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Zivilisationsfaktor Recht

Buchrezension. Ein Sammelband über den Juristen Helmut Ridder beleuchtet auch dessen weniger bekanntes völkerrechtliches Engagement

Von Peter Römer *

Der Jurist Helmut Ridder bezeichnete das Recht als einen Zivilisationsfaktor; er hat sich sein ganzes Leben lang unermüdlich mit großem analytischen Scharfsinn, mit verständnisvoller Belehrung, aber auch mit beißender Kritik, mit Witz und Spott für den Erhalt dieses Zivilisationsfaktors eingesetzt, der von einer Gesellschaft, die sich selbst gern als zivile begreift, oft genug gering geachtet wird. Unopportunistisch und in jeder Hinsicht unabhängig, machte seine Kritik auch vor manch linkem »Völkchen«[1] nicht halt, aber seine Gegner standen immer rechts.

In den letzten 20 Jahren ist es stiller um Ridder geworden, erheblich stiller als um Wolfgang Abendroth, der immer im Bewußtsein der Linken präsent war und der neuestens wieder stärker rezipiert wird. Von den »Gesammelten Schriften« Abendroths sind inzwischen zwei Bände von je zirka 600 Seiten erschienen [2], vier weitere gleichen Umfangs sind geplant, außerdem zwei Bände mit Briefen. Hinzuweisen ist auch auf die drei Biographien Abendroths, eine davon in Interviewform.[3] Es ist sehr zu hoffen, daß auch von Ridder demnächst eine Lebensbeschreibung erscheinen wird, aus ihr könnte viel gelernt werden für das Verstehen der Geschichte Deutschlands und seines Rechts.

Es ist deshalb sehr erfreulich, daß 2010 nun auch ein Band »Gesammelte Schriften« Ridders erschienen ist [4], der die Vielfalt seines wissenschaftlichen Werks dokumentiert und viele der Beiträge enthält, mit denen Ridder vor allem das Thema der Demokratie und ihrer Verhinderung [5] in Deutschland umkreist. Zuvor bereits hatte Friedrich-Martin Balzer alle Schriften Ridders auf einer CD-Rom fast vollständig zusammengestellt.[6]

Christoph Koch, kein Schüler Ridders, kein Jurist, kein Politologe, sondern ein Professor für Vergleichende und Indogermanische Sprachwissenschaft, der mit Ridder in der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik e.V. zusammengearbeitet hat, kommt das große Verdienst zu, 2009 eine wissenschaftliche Tagung in memoriam von Helmut Ridder (1919–2007) veranstaltet zu haben. Deren Beiträge liegen nunmehr vor. Zwei Beiträge Ridders, die nicht in seine Gesammelten Schriften aufgenommen wurden, sind jetzt in diesem Band abgedruckt.

Koch stellt in seinem einleitenden Beitrag Ridders Werk und Leben kenntnisreich und umfassend vor. Bewundernswert, mit welcher Exaktheit Koch, der Nichtjurist, das wissenschaftliche Werk Ridders und sein politisches Engagement zutreffend analysiert, den die Zeit überdauernden Wert von dessen Arbeit erkennt und anerkennt und den Blick für die Einzigartigkeit, die Eigenartigkeit und die gelegentlichen Eigentümlichkeiten Ridders schärft.

Es erschien dem Rezensenten nicht möglich, in dem vorgegebenen Rahmen den gesamten Band zu besprechen; eine solche Rezension hätte aus Platzgründen sehr allgemein gehalten werden müssen oder in einem annotierten Inhaltsverzeichnis bestanden.

Als Völkerrechtler ist Ridder weniger bekannt, und seine langjährige, intensive Arbeit an der Verständigung mit Polen hat nur partiell die ihr zukommende Aufmerksamkeit gefunden. Deshalb werden nur die Beiträge von Jan Barcz, Samuel Salzborn und Gerhard Stuby sowie der von Ingeborg Maus, die den theoretischen Zugang zur Ridderschen Kritik vermittelt, besprochen.

