Niedergang der USA und Neue Weltordnung
Ein Interview mit Giovanni Arrighi
Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview mit dem bekannten Soziologen Giovanni Arrighi, Hochschullehrer in Baltimore (USA). Wir haben den Text mit freundlicher Genehmigung von der Zeitschrift Marxistische Erneuerung übernommen.
Im Frühjahr hatte Z. die Möglichkeit mit dem amerikanischen Soziologen
Giovanni Arrighi zu sprechen. Das Gespräch fand am 22.3.2003 in Baltimore
statt. Die Fragen stellten Amy Holmes und David Salomon. Die Übersetzung
besorgte Ingar Solty.
Z: Sei bitte so freundlich und berichte uns von deinen momentanen Forschungsinteressen.
A.: Meine aktuellen Forschungsinteressen hängen teilweise mit der Problematik
des Nord-Süd-Unterschieds zusammen, d.h. warum hält sich trotz einer
Annäherung des Unterschieds im Grad der Industrialisierung das ökonomische
Nord-Süd-Gefälle bezüglich der Einkommensverhältnisse am Leben.
Warum ist dem so, und was impliziert das für die Nord-Süd-Beziehungen im
Politischen, Sozialen, Kulturellen und so weiter? Das ist mein Hauptinteresse.
Allerdings bringen mich aktuelle Entwicklungen auch immer wieder zu Fragen
der Globalen Politischen Ökonomie zurück. Gerade erst habe ich einen
umfangreichen Aufsatz vollendet, der in der März/April-Ausgabe der New
Left Review erscheinen wird*, und bei dem es sich um eine umfangreiche,
kritische Beurteilung Robert Brenners Analyse der globalen Turbulenzen und
deren Entstehungsgeschichte über die letzten 40 Jahre hinweg handelt. Im
Grunde genommen habe ich also mein Interesse an der Globalen Politischen
Ökonomie mit einem besonderen Interesse für den Graben zwischen dem
Norden und dem Süden beibehalten.
* Der Aufsatz ist in der März/April-Ausgabe der New Left Review unter dem Titel The political economy of global turbulance erschienen. (Anm. d. Red.)
Z: Am Anfang Ihrer wissenschaftlichen Karriere warst du Afrikanist und in
diesem Zusammenhang verbrachten Sie in den 60er Jahren sowohl als Lehrender
als auch als politischer Aktivist sechs Jahren auf diesem Kontinent. Zu
dieser Zeit spielte Afrika in linken Diskursen ja eine weitaus bedeutendere
Rolle. Mittlerweile könnte man aber fast sagen, dass den afrikanischen Kontinent
betreffend so eine Art von Amnesie herrscht. Heutzutage scheint die Linke
sich vor allem dann mit dem afrikanischen Kontinent zu beschäftigen, wenn
es sich um Afrika als Opfer der AIDS-Epidemie oder als Schauplatz von
Staatszerfallsprozessen dreht, wohingegen in den 60er Jahren die afrikanischen
antiimperialistischen Bewegungen für viele Linke einen Hoffnungsschimmer
darstellten. Jetzt kehrst du zurück zu einer Auseinandersetzung mit
dem „verlorenen Kontinent“. Wie hat sich in der Vorstellung der Linken die
Rolle Afrikas in den letzten 30 Jahren verändert?
