Spinnen. Früher einmal glaubte man, Globalisierung wäre gleichbedeutenden mit Amerikanisierung; in Wirklichkeit hat sie den Niedergang der Pax Americana drastisch beschleunigt.«
Drei Imperien ringen
Soweit Khanna politische Schlussfolgerungen zieht und Ratschläge erteilt, sind sie an die Adresse der USA gerichtet. Die US-Führungselite wird – implizit – dazu aufgefordert, die neue weltmachtpolitische Situation zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren, ihre verabsolutierenden Dominanzvorstellungen und ihre fundamentalistische Vorherrschaftspolitik zu überwinden sowie ihre Kompromissbereitschaft zu entwickeln – gegenüber ihren beiden imperialen Partnern wie auch der Zweiten Welt. »Die vermeintliche Vormachtstellung der USA wird in jeder Region der Zweiten Welt als Irrglaube entlarvt: Die EU kann ihren Osten stabilisieren, die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) unter Führung Chinas kann Zentralasien organisieren, Südamerika kann die USA zurückweisen, die arabischen Staaten werden sich nicht mit der amerikanischen Vorherrschaft abfinden, und China kann nicht allein mit militärischen Mitteln in Ostasien eingedämmt werden. Die geopolitische Auflehnung ist in vollem Gange.«
Angesichts dieser Ausgangslage haben die USA gegenwärtig schlechte Chancen, in dem Machtkampf um den Einfluss auf die Zweite Welt erfolgreich zu sein. »Die nationale Sicherheitsstrategie der USA zielt darauf ab, durch Förderung der Stabilität in gefährlichen Regionen gestaltenden Einfluss auf ›Länder am Scheideweg‹ zu nehmen. Aber in vielen derartigen Gebilden werden die USA nicht mehr als sicherheits-, sondern als unsicherheitsstiftende Macht angesehen.« Mit seiner Charakterisierung der weltpolitischen Rolle der EU sowie Chinas weist der Autor die Weltmacht USA indirekt auf ihr eigenes Manko hin: »Die Europäische Union ist zu einem zeitgenössischen Imperium geworden, das durch Aufnahme neuer Staaten weiterhin Jahr für Jahr expandiert – und viele weitere Staaten bemühen sich um eine Aufnahme in die EU. Etwa zur gleichen Zeit verkündet das Pentagon, dass es gegenüber jeder aufstrebenden rivalisierenden Großmacht eine Strategie der Eindämmung betreiben werde. Dessen ungeachtet folgt China methodisch seinem eigenen Zeitplan, um zur führenden Macht der Welt zu werden und seine Stellung als ›Reich der Mitte‹ zu erneuern. Wie die EU verwandelt es seine Nachbarstaaten in halbsouveräne Provinzen und unterwirft sie nicht militärisch, sondern durch demographische Expansion und wirtschaftliche Anbindung.«
Das Fazit der kritischen Überlegungen Khannas zielt auf eine innere Wende in den Vereinigten Staaten. Er geht so weit, nicht nur die künftige Weltmachtrolle der USA, sondern sogar ihre Zugehörigkeit zur Ersten Welt in Frage zu stellen, wenn sie keine prinzipielle und strategische Wende vollziehen: »Die USA verfügen über keine Strategie, die sicherstellen würde, dass sie ein Land der Ersten Welt bleiben – sie überlassen ihr Schicksal dem Zufall und der Globalisierung.«
Fazit: Ein international ausgewiesener Wissenschaftler auf dem umstrittenen Gebiet der Geopolitik hat ein schwergewichtiges Buch mit einem hohen Anspruch vorgelegt. Wie viel wiegt dieses Buch tatsächlich – ideell?
Die willkürliche Einteilung der einen Menschenwelt in eine Erste, Zweite und Dritte Welt war in der Zeit des Kalten Krieges geläufig. Nach 1989/90 war die »Zweite Welt« (die sich nicht als solche angesehen hat) nicht mehr existent. Die weiterhin gebrauchte Gegenüberstellung einer Ersten und Dritten Welt steht im Widerspruch zu den weltpolitischen Realitäten. Mit der inzwischen praktizierten Einfügung einer »Vierten Welt« kann offensichtlich dieses Dilemma nicht aufgehoben werden. Die Konsequenz wäre, auf diese schematische Einteilung zu verzichten.
Da aber springt Parag Khanna ein und restauriert diese Konstruktion. Sein Anliegen, jene Länder und Ländergruppen speziell zu analysieren, welche mit den abgenutzten Begriffen Erste Welt und Dritte Welt nicht zu erfassen sind, ist legitim. Aber statt mit überholten Einteilungen abzurechnen, konserviert er sie. Halbwegs gerecht wird er seinem Gegenstand, indem er die Länder der »Zweiten Welt« nicht statisch einordnet, sondern in fortlaufender Veränderung sieht – allerdings vorwiegend bezogen auf die Großmächte.