Eindringlich wird zur Lektüre aller Beiräge geraten – zur kritischen, selbstverständlich, anderenfalls man sich Ridders nicht angemessen erinnerte.

Justizförmiger Rechtsbruch

Zwischen Ingeborg Maus und Helmut Ridder hatte sich vor allem aufgrund ihrer beider Forschungen zur Demokratie und zu Carl Schmitt schon früh ein wissenschaftlicher Meinungsaustausch entwickelt. Dieser wird von Maus in ihrem Aufsatz »Helmut Ridder – eine Lektüre in völkerrechtlicher Perspektive« fortgeführt. Ihr Beitrag ist neben dem von Gerhard Stuby einer der wenigen, die sich ausführlich auf Ridder beziehen; an ihm ist besonders bemerkens- und anerkennenswert, daß wesentliche Erkenntnisse Ridders nicht nur resümiert und analysiert werden, sondern daß mit Begriffen und Methoden Ridders neuere Entwicklungen des Völkerrechts und seiner Durchsetzung untersucht und kritisiert werden. Die von Maus aufgezeigte aktuelle »Völkerrechtsentwicklung durch Rechtsbruch« wird von ihr mit der Verfassung des NS-Systems konfrontiert; ein so notwendiger wie überfälliger wie mutiger Vergleich.

Mit seiner rechtspositivistischen Methode wollte Ridder die Geltung und Wirksamkeit des Rechtsgesetzes, vor allem des Verfassungsgesetzes, durchsetzen; dessen Geltungskraft sollte nicht durch die Jurisdiktion, vor allem der des Bundesverfassungsgerichts, aufgehoben oder verändert werden können und auch nicht durch die Praxis der staatlichen Verwaltungen und durch rechtswissenschaftliche Ideologien, die sich zur herrschenden Lehre formieren. Zur Änderung eines Gesetzes soll nur der demokratisch legitimierte Gesetzgeber aufgrund eines strikt einzuhaltenden Verfahrens befugt sein.

Über der positivierten, geschriebenen Verfassung des Grundgesetzes darf es keine »Verfassung« geben, an deren Normen das Grundgesetz gemessen und seine Auslegung ausgerichtet wird. Eine neue Verfassung wird erfunden, wenn auf ein »Sinnganzes« der Verfassung rekurriert wird und wenn aus dem Verfassungsgesetz ein sich verselbständigendes Ensemble von »Prinzipien« konstruiert wird. Maus verweist in diesem Zusammenhang auf die Kritik Ridders an dem Radikalenerlaß, durch den grundrechtliche Freiheiten dem Prinzip einer streitbaren Demokratie geopfert werden.

Ausgehend von dieser Kritik Ridders an der nichtlegalen und demokratisch nicht legitimierten Erzeugung von Recht durch Usurpation von Gesetzgebungsbefugnissen, analysiert Maus die Bedeutung solcher Kompetenzverschiebungen z.B. für die Gewaltenteilungslehre und die Theorie der Volkssouveränität; hinzuzufügen wäre in diesem Zusammenhang noch die Kritik Ridders an der Interpretation des Grundgesetzes als einer Wert- und Wertrangordnung und seine Kritik an der Aufwertung der Verfassungswirklichkeit, der »nobilitierten Verfassungsrechtswidrigkeit« zu einer Rechtsquelle.

In ihrer Auseinandersetzung mit neueren völkerrechtlichen Lehren, vor allen denen von David Held und Brun-Otto Bryde, kann Maus aufzeigen, daß die Kritik Ridders ihre genaue Entsprechung »in der heutigen Entwicklung globaler Verrechtlichung (kursiv I.M.) durch Nicht- Recht und deren theoretischer Legitimierung« findet.