A.: Es ist ja nicht nur Afrika, sondern die gesamte Dritte Welt. In den 60ern
und dem Großteil der 70er schien es, als verschöben sich - als ein Resultat des
Dekolonisierungsprozesses und der „Revolte gegen den Westen“ – die Kräfteverhältnisse
in den internationalen Beziehungen zugunsten der südlichen
Hemisphäre. Dieses Anschwellen von Stärke und die Herausforderung, die es
darstellte, erreichten ihren Höhepunkt in den 70er Jahren. Was wir dann aber
in den 80er Jahren beobachten konnten, war im Prinzip eine Konterrevolution,
die monetaristische Konterrevolution Reagan und Thatchers, der es gelang,
jegliche Form von Einheit, die auf der Südhalbkugel bzw. in der Dritten Welt
existierte, zu zerstören, und die äußerst divergierende Tendenzen innerhalb
des Südens hervorbrachte. Hauptopfer dieser Konterrevolution waren die
Völker Afrikas, und es ist nicht allein Afrika, sondern die ganze Dritte Welt,
die aus der Vorstellungswelt der Linken verschwunden ist. Natürlich konnten
wir auch den Untergang der Zweiten Welt beobachten, so dass am Ende dieser
20-jährigen Konterrevolution ein totales Chaos auf der Seite der linken Kräfte
zu konstatieren ist. Ich glaube, dass erst seit etwa drei oder vier Jahren ein erneutes
Auftauchen der Linken sowie ein wiedererstarkendes Interesse an globalen
Fragen beobachtet werden kann. In der Tat verkörpern die globalisierungskritische
Bewegung und die noch kürzer zurückliegende Antikriegsbewegung
den Anfang einer neuen „Neuen Linken“. Und es ist ganz klar und
deutlich, dass in dieser neuen „Neuen Linken“ Fragen nach der Trennung
zwischen Nord und Süd wieder eine bedeutende Rolle spielen.
Z: In deinen Veröffentlichungen hast du geschrieben, dass die Trennung zwischen
dem Norden und dem Süden insgesamt nicht gleich geblieben ist, sondern
dass sich eine Verschiebung der weltweiten (Industrie-)Produktion und
Wertschöpfung weg von den USA und Europa hin nach Asien ereignet hat.
Der asiatische Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt ist zwischen 1960
und 1999 von 13 Prozent auf 26 Prozent angestiegen.
A.: Das ist die Wertschöpfung im Produktionsbereich. Der Anteil der weltweiten
Wertschöpfung im industriellen Sektor, der im Süden und insbesondere
in Ostasien produziert wird, hat sich gesteigert. Auch der Anteil des Südens
an der Gesamtwertschöpfung ist angewachsen, allerdings aber vornehmlich
aufgrund des größer werdenden Anteils des Südens an der Weltbevölkerung.
Relativ Pro-Kopf gesehen, hat es keine Veränderung gegeben. Mit anderen
Worten heißt das also, dass in Bezug auf Einkommen und Wohlstand der
Graben trotz intensiver Industrialisierung des Südens derselbe geblieben ist.
Daraus ergeben sich zwei Arten von Problemen, denn innerhalb des Südens
selber hat sich eine äußerst ungleiche Entwicklung herausgebildet. Ostasien
ist äußerst rasch aufgestiegen (im Übrigen bin ich Mitherausgeber eines Buches,
das gerade erschienen ist und das sich mit dem Wiederaufleben Ostasiens
– The Resurgence of East-Asia – beschäftigt); andererseits haben wir
Katastrophen wie die in Afrika und in Lateinamerika. Diese Auseinanderentwicklung
konfrontiert den Norden bzw. den Westen mit zwei Herausforderungen:
einerseits die Herausforderung, die verkörpert wird durch die Zerrüttung
von Regionen und ganzen Kontinenten, was deren Ausbeutung erheblich
erschwert, und andererseits die Herausforderung, die manche ehemalige Dritt-
Welt-Regionen, insbesondere Ostasien und dort wiederum vor allem China,
durch ihre gestiegene ökonomische Zentralität darstellen. Es handelt sich
hierbei also um eine doppelte Herausforderung: die Herausforderung durch
das Versagen und die Herausforderung durch den Erfolg zur gleichen Zeit.
Z: Versagen in welchem Sinne?
A: Dem Versagen der Entwicklungsversprechen. Anstelle des „Reichtums für
alle Länder“ haben wir riesige Gebiete eines sozial-ökonomischen Chaos.
