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Unter welchen Voraussetzungen erlaubt das Völkerrecht eine Sezession?

In Großbritannien und Spanien stehen Referenden an - in Bosnien wollen die Serben, in Italien die Lega Nord aus dem Staatsverband aussteigen


Es gibt eine Reihe geglückter und im Großen und Ganzen friedlicher Sezessionen, d.h. Abspaltungen von Teilen eines Staates. Sie waren in der Regel in Übereinstimmung mit dem Gesamtstaat bzw. durch vereinbarte Referenden zustande gekommen. Beispiele sind die Trennung der Slowakei und Tschechiens oder die Unabhängigkeit Südsudans (hier waren ein Friedensvertrag und eine Vereinbarung zwischen der Zentralgewalt und den Rebellen im Süden voraus gegangen). Völkerrechtlich umstritten sind dagegen einseitige, gegen den Willen der jeweiligen Zentralgewalt vorgenommene Sezessionen wie die Unabhängigkeit des Kosovo (gegen den Willen Belgrads) oder die Unabhängigkeit der georgischen Landesteile Abchasien und Südossetien. Und auch bei der Zulässigkeit der Abspaltung der Krim von der Ukraine scheiden sich die Geister.

Dass es noch andere mehr oder weniger brisante Fälle von Abspaltungstendenzen bzw. -gelüsten in europäischen Staaten gibt, belegen die nun folgenden Berichte aus Großbritannien, Spanien, Bosnien-Herzegowina und Italien.



Schottland prüft das Königreich

London hat nichts gegen ein Referendum, will aber Sezession vermeiden

Von Reiner Oschmann *


Am 18. September findet in Schottland ein mit Großbritannien im Einvernehmen verabredetes Referendum statt. Das zeigt: Über Separatismus kann auch demokratisch abgestimmt werden.

Allein die Tatsache, dass am 18. September in Schottland ein mit der Tarnkappenaktion auf der Krim unvergleichbares Referendum zu der Frage stattfindet, ob der Norden selbstständig werden will, zeugt von der Zerrissenheit der einstigen Weltmacht Großbritannien.

Die Scottish National Party (SNP), im Regionalparlament in Edinburgh allein regierend, ist eine sozialdemokratische Partei, die Schottland unabhängig machen will. Die Begründung: Befreit von der abgehobenen, asozialen Politik Londons könne Schottland »besser, reicher und gesünder, grüner und gerechter, kreativer und friedlicher« sein. Etwa ein Drittel der Schotten will, dass ihr Parlament alle Entscheidungen fällt, die Schottland angehen. Ein weiteres Drittel ist für den Ausbau der Selbstverwaltung dafür, die Befugnisse Londons auf Außen- und Verteidigungspolitik zu beschränken.

Laut SNP-Fahrplan könnte die Unabhängigkeit, eine Mehrheit im Referendum vorausgesetzt, im Frühjahr 2016 in Kraft treten. Dann sollen die Queen zwar Landesmutter und das Pfund Landeswährung bleiben. Die Gewinne aus der Ölförderung vor der Küste, wo die Vorräte für wohl weitere vier Dekaden reichen, sollen allerdings nur noch nach Edinburgh fließen. In der Vision der Nationalisten bildet Schottland mit England, Wales und Nordirland dann eine Reisezone, bleibt Mitglied von EU und NATO, arbeitet eng mit den skandinavischen Nachbarn zusammen und unterhält eine Armee von nur 15 000 Mann.

Die Lebensfähigkeit eines eigenständigen Schottlands ist so unstrittig, wie als sicher gilt, dass sein Ausstieg aus der Union Fliehkräfte in Wales stärken dürfte. England könne es schaffen, so der Publizist Simon Jenkins, »in 100 Jahren nicht nur ein, sondern zwei Empires zu verlieren«. Ex-NATO-Generalsekretär George Robertson (Schotte) warnt daher: »Das Königreich wäre immer noch bedeutend, doch der Verlust eines Drittels seiner Landmasse, von fünf Millionen Menschen und eines Gutteils seiner Glaubwürdigkeit würden sein globales Gewicht unweigerlich schmälern.«


Separatisten im Aufwind

Autonomiebewegungen in Spanien orientieren sich an Schottland

Von Ralf Streck, San Sebastián *


Die Unabhängigkeitsbewegungen im Baskenland und in Katalonien, wo noch 2014 über die Autonomie abgestimmt werden soll, beobachten die Positionen der EU zur Krim mit großem Interesse.