Eine völkerrechtlich und politisch immer stärker sich durchsetzende Konstitutionalisierung von Völkerrecht beruhe auf der »Verselbständigung der Menschenrechte gegen das Prinzip der Volkssouveränität«. Aus unverlierbaren Rechten (Kant) würden so »Ermächtigungsnormen für politischen Gewalteinsatz«. Im Namen der Menschenrechte werden die allein zur Ausübung ihrer Rechte befugten Subjekte zu »bloßem Mate­rial (kursiv I.M.) der Menschenrechtsverwirklichung« bis hin zu ihrer Tötung, z.B. durch flächendeckende Bombardierung und den Einsatz von Drohnen.

Positivrechtlich ist, so Maus, die Vertragsstruktur der UNO gegeben. Ihre Umwandlung in eine Weltverfassung macht den Weg frei zur »unverzüglichen Erzwingung von Menschenrechten und Demokratie in allen Gesellschaften der Welt«. Es ist – für den Rezensenten jedenfalls – offenkundig, daß durch solches flexibles und okkasionelles Außerkraftsetzen positivierten Völkerrechts diejenigen, die über die Medien, das Geld, die Geheimdienste, die Bomben und die Raketen verfügen, als Menschenrecht vor allem das Recht des kapitalistischen Privateigentums und seiner Konnexinstitute gewaltsam durchsetzen. Diese Erkenntnis ist mit Blut deutlich auf den Straßen der Elfenbeinküste und in den Sand der libyschen Wüste geschrieben. Solche Blutspuren sind bekanntlich nicht nur dort zu sehen.

Auch die internationale Strafgerichtsbarkeit führt nach Maus »nicht zu einer Klärung, sondern zu einer Irrationalisierung des Völkerrechts.« Insbesondere der Milosevic-Prozeß wird von Maus scharf kritisiert und als »Beginn einer Rechtsentwicklung durch justizförmigen Rechtsbruch« bezeichnet.

Zum Schluß ihres Beitrags versucht Maus, die Auflösung der Verfassung im Redeschwall und ihre Zertrümmerung durch die Gewalt der tatsächlichen Verhältnisse mit dem Hinweis »vollständiger Pervertierung« des Rechts im NS- Staat »vielleicht« zu irritieren. Sie kann sich dabei auf Arbeiten von Ridder zur Verfassungsdoktrin des NS-Staates und ihre eigenen eingehenden Analysen zu Carl Schmitt beziehen. Ernst Fränkels Beschreibung des »nationalsozialistischen« Rechts als das eines dual state, in dem positives Recht und machtgestütztes Nichtrecht nebeneinander bestehen und je nach Situation angewandt werden, kennzeichnet nach Maus auch die »gegenwärtige Entwicklung eines von allen positivrechtlichen Bindungen freigesetzten Völkerrechts« (kursiv I.M.)

Aussöhnung mit Polen

Ridder hat sich intensiv wissenschaftlich und politisch-praktisch für die Normalisierung und die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Polen und Deutschland eingesetzt. Es ist deshalb sehr erfreulich, daß sich drei hervorragend ausgewiesene Autoren dieser Thematik angenommen haben.

Jan Barcz informiert sehr eingehend über »Das Pariser Protokoll vom 17. Juli 1990 und die Grenze zwischen Polen und dem vereinten Deutschland« und dessen Zustandekommen. Dieses Protokoll wurde in Deutschland erst 2004 zur Kenntnis genommen. In Paris waren die Außenminister der Staaten, die am 12. September 1990 den Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vereinbaren sollten (der sogenannte Zwei-plus-Vier-Vertrag) zusammengekommen, also die Außenminister der vier Siegermächte, die der DDR und der BRD sowie der Außenminister Polens. Dessen Anwesenheit war erforderlich, ging es doch bei dieser Konferenz um die Grenzen eines vereinten Deutschlands und insbesondere um die zwischen Polen und Deutschland bestehende Grenze.