Nun, und dann haben wir auf der anderen Seite den Aufstieg Ostasiens. Wenn
sich diese Region so weiterentwickelt wie bisher – und natürlich ist China im
Moment noch sehr arm und die meisten seiner Regionen sind noch sehr arm –,
dann werden wir in den nächsten 20 oder 30 Jahren beobachten können, dass
diese Region als größter Markt die Zentralität der USA in der Weltwirtschaft
anfechten wird. Das amerikanische Establishment ist äußerst beunruhigt, angesichts
der Möglichkeit, dass China sich die realen ökonomischen Kapazitäten
aneignen könnte, um die USA dadurch militärisch herauszufordern. Und
selbst wenn China keinen Konkurrenten auf militärischem Gebiet darstellen
sollte, ist die Untergrabung der zentralen Position der USA in der Weltwirtschaft
ein Problem, denn tatsächlich beruht die Fähigkeit Amerikas, die Welt
zu beherrschen, weitaus mehr auf seiner ökonomischen Zentralität als auf militärischer
Stärke. Jeder fürchtet sich zum Beispiel im Moment vor einem
Niedergang der US-Wirtschaft, denn wenn diese sich im Niedergang befindet,
gilt das für alle anderen gleich mit. Folglich tun viele europäische und ostasiatische
Regierungen das Äußerste, um einen Abstieg der US-Wirtschaft zu
verhindern. Sollte nun aber in Ostasien ein neues Zentrum entstehen, das kontinuierlich
an Bedeutung gewinnt, dann wird es mehr und mehr Regierungen
gleichgültig sein, ob die US-Wirtschaft sich nach unten bewegt. Diese Tendenz
stellt keine unmittelbare Bedrohung dar, aber sie bedeutet, dass eine Bedrohung
der Stabilität nicht nur im Entwicklungsversagen im Süden, sondern
eben auch im Entwicklungserfolg bestimmter Teile des Südens, insbesondere
Ostasiens, verkörpert ist. Ostasien ist dieses mögliche Zentrum, weil es heute
eben nicht nur die Hauptwerkstätte der Welt ist, sondern auch der Hauptbereitsteller
von Liquidität für das Weltfinanzsystem. Das wird die am weitesten
ausschlaggebende Fragestellung der nächsten zwanzig, dreißig Jahre sein,
denn es ist nicht klar, wie die Vereinigten Staaten das gigantische Defizit in
seinen Zahlungsbilanzen mit dem Rest der Welt, das sich mittlerweile auf 400
Milliarden Dollar beläuft, ausgleichen wird. Während der Phase der „new
economy“-Blase war diese Blase mit spekulativem Kapital gefüllt, das in ungeheuerem
Maße in die USA floss. Jetzt aber, da die Blase geplatzt ist, kann
dieses Defizit nur auf zweierlei Art und Weise überwunden werden: entweder
durch eine aktive Schrumpfung der US-Ökonomie mit erheblichen Ausmaßen,
oder durch die Transformation von in die USA fließendem Kapital in eine
Form von Tribut. Wie das erreicht werden wird, steht noch gar nicht fest.
Z: In „The Long Twentieth Century“ sprichst Du darüber, wie Phasen der
Hegemonie durch ein Ansteigen der Produktion charakterisiert werden, und
Braudel schreibt davon, dass für den Herbst einer hegemonialen Phase eine
finanzielle Expansion charakteristisch ist. Du hast dann auch geschrieben,
dass die Vereinigten Staaten von Amerika das, was sie militärisch nicht erreichen
konnten, mit finanziellen Mitteln erreichten. Könntest Du das Verhältnis
zwischen militärischer und finanzieller Macht ein bisschen genauer erläutern?
A: „The Long Twentieth Century“ und auch „Chaos and Governance“ belegen,
dass es sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zwischen historischen
Phasen der finanziellen Expansion gibt. Die Ähnlichkeit besteht darin,
dass der sich im Niedergang befindende Hegemon in der Lage ist, seine
Machtposition zu verstärken, da seine fortgesetzte Zentralität in der Weltwirtschaft
ihn in eine besonders gute Position versetzt, von der finanziellen Expansion
zu profitieren. Allerdings spielten in der Vergangenheit schwerwiegende
Eskalationen im Rüstungswettlauf bei der Schaffung von Nachfragebedingungen
für die Finanzexpansion eine maßgebliche Rolle, wohingegen heute
kein wirklicher Rüstungswettlauf existiert.