Wie die spanische Regierung meinen auch EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und EU-Kommissionschef José Manuel Barroso, eine Änderung des Status’ der Halbinsel Krim würde »gegen ukrainisches Recht und das Völkerrecht verstoßen«. Sowohl Basken als auch Katalanen betonen allerdings, die Vorgänge dort seien nicht mit den eigenen vergleichbar.

Alfred Bosch spricht von einer »fast krankhaften Besessenheit«, verbieten zu wollen, dass »Menschen abstimmen können«. Der Parlamentarier der Republikanischen Linken (ERC) im spanischen Parlament äußert dies auch mit Blick auf Madrid. Denn die spanische Regierung verweigert sich jeder Debatte und will das katalanische Referendum am 9. November untersagen.

Die Katalanen wollen 300 Jahre nach dem Fall Kataloniens unter die spanische Krone im Jahre 1714 ihre Souveränität zurückerlangen. Nach Umfragen ist eine Mehrheit von zuletzt 60 Prozent dafür. Der Versuch der rechten PP-Regierung in Madrid, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, Sprachenrechte zu beschneiden und über nationale Gesetze die seit dem Ende der Diktatur erlangten Autonomierechte wieder auszuhöhlen, trieben Millionen zum friedlichen Protest auf die Straße. In der Wirtschaftskrise wurde auch bedeutender, dass milliardenschwere Transferleistungen aus Barcelona nach Madrid fließen, während Katalonien selbst auch unterfinanziert und hoch verschuldet ist. Die 7,5 Millionen Katalanen tragen überdurchschnittlich stark zur spanischen Wirtschaftsleistung bei.

Der katalanische Regierungschef Artur Mas hofft, dass die Positionen in der EU zur Krim dem Anliegen der Katalanen nicht schaden. Schließlich gebe es im Umgang mit Separationsbestrebungen in der EU große Unterschiede.

Im Baskenland, wo seit langem für die Unabhängigkeit gekämpft wird, werden ebenfalls Unterschiede betont. Allerdings, verteidigt Igor Lopez de Munain gegenüber »nd« grundsätzlich das »Selbstbestimmungsrecht«. Der Parlamentarier der Linkskoalition Bildu (Sammeln) im baskischen Parlament meint, dieses Recht habe die Ukraine und die Bevölkerung auf der Krim. Die Frage der Unabhängigkeit der Krim sei erst über einen »Putsch in der Ukraine« und über den »Ausbruch der Gewalt« aufgetaucht. Die lehnt die linke Unabhängigkeitsbewegung im Baskenland ab. Daher hat sie die Untergrundorganisation ETA dazu gebracht, die Waffen niederzulegen. »Der Konflikt mit Spanien und Frankreich muss unter Abwesenheit jeglicher Gewalt gelöst werden und unser Selbstbestimmungsrecht einschließen.«

Anders als die Krimbewohner wollen sich die Basken keinem Staat anschließen. Weil die Krim mit Russland einen starken Verbündeten hat, konnte die Halbinsel ihr Ziel schnell erreichen. Bildu kritisiert aber, dass sowohl die EU als auch Russland in ihren Positionen »absolut inkohärent« seien. Die EU habe in Kosovo und Mazedonien die Abtrennung von Jugoslawien aktiv betrieben, um das Einflussgebiet gegenüber Russland zu erweitern. Doch dagegen stellte sich Russland damals. Das zeige, dass »aus geopolitischen und ökonomischen Interessen« Unabhängigkeitsbewegungen von Großmächten zum Leidwesen der jeweiligen Bevölkerung mal gefördert, ein andermal hart bekämpft würden.


Serben wittern ihre Chance

Volksgruppen leben in Bosnien-Herzegowina voller Argwohn nebeneinander

Von Thomas Roser, Belgrad *


Die Krim-Krise stärkt in der bosnischen Serbischen Republik (Republika Srpska) die Sezessionsgelüste. Doch mit einer Abspaltung wie im Fall Kosovos ist derzeit nicht zu rechnen.