Das Verhandlungsergebnis, das die Bekräftigung der Endgültigkeit der Grenze zu Polen enthielt, wurde dann Bestandteil des Zwei-plus-Vier-Vertrags, in den auch die Vereinbarung aufgenommen wurde: »Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.«

In dem Protokoll hatten die vier Siegermächte, offenbar im Hinblick auf die Vertragstreue des vereinten Deutschland von einigen Zweifeln geplagt, erklärt, daß die Grenze einen endgültigen Charakter habe, der »weder durch ein äußeres Ereignis noch durch äußere Umstände in Frage gestellt werden kann«. Für die BRD erklärte Außenminister Genscher, daß solche Ereignisse und Umstände nicht eintreten werden, »d.h. daß ein Friedensvertrag oder eine Friedensregelung nicht beabsichtigt sind«. Das war nun sehr schlau und reichlich dreist. Aber offenbar erhob sich kein Protest.

Ein Friedensvertrag war jahrzehntelang von den Bundesregierungen und dem Bundesverfassungsgericht mit großem Nachdruck als die Voraussetzung für eine endgültige Anerkennung der Grenze zu Polen bezeichnet worden; allerdings sah sich die Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage, einen solchen Friedensvertrag abzuschließen, weil nach ihrer Auffassung das Deutsche Reich nicht untergegangen sei, sondern, wenn auch handlungsunfähig, fortbestehe. Nur dieses Deutsche Reich könne den erforderlichen Friedensvertrag abschließen.

Die These vom Fortbestehen des Deutschen Reiches war, wie Ridder betonte – und keineswegs er allein – von Anbeginn juristisch unhaltbar und diese Unhaltbarkeit wurde durch die weitere Entwicklung, vor allem durch das Entstehen der BRD und der DDR, immer offenbarer; an ihrer verhängnisvollen politischen Wirksamkeit änderte das jedoch nichts. Mit der bevorstehenden Bildung eines »vereinten Deutschlands« (der dann in Deutschland übliche Begriff »Wiedervereinigung« wurde von den Siegermächten sorgsam vermieden) hätte sich die Frage stellen müssen: Und das fortbestehende Deutsche Reich?

Ja, wo bleibt er denn, dieser arme Geist, der aber doch ganz gehörig spuken und den Polen und anderen Angst einjagen konnte? Nicht zu Unrecht, denn dieses Deutsche Reich war auch als Geist noch ein Schreckgespenst mit blutigem Beil.

Eigentlich hätte dieser Geist seine Ruhe und seinen Frieden im real existierenden, höchst handlungsfähigen, vereinten Deutschland finden müssen; letzteres stellte sich dann aber dar als die BRD, dem die DDR beigetreten wurde. Die BRD hatte sich als zumindest teilidentisch mit dem Deutschen Reich betrachtet und hätte sich jetzt eigentlich auch umbenennen müssen. Über all diese und andere Fragen schwieg sich die zuvor so beredte herrschende Lehre und die so machtvolle Rechtsprechung aus; daran hat Ridder früh, oft und entschieden Kritik geübt.

So konnte Genscher den Verzicht auf einen Friedensvertrag als ein Zugeständnis verkaufen, obwohl der Nichtabschluß eines Friedensvertrags für die BRD ein großer Gewinn war. Die BRD allein hatte einen Vorteil davon, daß ein Friedensvertrag nicht abgeschlossen wurde, denn dieser hätte für Polen einen Ausgleich bringen können für die Zerstörung des Landes und die Versklavung und Tötung eines großen Teils seiner Bevölkerung durch dasjenige Reich, dessen Fortbestehen der Traum so vieler Deutscher und aller herrschenden Kräfte der BRD war.