Der Autor verweist eingangs unter Bezug auf Arnold Toynbees siebzehnmonatige wissenschaftliche Reise um den Globus darauf, dass er selbst ein halbes Jahrhundert später zu einer Weltreise aufgebrochen sei, um das Wechselspiel welthistorischer Kräfte zu erkunden. Der Leser erfährt nicht, wie oft und wie lange dieser Parag Khanna auf den Spuren Toynbees (»Der Gang der Weltgeschichte«) gereist ist. Aber über die unerbittliche Ernsthaftigkeit der Bemühungen des Autors sowie das Ergebnis dieser Reisen – als eine entscheidende empirische Grundlage für das Buch – wird er freimütig informiert: »Bei meinen Reisen durch die Zweite Welt habe ich jedes Land immer erst dann verlassen, wenn ich mir von innen heraus einen umfassenden Eindruck verschafft hatte, wenn ich unterschiedlichste Perspektiven der Städte, Dörfer und Landschaften gewonnen hatte, die auf Gesprächen mit Beamten, Wissenschaftlern, Journalisten, Unternehmern, Taxifahrern und Studenten beruhten. Ich blieb so lange, bis ich die Welt mit ihren Augen sah.«
Wie sich die Völker dieser Länder selbst sehen, genau das erfährt man aus diesem Buch aber nicht. Man erfährt, wie Khanna sie sieht – gestützt auf die eine oder andere Quelle. Wie die höchst ambivalente Lage in einigen dieser Länder offiziell und inoffiziell eingeschätzt wird, darüber erhält man allerdings eine verschiedenartige Informationen, journalistisch gut aufbereitet. Das Buch vermittelt einen gewissen Einblick in jenes politisch-ideelle Gedankengebäude, das sich Barack Obama zu eigen gemacht hat. In der geopolitischen Weltsicht des Autors verbinden sich konservative und liberale Elemente in eigenartiger Weise. Dieses Gemisch ist geeignet als Gegengift gegen die bisher in den USA bestehende Dominanz der Neokonservativen sowie als ideelle Unterstützung jener Lösungsansätze der Obama-Bewegung, welche auf die Wiederbelebung eines zivilisatorischen Minimums gerichtet sind.
Gibt es Alternativen?
Gleichzeitig ist Khannas »Der Kampf um die Zweite Welt« ein umfangreiches Beweisstück dafür, dass es auf einer »theoretischen« Basis nicht möglich ist, Einblick in die historischen Triebkräfte und damit in den weiteren Verlauf der menschlichen Gattungsgeschichte zu gewinnen. Auf einer solchen Grundlage werden auf Systemveränderung gerichtete Alternativen gar nicht erst zur Debatte gestellt.
Die Reduktion der historischen Subjekte auf die Rolle der Großmächte ist ein zutiefst konservatives und beschränktes Vorhaben. Die von Khanna mittels dieser Traditionslinie praktizierten Verbindung von PR-wirksamer Perfektionierung einer Oberflächenbeschreibung der Weltsituation mit Mystifizierung der entscheidenden gesellschaftlichen Bedingungen und treibenden Kräfte versperrt den Blick auf jene Gattungspotenziale der Menschheit, welche angesichts der gegenwärtigen extremen Herausforderungen mobilisiert werden können und müssen.
Um diese Potenziale in ihrer gegenwärtigen Ausprägung sowie ihren künftigen Entwicklungsmöglichkeiten zu erfassen, ist eine tiefgründige Zuwendung zur Epoche-Problematik erforderlich. Obwohl Khanna hierzu eine Menge indirekte Aussagen trifft, vermeidet er diesen Begriff. Darin befindet er sich in Übereinstimmung mit den meisten linken Theoretikern, bei denen sich angesichts der Untauglichkeit früherer Epochevorstellungen eine Hemmschwelle herausgebildet hat, sich konstruktiv mit dieser anspruchsvollen Problematik auseinanderzusetzen.
Der Autor hat die Tatsache genutzt, dass es im Hinblick auf die von ihm aufgearbeitete Problematik ein weites und wenig beackertes Feld gibt und er kaum mit profilierten Gegengewichten rechnen muss. Aber die Wirksamkeit solcher Gegengewichte ist von wachsender Bedeutung. Es gibt einige Persönlichkeiten, die exemplarisch zeigen, über welches große Potenzial linksorientierte Theoretiker verfügen. Dazu gehört Eric Hobsbawm, aber auch beispielsweis Tariq Ali, der mit seinem offensiven Buch »Die Achse der Hoffnung« (Heyne Verlag 2008) einen gänzlich anderen Zugriff auf die Problematik der lateinamerikanischen Bewegung vermittelt als Khanna.
Vom Hallenser Politologen Prof. Sauermann, der u.a. über die »NeueWeltkriegsOrdnung« nach dem 11.9.2001 publizierte, ist jetzt »Obama. Hoffnungen & Enttäuschungen« (Kai Homilius Verlag, 7,95 €) erschienen.
* Aus: Neues Deutschland, 14. November 2009
Parag Khanna: Der Kampf um die zweite Welt. Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung, Berlin Verlag:Berlin 2008, 623 Seiten, 26,00 EUR; ISBN-10 382700599X; ISBN-13 9783827005991
Zurück zur Seite "Neue Weltordnung"
Zur USA-Seite
Zurück zur Homepage