Keine Vorstrafe für Totalverweigerer
Berliner Staatsanwaltschaft akzeptiert geringe Bestrafung
»Augen zu und durch«, das war bisher die Devise, wenn es um die Durchsetzung der
Wehrpflicht ging, auch in der Justiz. Zwar häufen sich die Beschwerden über die
Verfassungswidrigkeit der Wehrpflicht, sind entsprechende Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
anhängig, und kaum jemand gibt dem System der Zwangsrekrutierung noch eine Zukunft -
aber wer sich dem Anspruch widersetzt, als Soldat oder Zivildienstleistender ein knappes
Jahr dem Staat zu opfern, gilt nach wie vor als Straftäter.
So auch der 20jährige Sascha Weber, der im Oktober 1999 den Zivildienst verweigert hatte
(siehe
unseren Bericht). Ausschlaggebend dafür war für ihn der Umstand, daß
Zivildienstleistende im Kriegsfall für die sogenannte Zivilverteidigung eingeplant sind, welche
laut Weißbuch des Verteidigungsministeriums »die Planung, Vorbereitung und Durchführung
aller zivilen Maßnahmen, die zur Herstellung der Verteidigungsfähigkeit erforderlich sind«,
umfaßt, wie es in Webers vorbereiteter Erklärung heißt. Anders ausgedrückt sollen
Kriegsdienstverweigerer zwar nicht direkt töten, aber Beihilfe zum Mord leisten.
Die militärische Relevanz des Zivildienstes und die Ernsthaftigkeit der Totalverweigerer
bestreitet kaum noch ein Gericht, ganz im Gegensatz zu früher: Nach Angaben von
Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck hatte das Berliner Kammergericht Anfang der 90er Jahre
noch als Richtschnur ausgegeben, Totalverweigerer zu Freiheitsstrafen zu verurteilen, auch
ohne Bewährung - offenbar eine Art Unterwerfungsgeste nach Ausdehnung der
BRD-Wehrpflicht auf Berlin. Hier wurde schon deutlich heruntergeschaltet: Zu mehr als
einem halben Jahr, immer auf Bewährung, oder Geldstrafen wird in Berlin nicht mehr
verurteilt. Angesichts der möglichen Höchststrafe von fünf Jahren liegt das deutlich am
unteren Ende der Skala.
Das Amtsgericht Tiergarten hatte Weber im Januar zu 90 Tagessätzen ŕ 20 Mark verurteilt
und ausdrücklich anerkannt, daß er aus Gewissensgründen gehandelt habe. Damit blieb es
knapp unter der Verhängung einer Vorstrafe. Als solche gelten nur Strafen ab 91
Tagessätzen bzw. über drei Monaten Freiheitsstrafe. Die Staatsanwaltschaft, bekannt dafür,
daß sie mit Eifer die Interessen der Bundeswehr verficht, ging damals in Berufung, um die
Strafe zu verschärfen. Dazu kam es am Dienstag jedoch nicht. Unmittelbar vor Beginn der
für gestern morgen angesetzten Verhandlung vor dem Berliner Landgericht zog der
Staatsanwalt die Berufung zurück. Die Verteidigung verzichtete ebenfalls auf ihr
Rechtsmittel, so daß das alte Urteil rechtskräftig ist.
»Zufrieden kann ich damit nicht sein, aber etwas Besseres war nicht zu erwarten«,
kommentierte Sascha Weber den Vorgang. Der Richter habe erkennen lassen, daß er beide
Berufungen verwerfen werde.
Anwalt Kaleck schätzte es als positiv ein, daß die Staatsanwaltschaft sich »dem Trend, zu
geringeren Urteilen zu kommen, nicht verschließt«. Immerhin hat sie in diesem Fall nicht
darauf beharrt, dem Kriegsgegner unbedingt einen Eintrag ins Führungszeugnis zu setzen,
was selten genug vorkommt. Einen Präzedenzfall wolle man damit jedoch nicht schaffen,
erklärte eine Justizsprecherin. Künftige Totalverweigerer müssen also weiterhin damit
rechnen, als Kriminelle behandelt zu werden.
Frank Brendle
Aus: junge welt, 6. Juni 2001
Die junge welt führte auch ein Interview mit dem Totalverweigerer, das wir ebenfalls dokumentieren:
F: Seit Ende 1999 haben Sie sich dem Zivildienst verweigert. Ende Januar dieses Jahres
wurden Sie wegen Dienstflucht vor dem Berliner Amtsgericht zu 90 Tagessätzen zu 20
Mark verurteilt und haben gegen das Urteil Berufung eingelegt. Warum?
Ich halte mich für unschuldig, weil ich das Töten von Menschen konsequent ablehne. Eine
Akzeptanz dieses Urteils in erster Distanz wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen.
F: Bei der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht am gestrigen Dienstag haben Sie aber
doch einen Kompromiß akzeptiert.
Keineswegs. Die Staatsanwaltschaft hatte quasi Berufung gegen meine Berufung eingelegt.
Gestern haben sich beide Seiten bereit erklärt, das Verfahren und das vom Amtsgericht
ausgesprochene Urteil zu akzeptieren. Die Vorsitzende Richterin hatte zudem erklärt, daß
meine Chancen nicht besser würden, die Gerichte verweisen weitgehend auf ein
bevorstehendes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in der Sache.
F: Hatten Sie mehr erwartet?
Politisch betrachtet war das Urteil noch relativ sanft. Zufrieden bin ich als Totalverweigerer
natürlich trotzdem nicht.
F: Antimilitaristen werden seit Monaten verstärkt mit Prozessen überzogen: von den
Unterzeichnern eines Appells zur Desertion vom Bundeswehreinsatz im Kosovo bis hin zu
der Farbbeutelwerferin auf dem Grünen-Parteitag in Bielefeld. Eine Justizkampagne?
Mit diesen Prozessen sollen auf juristischer Ebene alle diejenigen mundtot gemacht werden,
die ihre Stimme gegen die deutschen Verhältnisse im allgemeinen und den ersten deutschen
Angriffskrieg nach dem zweiten Weltkrieg im besonderen erhoben haben. Es ist kein
Wunder, daß die SPD- Grünen-Regierung auf Kritik an ihrer Politik überaus sensibel
reagiert. Mit dem Wegfall der zentralen Argumentation der »Landesverteidigung« ist die
Bundeswehr in eine Legitimationskrise gekommen, und ein Land im Namen der
»Menschenrechte« zurück in die Steinzeit zu bomben, läßt sich offensichtlich schwerer
verkaufen.
F: Zu Ihrem Prozeß haben Sie mit der Parole »Krieg dem Krieg« mobilisiert. Das klingt
nicht sehr pazifistisch.
Damit meine ich einen konsequenten Antimilitarismus. Solange es Staaten, kapitalistische
Verwertungszwänge und patriarchale Strukturen gibt, wird es auch Kriege und damit
einhergehend Unterdrückung und Ausbeutung geben. »Krieg dem Krieg« meint, einen
Kampf gegen die Remilitarisierung zu führen. Es geht mir um eine entmilitarisierte,
basisdemokratische und solidarische Gesellschaft. Die totale Kriegsdienstverweigerung
verstehe ich so auch als Kampfansage an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
Interview: Otto Busse
Aus: junge welt, 6. Juni 2001
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