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Sanitätspersonal im bewaffneten Einsatz?

Dem humanitären Kriegsvölkerrecht trotzdem Genüge getan? Eine Geschichte aus Absurdistan, Pardon: Afghanistan

Wenn sich Sanitäter, Ärzte und sonstiges Rot-Kreuz-Personal im Krieg befinden, dürfen sie Waffen nur zur Selbstverteidigung tragen und unterstehen dem Schutz durch das Kriegsvölkerrecht. Wenn sie sich nicht im Kriegszustand befinden, sollen sie auch zu anderen bewaffneten Aufgaben herangezogen werden dürfen. Eine absurde Situation? Gewiss, aber die Wirklichkeit spart bekanntlich nicht mit Absurditäten, wie die folgende Geschichte deutschen Sanitätspersonals in Afghanistan zeigt.
Wir dokumentieren drei Beiträge von der Website "German Foreign Policy" (http://german-foreign-policy.com/).



Kein Krieg - kein Völkerrecht

BERLIN/POTSDAM/MÜNCHEN/KABUL - 24.10.2005 (Eigener Bericht)
Die militärische Führung der deutschen Streitkräfte verlangt vom soldatischen Sanitätspersonal bewaffnete Kampfbereitschaft und hält Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts im besetzten Afghanistan für obsolet. Eine entsprechende Stellungnahme des für die Auslandseinsätze deutscher Truppen zuständigen Einsatzführungskommandos der Bundeswehr liegt dieser Redaktion vor. Bei Sänitätsbediensteten handelt es sich - ebenso wie bei Feldgeistlichen - um Nichtkombattanten, die vom Dienst an der Waffe ausgenommen sind oder als Insurgenten gelten. Hingegen schreibt die Berliner Militärführung vor, dass Sanitäter die bewaffnete "Sicherung" anderer Truppenteile zu übernehmen haben, da in Afghanistan "kein Krieg" herrsche. Wie ein Experte gegenüber german-foreign-policy.com erklärt, handelt es sich bei der Berliner Verordnung um einen "international einmaligen Vorgang". Er stellt das Kriegsvölkerrecht in Frage und reißt letzte Schranken der Besatzungspolitik nieder.

Bereits im Januar dieses Jahres hat das Potsdamer Einsatzführungskommando der Bundeswehr auf Anfrage des parlamentarischen "Wehrbeauftragten" bestätigt, dass "keine völkerrechtlichen Bedenken" gegen den "Einsatz von Sanitätspersonal im Streifendienst im Einsatzland Afghanistan" bestünden. Ein im afghanischen Feyzabad stationierter Angehöriger des Sanitätsdienstes hatte sich am 29. November 2004 an den für die deutschen Soldaten zuständigen Ombudsmann des Bundestages gewandt, weil er mehrere Tage mit der Waffe in der Hand Wachdienst leisten musste. Da das humanitäre Völkerrecht die strikte Trennung von kämpfenden und nichtkämpfenden Truppenteilen vorschreibt, bezweifelte er die Rechtmäßigkeit des Einsatzbefehls.

Tarnung

Das Einsatzführungskommando war anderer Ansicht: Die Entscheidung der unter der Bezeichnung "Provincial Reconstruction Teams" (PRT) in Afghanistan firmierenden deutschen Besatzungstruppen, Sanitäter im bewaffneten Wachdienst einzusetzen, sei "nicht zu beanstanden". Auch könnten die "Soldaten im Sanitätsdienst (...) zu allgemeinen Aufgaben im Einsatz herangezogen werden". Die militärische Führung der Bundeswehr redet damit dem offenen Völkerrechtsbruch das Wort, insofern die Kämpfe in Afghanistan Kriegshandlungen sind: In Kriegsgebieten eingesetzte Sanitäter und Militärseelsorger gelten als Nichtkombattanten und stehen unter dem besonderen Schutz der Genfer Konvention; sie dürfen Waffen nur zur Selbstverteidigung tragen. Beteiligen sich Nichtkombattanten an Kampfhandlungen, gelten sie als Aufständische unter völkerrechtlicher Tarnung und können unverzüglich getötet werden.