Z: Weil niemand da ist, gegen den man wettlaufen müsste?
A: Im Prinzip ja. In den 80er Jahren gab es eine Eskalation, die besonders für
die Aufrechterhaltung der japanischen Finanzblase wichtig war, weil Japan
der größte Finanzgeber der USA in ihrem Rüstungswettlauf mit der UdSSR
war. Aber nachdem die UdSSR erst einmal bankrott war, platzte die japanische
Blase. Die weitere Verschärfung des Rüstungswettlaufs sah sich mit einem
Glaubwürdigkeitsproblem konfrontiert, es wurde schwerer, immer massivere
Rüstungsausgaben zu rechtfertigen. Ich bin der Überzeugung, dass alle
Kriege der 90er Jahre vor allen Dingen zu dem Zweck geführt wurden, eine
neue Rolle für das US-amerikanische Militär, das die Hauptquelle der USamerikanischen
Wettbewerbsfähigkeit ist, zu finden. Diesem Bereich entstammt
die größte Anzahl hochtechnologischer Innovationen. Und es ist die
einzig mögliche Grundlage für die Transformation der Kapitalströme in die
USA in eine Form von Tribut.
Z: Was meinst du genau mit Tribut?
A: Ein Beispiel ist, wie andere Länder für Kriege bezahlen, von denen vor allen
die Vereinigten Staaten profitieren – so wie das Deutschland und Japan
während des Golfkrieges taten. Aber auf einer allgemeineren Ebene bestehen
Tribute aus Zahlungen an die USA im Austausch für realen oder imaginären
„Schutz“. Dementsprechend halte ich es für einen äußerst heiklen, meiner
Meinung nach utopischen und letztendlich verheerenden Versuch, andere
Staaten dermaßen einzuschüchtern, so dass diese die USA weiterhin finanziell
unterstützen, damit die USA weiterhin hohe Defizite in der ganzen Welt machen
und einen Konsum über dem eigentlich Möglichen aufrecht erhalten
können. Bis dato wird dieser Prozess von einer sich verstärkenden Verschuldung
der USA getragen. Wie lange aber werden die Verbündeten der USA
und der wirtschaftlich mit den USA zusammenarbeitenden Regierungen Ressourcen
in die USA pumpen, und das zu einer Zeit, in der sie von den USA als
irrelevant bezeichnet und auch so behandelt werden? Diese Dinge entwickeln
sich sehr langsam fort. Wenn man aber die heutige Situation mit der von vor
zehn, zwanzig Jahren vergleicht, dann sieht man, dass die US-Verschuldung
unvorstellbare Dimensionen erreicht hat und keine Lösung in Sicht ist. Das ist
das ganze Problem mit „Empire“. Hardt und Negri sind sich nicht nur absolut
nicht im Klaren darüber, dass der Graben zwischen dem Norden und dem Süden
fortbesteht, sondern sie vergessen auch völlig die Realität der Machtstrukturen,
die den Beziehungen der USA mit dem Rest der Welt zugrunde liegen.
Wir haben es tatsächlich mit einem Prozess der Schaffung von „Empire“ zu
tun, aber zunächst einmal dürfen wir nicht vergessen, dass es sich erstens nur
um einen Prozess handelt, und dass zweitens das US-Projekt äußerst unrealistisch
ist. Das viel wahrscheinlichere Resultat wird Chaos sein, nicht Ordnung.
Und selbst wenn schließlich ein „Empire“ auftauchen sollte, dann können wir
trotzdem keineswegs sagen, um was für eine Art „Empire“ es sich dann handeln
wird.