Ohne die Regelung der Grenzfrage hätten die Siegermächte einem vereinten Deutschland niemals zugestimmt; insofern befand sich Polen in einer sehr günstigen Verhandlungsposition und hätte in einem Friedensvertrag neben der Anerkennung der Grenzen auch weitere Forderungen erheben können, so z.B. nach Reparationen und nach Klarstellungen im Hinblick auf Fragen der Staatsangehörigkeit, des Vermögens, des Eigentums an der »Beutekunst« und der deutschen Staatsangehörigen polnischer Nationalität in der BRD. Polen befand sich in einer günstigen Verhandlungssituation, weil Frankreich und England, anfänglich auch die USA, von der bevorstehenden Vereinigung nicht gerade begeistert waren. Sie hätten sich für Polens Interessen eingesetzt; unter Zeitdruck standen nicht sie, wohl aber die Bundesrepublik.

Nicht Polen hätte auf den Abschluß eines Friedensvertrags verzichten sollen, sondern die BRD hätte die »juristische Lüge« vom Fortbestehen des Deutschen Reiches, welches Gründungsjahres auch immer, widerrufen müssen.

Es ist bedauerlich, daß Barcz sich in seinem sehr gut über den Sachverhalt informierenden Beitrag dieser Problematik des Fortbestands – in einer Festschrift für Ridder – nicht angenommen hat und sich auch nicht mit der Position Ridders auseinandersetzte, daß ein Friedensvertrag erforderlich sei, um das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland auf eine feste rechtliche Grundlage zu stellen.

Die zum Teil sehr heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polen und der Bundesrepublik – man denke nur an den Streit um die Präsidentin des »Bundes der Vertriebenen« Erika Steinbach, die in der polnischen Presse auch schon mal als »blonde Bestie« auftaucht, und ihr Zentrum für Vertreibung – wären möglicherweise verhindert oder gemindert worden, wenn man sich in einem Friedensvertrag hätte einigen müssen.

In seinem Beitrag »Von der rechtlichen (Re-)Konstruktion einer Minderheit zu ihrer politischen Instrumentalisierung. Die deutsche Minderheit in Polen«, zeichnet Samuel Salzborn sehr exakt den Prozeß der Herausbildung einer deutschen Minderheit nach; ihre Stellung ist ein weiteres Konfliktfeld, das mit der Regelung der Grenzfrage keineswegs miterledigt ist, ebensowenig wie das Sprachenproblem. Salzborn gelangt zu dem Ergebnis, der deutschen Minderheit in Polen komme die Funktion zu, die »bevölkerungspolitische Massenbasis« für die Forderung des Rechts auf Heimat der Vertriebenenverbände zu sein, obwohl deren Mitglieder längst ihre Heimat in der BRD gefunden hätten.

Deutsches Reich, BRD und Polen

Da wird nicht nur von den Vertriebenenverbänden eifrig ein Feld beackert, auf dem die Blumen des Bösen prächtig aufblühen können, von denen Gerhard Stuby in seiner Kontroverse mit Ridder wenig wissen will, wenn er in diesem nicht den unkrautjätenden Gärtner sieht, sondern den Vertilger des Grases mit den aufkeimenden blauen Blumen der Freundschaft, das über den Untaten des Deutschen Reiches gewachsen ist.

Stuby greift ebenfalls die Problematik des Fortbestands des Reiches im Zusammenhang mit dem Vereinigungsprozeß und der Grenzfrage auf in seinem Beitrag »Der Mythos der ›Wiedervereinigung‹«.

Die Positionen Ridders zu diesen Problemen und seine Argumentationslinien stellt Stuby sehr kenntnisreich, genau und vollständig dar. Die oft geübte Methode, die Tatsachenfeststellungen und Wertungen des Kontrahenten zu entstellen, um sie dann umso besser bekämpfen zu können, ist die seine nicht. Seine Kritik zielt auf den originalen Ridder, aber oft trifft sie nicht.