Alltag

Das "Einsatzführungskommando" betont in seiner Stellungnahme ausdrücklich, dass die Abstellung eines Sanitäters zum Wachdienst keine humanitären Zwecke verfolgte, sondern der "Sicherung des PRT" galt. Zwar räumt das Berliner Militär ein, bei dem abverlangten Kampfauftrag habe es sich um "zusätzliche Aufgaben" des Sanitäters gehandelt; da er aber "während seiner aktiven Dienstzeit, wie auch während der einsatzvorbereitenden Ausbildung, für solche ausgebildet" worden ist, sei sein Kombattantenstatus nicht zu beanstanden. Die Formulierungen lassen darauf schließen, dass die Trennungslinie zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten bei der Bundeswehr zunehmend verwischt und die bewusste Infragestellung des Völkerrechts zumindest bei den deutschen Besatzungstruppen in Afghanistan zum dienstlichen Alltag gehört. Dafür spricht auch der Fall einer 35-jährigen Sanitätsfeldwebelin der Bundeswehr, die deutschen Presseberichten zufolge im Frühling dieses Jahres als Operationsschwester im Feldlazarett in Afghanistan eingesetzt war. Der dortige Kommandeur hatte der Frau befohlen, ihre Rot-Kreuz-Armbinde abzulegen und an einem militärischen Kontrollposten die Sicherung des Infanterielagers mit dem Maschinengewehr zu übernehmen.

Gängige Rechtsauffassung

Die dienstlichen Übergriffe auf Nichtkombattanten der Bundeswehr rechtfertigt die Berliner Militärführung mit einer definitorischen Volte. Demnach mangelt es den täglichen Kampfhandlungen in Afghanistan mit inzwischen Tausenden Toten an bestimmenden Eigenschaften, die für Kriege typisch sind. In einem Schreiben vom 1. September 2005, das dieser Redaktion vorliegt, versteigt sich das Sanitätsamt der Bundeswehr zu der wirklichkeitsfremden Behauptung, die deutschen Truppen in Afghanistan seien "nicht in einem internationalen bewaffneten Konflikt" tätig. Weiter heißt es, "Regelungen", die auf den "besonderen Status" der an einem solchen Konflikt teilnehmenden Parteien zielen, hätten folglich "keinen Anwendungsbereich": "Da außerhalb des internationalen bewaffneten Konfliktes eine Differenzierung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten nicht stattfindet, stellt der Einsatz von Sanitätspersonal zur Sicherung des Feldlagers keinen Verstoß gegen die Regelungen des humanitären Völkerrechts dar."

Terroristisch

Weil die Berliner Führung in Abrede stellt, dass sich ihre Afghanistan-Truppen im Kriegszustand befinden, spricht sie von "Auseinandersetzungen mit irregulären Kräften". Gleichzeitig zahlt sie den deutschen Soldaten doppelte Monatsbezüge - wegen "extremer Belastungen" unter "kriegsähnlichen Bedingungen". Die definitorischen Ungereimtheiten kommen nicht von ungefähr: Die Leugnung des deutschen Kriegseinsatzes in Afghanistan setzt nicht nur Sanitätspersonal für Waffengänge frei; vor allem ermöglicht sie die schonungslose Behandlung des afghanischen Widerstands, dem der international gültige Rechtsschutz entzogen wird. Den "irregulären Kräften" kann mit Maßnahmen begegnet werden, die im Kriegszustand als terroristisch gelten. Dieser eigentliche Hintergrund der Widersprüche innerhalb der Bundeswehr macht deutlich, dass im deutschen Besatzungskrieg letzte Schranken humanitärer Gewaltverbote fallen.

Quelle: www.german-foreign-policy.com


Kriegsähnlich

15.10.2005

In Afghanistan ist auch Sanitätspersonal der Bundeswehr zum bewaffneten Einsatz abkommandiert worden.