Z: Hardt und Negri vernachlässigen auch den Nationalstaat, indem sie behaupten,
dass Wettbewerb zwischen den Ländern des Zentrums politisch
eigentlich keine Rolle mehr spielt, als wären wir in einer Situation des „Ultra-
Imperialismus“. Das „Empire“, das sie beschreiben, ist ein doch recht harmonisches,
obwohl wir Zeugen gehöriger Spannungen zwischen Deutschland,
Frankreich und den USA wurden.
A: An diesem Punkt müssen wir allerdings vorsichtig sein, nicht zwei unterschiedliche
Arten von Wettbewerb miteinander zu vermischen. Es gibt ökonomische
Konkurrenz, die zwischen den Ländern des Zentrums durchaus intensiv
werden kann, und natürlich intervenieren Regierungen auf alle mögliche
Art und Weise. Das Rauf und Runter der Wechselkurse ist ein kritisches
Element dieser Konkurrenz, so wie ich das in meinem Aufsatz in der „New
Left Review“ diskutiert habe. Diese Konkurrenz ging und geht aber immer
mit Kooperation einher, so dass Konkurrenz zwischen kapitalistischen Unternehmen
auf dem (Welt-)Markt gleichzeitig von der Zusammenarbeit von Regierungen,
insbesondere der amerikanisch-japanisch-europäischen Zusammenarbeit,
flankiert wurde und wird. Im Zentrum gab es politisch und militärisch
bis heute eigentlich keine Konkurrenz. Militärisch kooperierten die Länder
des Zentrums im Rahmen der NATO und anderen Organisationen. Und es
existieren wirklich überhaupt keine Anzeichen von momentanen Rüstungswettläufen
zwischen den Ländern des Zentrums. Die existierenden Unterschiede
beziehen sich in Wirklichkeit natürlich auf die Frage, wie mit dem
Süden, mit der Herausforderung des Südens, umgegangen werden soll. Und
diese Differenzen sind erheblich. Ich denke, dass im Grunde genommen alles,
was im Augenblick passiert, sich in allen belle epoques zugetragen hat, nämlich,
dass der im Niedergang befindliche Hegemon seine Macht überschätzt.
In den 80er Jahren gab es die Überzeugung, dass die USA der Institutionen
der Vereinten Nationen bedurften, um Macht und Einfluss in der Welt auszuüben
– schließlich waren die Vereinten Nationen halb durch die USA geschaffen
worden. In den 90er Jahren wurde die UNO dann als Rivale angesehen,
woraufhin sich die USA der NATO zuwandten. Mittlerweile ist die NATO ein
Rivale, und folglich agieren die USA jetzt alleine; und selbstverständlich sind
Arrighi: Niedergang der USA und Neue Weltordnung 97
die USA in der Lage, alle Schlachten zu gewinnen, aber das schafft noch keine
stabile Hegemonie. Die USA erklären, dass alle existenten Regelungen der
internationalen Beziehungen keine Gültigkeit mehr haben, und sie versuchen,
neue Regelungen auf der Grundlage ihrer militärische Macht zu schaffen. Das
ist ein Zeichen, dass Chaos und nicht Hegemonie einsetzt. Chaos ist nichts
anderes als der Zusammenbruch von Regelwerken, die einer existierenden internationalen
Ordnung zugrunde liegen.
Z: Nichteinhaltung der Regeln durch den Hegemon?
A: Das ist, wovon Beverly Silver und ich in „Chaos and Governance“ sprachen.
Frühere Zusammenbrüche von Hegemonie traten auf, weil es aggressive
neue Mächte gab, die den untergehenden Hegemon herausforderten, und – zu
einem geringeren Grad – weil der sich im Niedergang befindliche Hegemon
seine Macht überschätzte und versuchte, die eigene Hegemonie in eine räuberische
Dominanz umzuwandeln. Heutzutage ist die Situation genau umgekehrt.