Milorad Dodik hatte sich einen guten Ort ausgesucht. Ausgerechnet in Moskau stimmte der Präsident der Serbischen Republik in Bosnien vergangene Woche sein Loblied auf den »legitimen« Freiheitskampf der Krim an. Es sei »völlig verständlich«, dass die Krim die Freiheit wünsche. Schließlich habe sie schon immer zu Russland gehört, verkündete der starke Mann von Banja Luka. Hernach drohte Dodik erneut dunkel das Ausscheren seines Teilstaats aus Bosnien-Herzegowina an. »Im Moment« respektiere die Republika Srpska zwar den Dayton-Friedensvertrag von 1995, »doch wenn die Situation untragbar wird, hat sie ein legitimes Recht, die Eigenständigkeit zu fordern«.

Der vor fast zwei Jahrzehnten von der Staatengemeinschaft erzwungene Friedensschluss hat die einstigen Gegner des Bosnienkriegs nie miteinander ausgesöhnt. Eher neben- als miteinander und voller Argwohn leben muslimische Bosniaken, Serben und Kroaten im labilen Vielvölkerstaat. Von Sezessionsgelüsten wird seit ihrer Gründung am Vorabend des Bosnienkriegs 1992 vor allem die Republika Srpska geplagt, die fast die Hälfte des Staatsgebiets ausmacht. Doch nicht nur die Serben, auch die Kroaten seien für die Auflösung von Bosnien-Herzegowina, behauptet Dodik, »auch wenn sie es niemals offen sagen werden«.

Trotz Dodiks Drohung einer Abspaltung ist mit einem raschen Zerfall kaum zu rechnen. An einem Anschluss der Serbischen Republik an die Republik Serbien hätten die frisch gebackenen EU-Anwärter in Belgrad genauso wenig Interesse wie der starke Mann in Banja Luka. Damit würde sich Dodik selbst zum zweitrangigen Provinzfürsten degradieren. Der Selbstständigkeit steht nicht nur die Geografie des auch noch durch den Sonderdistrikt Brcko getrennten Hufeisenstaats entgegen. Weder Sarajevo noch die Staatengemeinschaft wären wohl für die Idee zu gewinnen, dass der Gedenkfriedhof für die von bosnisch-serbischen Truppen getöteten Opfer des Massenmords von Srebrenica künftig auf dem Territorium einer selbstständigen Serbischen Republik liegen würde.

Mit mehreren Kontaktbüros im Ausland, einem eigenen Parlament, Rechtswesen und eigener Polizei wäre der Teilstaat für eine Abspaltung wohl schnell bereit. Doch fraglich ist, ob Dodik tatsächlich am Zerfall Bosnien-Herzegowinas gelegen ist. Denn wie ihre Amtskollegen in der muslimisch-kroatischen Föderation haben sich auch die Machthaber der Serbischen Republik komfortabel in Bosniens Staatslabyrinth eingerichtet. Der geschäftstüchtige Dodik gilt nach Montenegros Premier Milo Djukanovic als der reichste Politiker der bitterarmen Region. Zudem würde der Zerfall des Vielvölkerstaats auch das von ihm geschätzte Ausspielen der ethnischen Karte merklich erschweren: Als Gralshüter serbischer Interessen gegenüber Sarajevo könnte er sich bei Urnengängen in einer selbstständigen Serbischen Republik kaum mehr profilieren.

* Alle drei Beiträge aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. März 2014


Abstimmung in Venezien

Italien: Die Lega Nord will den reichen Norden vom Zentralstaat abspalten

Von Gerhard Feldbauer **


Am morgigen Freitag endet in der italienischen Region Veneto (Venezien) eine Abstimmung darüber, ob das Land eine von Italien »unabhängige und souveräne Republik wird«. Abstimmen können die rund fünf Millionen Einwohner online oder auch in Wahllokalen. Begonnen hat das bereits früher angesetzte Votum rein zufällig am selben Tag, da auf der Krim das Unabhängigkeitsreferendum stattfand. Organisatoren sind eine sich überparteilich nennende Bürgerbewegung »Plebiscito eu«, deren Vorsitzender Gianluca Busato 2008 Mitbegründer einer Partito Nazionale Veneto war, die 2010 bei Regionalwahlen jedoch nur 0,6 Prozent erreichte.