Einer als Operationsschwester in einem Feldlazarett in Afghanistan tätigen Sanitätsfeldwebelin und ihren Kollegen war von ihrem Kommandeur befohlen worden, die Sicherung des Infanterielagers zu übernehmen. Das international besetzte Lazarett der ISAF steht unter dem Schutzzeichen des Roten Kreuzes. Ärzte und Sanitäter tragen entsprechende Armbinden, da das Völkerrecht vorschreibt, im Kriegseinsatz strikt zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten zu unterscheiden. Zum nichtkämpfenden Teil der Truppe gehören das Sanitätspersonal und die Militärseelsorger, die nur zur Selbstverteidigung Waffen tragen dürfen. Das deutsche Sanitätspersonal wurde angewiesen, diese Armbinden abzulegen und bewaffneten Wachdienst zu leisten.

Weil sie den Befehl infrage stellte, wurde die Soldatin vom Dienst suspendiert, nach Deutschland zurückgeschickt und mit einer Disziplinarbuße belegt. Eine Beschwerde beim Truppendienstgericht blieb erfolglos. Der daraufhin angerufene Petitionsausschuss des Bundestages verweist in seinem abschlägigen Zwischenbescheid auf die Argumentation des Verteidigungsministeriums und der zuständigen Stabsabteilung. Die Unterscheidung in Kombattanten und Nichtkombattanten sei nur im bewaffneten Konflikt vorgeschrieben, heißt es darin. Da sich die Bundesrepublik in Afghanistan nicht im Kriegszustand befinde, müssten auch Ärzte und Sanitäter zu den Waffen greifen. Selbst das Ministerium habe offiziell schon eingeräumt, dass es sich um einen "kriegsähnlichen, internationalen Konflikt" handele, heißt es dagegen. Dies lasse sich sogar an den Soldabrechnungen ablesen: Die Soldaten erhalten das doppelte Monatssalär - wegen "extremer Belastungen" unter "kriegsähnlichen Bedingungen".

Quelle: Sanitätsdienst an der Waffe; tageszeitung 14.10.2005

Aus: www.german-foreign-policy.com


Medizinische Kriegsvorbereitungen

BERLIN/WESTERSTEDE/BAD ZWISCHENAHN/KARLSRUHE - 05.10.2005 (Eigener Bericht)
Das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) rechnet mit einer drastischen Zunahme von Kriegsverletzungen durch deutsche Militäreinsätze deutscher Soldaten und verstärkt die Kooperation zwischen Bundeswehrkrankenhäusern und zivilen Kliniken. Ein entsprechender Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Landkreis Ammerland und der Ammerland-Klinik GmbH wurde kürzlich in Westerstede (Niedersachsen) unterzeichnet. Erklärtes Ziel ist die notfallmedizinische und traumatologisch-operative Versorgung der bei Kampfhandlungen verwundeten Bundeswehrangehörigen, die Ausbildung des militärischen Sanitätspersonals und dessen Vorbereitung auf Auslandseinsätze. Die Fähigkeit der Bundeswehr zur Führung von Kriegen wird damit weiter verbessert, die Heimatfront verstärkt.

Ab 2008 soll das zur Zeit noch in Bad Zwischenahn untergebrachte Bundeswehrkrankenhaus auf das Gelände der Ammerland-Klinik in Westerstede umziehen und mit der zivilen Institution einen "Wirkverbund" bilden. Geplant ist der Austausch von Patienten und Personal sowie die gemeinsame Führung der zentralen Aufnahme- und Intensivstation; die (nicht-militärische) Unfallrettung von Zivilverletzten im Bezirk Westerwede wird die Bundeswehr sogar in Eigenregie übernehmen. Auf diese Weise wird en passant auch der von deutschen Politikern seit langem geforderte Einsatz des Militärs im Innern Realität. Die laut BMVg "bundesweit erste und einzigartige zivil-militärische Krankenhaus-Kooperation" wurde Anfang September im Beisein von Verteidigungsminister Peter Struck feierlich besiegelt. Mehr als hundert Gäste aus Politik, Verwaltung, Ärzteschaft und Militär nahmen auf Einladung des Landkreises Ammerland und der Bundeswehr an dem Zeremoniell in Westerstede teil. Wie Struck bei dieser Gelegenheit ausführte, mache erst eine "hochwertige medizinische Versorgung" die "ausgezeichneten Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten in den Einsatzgebieten" möglich. Der Inspekteur des Sanitätsdienstes, Admiraloberstabsarzt Dr. Karsten Ocker, verwies auf die jetzt optimierten "ausgezeichnete(n) Möglichkeit(en)" - das militärische Sanitätspersonal werde man "in den einsatzrelevanten medizinischen Fächern gezielt ausbilden und auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr vorbereiten"[1].