Es gibt keine glaubwürdigen aggressiven neuen Mächte, die den Zusammenbruch
des Systems herbeiführen könnten, sondern die unangefochtene
militärische Stärke der USA erscheint den herrschenden Gruppen – meines
Erachtens fälschlicherweise – als ausreichend genug, die ganze Welt in ein
Empire von Tributpflichtigen der USA verwandeln zu können. Ich halte das
für eine Illusion, die – sollte sie mit Entschlossenheit verfolgt werden – eher
Chaos als ein „Empire“ hervorbringen wird. Was nach dem Chaos auftauchen
wird, ist schwer zu sagen. Es könnte ein Weltreich mit einer breiteren Basis
sein als nur der USA. Oder es könnte eine Weltmarktsgesellschaft sein, die ihr
Zentrum in Ostasien hat. Das könnte für die USA aber inakzeptabel sein. Also
ist alles, was wir im Augenblick vorausahnen können, eine lange Epoche von
Kämpfen zwischen der Tendenz der globalen Ökonomie, sich mit Ostasien ein
neues Zentrum zu schaffen, und den US-amerikanischen Ansprüchen auf den
Aufbau eines Weltreiches, die darauf abzielen, eben diese Tendenz zu stoppen.
Z: Würdest du behaupten, dass wir es mit einer Art Refeudalisierung zu tun
haben?
A: Ich denke, feudal ist nicht der richtige Ausdruck, der richtige Ausdruck ist
imperial. Es ist aber schwer, ein wahrhaft universales Weltreich aufzubauen,
ganz gleich wie destruktiv die Stärke des Möchtegern-Zentrums des Imperiums
ist. Beispielsweise wurde der Irakkrieg geführt, um neue Ressourcen für
das US-amerikanische Weltreichprojekt zu mobilisieren. Die USA sehen aber
schon allein bei der Befriedung und dem Wiederaufbau des Iraks enormen
Kosten entgegen. Folglich könnte sich der Irak, anstatt Tributquelle zu sein,
zu einer zusätzlichen Belastung des US-Zahlungsbilanzausgleichs entwickeln,
so dass letztendlich die Vereinigten Staaten Deutschland, Japan und andere
Länder werden bitten müssen, einzuspringen und zur Behebung des Chaos,
das die Vereinigten Staaten im Irak und der angrenzenden Region verursacht
haben, finanzielle und andere Hilfen zu leisten. Man wird dann um „humanitäre
Hilfe“ bitten und es wird auch „humanitäre Hilfe“ geleistet werden, tatsächlich aber wird es sich um die Extraktion von Tributen handeln. Ich gehe
nicht davon aus, dass die Verantwortlichen dieses Krieges sich über die Implikationen
der Handlungen, in die sie sich und das eigene Land verwickelten,
im klaren waren. Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien; ich denke, sie
wursteln sich einfach so durch. Für die Problematik des derzeitigen Übergangs
gibt es aber aufgrund der Ausmaße und Reichweite der Probleme, die
im Zusammenhang mit dem Aufbau eines wirklich universalen Weltreiches
oder einer wirklich universalen Weltmarktgesellschaft – die die einzige realistische
Alternative zum Chaos oder der Form von Empire, das die USA aufzubauen
versuchen, wäre – auftreten, tatsächlich keine historisch vergleichbaren
Vorläufer.
Z: Wie denkst du könnte ein Weltmarkt dem Welt-Empire widersprechen?
A: Es bedarf Formen globaler Regulation. Ich weiß, dass die globalisierungskritische
Bewegung sich auf die WTO konzentriert. Ich bin aber der Auffassung,
dass dies unangebracht ist, weil multilateral zustande gekommene Vereinbarungen
besser als bilaterale Abkommen sind, die im direkten Aufeinandertreffen
notwendigerweise starke Länder gegenüber armen und schwachen
Ländern begünstigen. Die WTO muss als der Ort, an dem die Schlacht um
Regelungen und Regulationen geschlagen wird, verstanden werden. Bis dato
hat sie den armen Ländern nicht gut gedient, aber die Alternative hierzu ist
sogar noch schlimmer.
Z: Wir danken dir für dieses Interview.
Dieser Beitrag erschien in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 55, September 2003, S. 92-98
Die Zeitschrift Z erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung
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