Als eigentlicher Drahtzieher gilt die rechtsextreme separatistische Lega Nord, die seit ihrer Gründung 1991 eine Politik der Abspaltung der reichen Industrieregionen vom Zentralstaat betreibt. Sie ist stärkste Partei des Veneto und stellt mit Luca Zaia den Ministerpräsidenten. Die Abstimmung hat jedoch nur den Status einer privaten Initiative und ist, auch wenn sie von der Regierung Zaia genehmigt wurde, kein Referendum. Sie ist ein Test, aber Zaia erklärte bereits, die Initiative könnte ein formelles Referendum auf den Weg bringen. Gegenüber der Zeitung Il Quotidiano argumentierte er, daß die italienische Verfassung eine Abspaltung nicht verhindern könne. Gegenüber der Rundfunk- und Fernsehanstalt RAI nannte er auch Katalonien und Schottland als ausgehende Vorbilder der Unabhängigkeitsbewegung.

Ausgesprochen heuchlerisch wird es, wenn die für ihren offenen Rassismus und extreme Ausländerfeindlichkeit bekannten Legistas, die als Mitglieder der früheren faschistoiden Berlusconi-Regierungen das schärfste Gesetz gegen Einwanderer in der EU durchsetzten, sich plötzlich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. Die italienischen Medien, die sich fast alle an der antirussischen Hetzkampagne im Zusammenhang mit den Vorgängen in der Ukraine beteiligen, äußern sich mit keinem Wort zu dem neuerlichen Versuch dieser Abspaltung von Rom. Dabei sind die entgegengesetzten historischen Parallelen offensichtlich: Während die Krim als altes russisches Territorium einer Entscheidung ihrer mehrheitlich russischen Bevölkerung folgend nach einem mit Faschisten in Kiew inszenierten Staatsstreich zu Rußland zurückkehrt, soll Venezien, das ein Zentrum der italienischen Renaissance war und dessen Bevölkerung in den Befreiungsbewegungen des Risorgimento (1789–1870) an den Unabhängigkeitskriegen gegen die Habsburger Unterdrücker für die Herstellung des italienischen Nationalstaates teilnahm, von seinem Nationalverband losgerissen werden. Das Schweiz Magazin befürchtete, damit werde die »Büchse der Pandora« geöffnet. Denn als nächstes könnte Alto Adige (Südtirol), anders als Venezien bis zum Ende des Ersten Weltkrieges österreichische Provinz, »heim nach Wien« wollen. Russische Medien, darunter Russia Today und Stimme Rußlands, haben das Ereignis als Trend gegen die antirussische Medienwelle dagegen aufgegriffen und berichten von Umfrageergebnissen, die über 60 Prozent Zustimmung erwarten, was durchaus zutreffen könnte.

In Venezien wie auch in der Lombardei sind von den großen Kapitalkreisen getragene Unabhängigkeitsbestrebungen nichts Neues. Es gibt sie seit Jahrzehnten. Das Motiv ist, daß der reiche Norden für den armen Süden, der mit seinen billigen Arbeitskräften nach dem Krieg seinen wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichte, keine Subventionen mehr aufbringen will. Vordergründig geht es deshalb um wirtschaftliche und finanzielle Aspekte, vor allem um die Steuereinnahmen von jährlich 70 Milliarden Euro, von denen 20 an Rom abgeführt werden. Wenn die Abstimmung positiv endet, sollen nach den Forderungen ihrer Betreiber sofort keine Steuern mehr in die Staatskasse gezahlt werden. Rom hat bereits erklärt, das Ergebnis nicht anzuerkennen, und Konsequenzen angekündigt. Daß mit der Abstimmung in Venezien ein Austritt aus der NATO verbunden sei, wird ohnehin als völlig abwegig gesehen, sind doch dort ein Teil der strategischen US-Basen des Paktes stationiert. Auch von der EU will die Geschäftswelt sich kaum trennen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 20. März 2014


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