Liebesheirat

Insbesondere die Unfallchirurgie hat es der Bundeswehr angetan. Auf die Militärärzte kämen "neue Herausforderungen" zu, da bei aktuellen und künftigen Kriegseinsätzen verstärkt "mit Schwerverletzten zu rechnen" sei, erklärte Dr. Georg Helff, Chefarzt des Bundeswehrkrankenhauses Bad Zwischenahn. Die entsprechende Ausbildung könne jetzt durch die zivile Zusammenarbeit "dramatisch" verbessert werden. Als kriegsrelevant stuft Helff zudem die Rettung ziviler Unfallopfer ein; auch diese sei "Ausbildung für den Einsatz". Umgekehrt erhofft sich die Ammerland-Klinik von der Zusammenarbeit mit der Bundeswehr einen Zuwachs an medizinischer Kompetenz. Bei der jetzt getroffenen Vereinbarung handele es sich deshalb nicht um eine "Zweckehe", sondern um eine "Liebesheirat", sagte Dr. Michael Wuttke, Ärztlicher Direktor des Westersteder Krankenhauses.[2]

Kein Einzelfall

Die aktuelle Kooperation ist kein Einzelfall. Bereits während des Angriffs auf die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999 schlossen das BMVg und die Deutsche Krankenhaus-Gesellschaft einen "Rahmenvertrag" über die Verwendung klinischen Personals "zum beiderseitigen Vorteil" und über die "gemeinsame Nutzung von Material und Gerät". Der Übereinkunft sollten "Partnerschaftsverträge" mit zahlreichen zivilen Kliniken folgen. Dies stieß auf den organisierten Widerstand der dort Beschäftigten. Brennpunkt der damaligen Auseinandersetzungen war das Städtische Klinikum Karlsruhe (Baden-Württemberg), dessen Betriebsrat dem BMVg vorwarf, die Angestellten "zur Personalreserve der Bundeswehr (zu) degradieren", da diese "im Bedarfsfall an Bundeswehrkrankenhäuser abgeordnet" werden sollten.[3] Davon ist zur Zeit zwar nicht mehr die Rede, eine "zivil-militärische Kooperation" kam dennoch zustande. Wie der Betriebsratsvorsitzende Willi Vollmer auf Nachfrage von german-foreign-policy.com bestätigt, können sich Bundeswehrangehörige in Karlsruhe zu "Operations-Technischen-Assistenten" ausbilden lassen, Militärärzte können Weiterbildungsangebote wahrnehmen. Im Gegenzug sei es für Klinik-Beschäftigte, die sich für Kriegsverletzungen interessieren, möglich, an Spezialschulungen der Bundeswehr teilzunehmen. Von diesem Angebot habe allerdings bisher noch niemand Gebrauch gemacht, räumt Vollmer ein.

Resonanz

Die sukzessive Eingliederung ziviler Krankenhäuser in die militärische Logistik trägt maßgeblich zur Verbesserung der Kriegsführungsfähigkeit der Bundeswehr bei. Bei den primär betriebswirtschaftlich orientierten Klinikleitungen, die an Kosteneinsparungen und der Nutzung vermeintlicher Synergieeffekte interessiert sind, stößt die Kooperation zunehmend auf Zuspruch. Wie die Entwicklung in Karlsruhe zeigt, ist eine schleichende Militarisierung des stationären Gesundheitswesens auch dort zu beobachten, wo sich ein weit gehender "Wirkverbund" à la Westerstede nicht realisieren lässt.

Fußnoten:
  • Klinikverbund in Westerstede geschaffen - bundesweit die erste zivil-militärische Kooperation dieser Art; www.bundeswehr.de
  • "Liebesheirat" unter Krankenhäusern; www.bundeswehr.de
  • Krankenhaus im Kriegszustand; Junge Welt 16.12.1999 Quelle: www.german-foreign-policy.com


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