In seinem Beitrag wird Stuby nicht müde, immer wieder eindringlich darauf hinzuweisen, daß völkerrechtlich und verfassungsrechtlich die Grenzen zwischen der BRD und Polen unzweifelhaft endgültig seien. Das ist ebenso unzweifelhaft richtig; es wäre völlig absurd, wenn gerade von linken Juristen und Politologen dies irgend bezweifelt würde.

Aber deshalb muß man dennoch die realen Gefahren sehen, die sich aus den Interessenlagen und Machtverhältnissen ergeben; und man muß auch, obwohl man ja nur allzu gern wegsehen möchte, Erika Steinbach sehen und die nicht geringen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Kräfte, die sie sowohl formiert als auch repräsentiert. Stuby stellt ausschließlich auf die gegenwärtig unstrittige Grenzfrage ab, der fehlende Friedensvertrag ist ihm überhaupt kein Problem, Ridder aber war es ein sehr großes und zwar zu Recht, wenn man sieht, wie viele Fragen im Verhältnis zu Polen nicht beantwortet, wie viele Probleme nicht gelöst sind. Ridder zitiert Genscher, der zum Grenzvertrag mit Polen von 1990 erklärte: »So werden wir Vergangenheit und Zukunft miteinander verbinden« und er fügt an: »… d.h. ›wir‹, die Deutschen, werden eine belastete Vergangenheit einfach in die Zukunft verlängern. Ist was? Ja, es ist was. Etwas, was Vertrauensbildung unmöglich macht und sich durch dröhnende Phrasen nicht verdecken läßt.«

Die Grenzfrage ist für Ridder, obwohl gegenwärtig von niemandem in Frage gestellt, Gegenstand skeptischer Sorge. Die Frage, ob das vereinte Deutschland »in seinen staatlichen Grenzen saturiert« sei, beantwortet er bejahend, fügt aber hinzu: »Ich frage mich, warum erklärt das denn niemand offiziell, daß das, was früher gesagt wurde, falsch war«, insbesondere das also, was das Bundesverfassungsgericht zum Fortbestand des Deutschen Reiches gesagt hat, und er fragt weiter: »Warum wird denn krampfhaft vermieden, darüber ein Wort zu verlieren?« Und er fügt hinzu: »Wenn die nächste ›historische Chance‹ irgendeines Schwächeanfalls irgendwo kommt, wird man sich darauf besinnen, daß es noch andere Teile Deutschlands gibt. Ungeachtet der Verträge. Natürlich sagt das im Augenblick niemand.« Das war 1992 gesagt worden und gilt, ungeachtet der inzwischen eingetretenen Veränderungen in Europa und der Welt, in der Kernaussage auch noch heute.

Stuby fragt, wohl rhetorisch, wie sich aus dem Gesamt seiner Ausführungen ergibt: »Übertreibt Ridder hier nicht?« Aber stimmt denn die Entwicklung in der BRD seitdem sehr hoffnungsfroh? Doch wohl kaum. Stuby gibt zwar zu, daß Ridder bis zu einem gewissen Grad Recht habe in staatsrechtlicher Hinsicht und auch »von einem sozialpsychologischen Standpunkt her, der das deutsche Kollektivbewußtsein im Blick hat, wie es sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat«. Hier, wie auch an anderen Stellen seines Beitrags, in denen Stuby Kritik an Ridder übt, ist seine Kritik differenziert und abwägend, obwohl gelegentlich doch die Wortwahl befremdet, z.B. wenn er erklärt, Autoren wie Preuß und Mahrenholz hätten von Ridder »ihr Fett weg« bekommen, weil sie nach Ridders Meinung mit geholfen hätten, der DDR ihre Revolution zu stehlen.

Nach Stuby brauchte und braucht die Fortexistenzthese gar nicht zurückgenommen zu werden, weil es auf eine derartige, lediglich politische Geste nicht ankomme. Ridder betrachtet demgegenüber die Rechtsverhältnisse und die politischen Verhältnisse in ihrer gegenseitigen Verschränkung; entscheidend kommt es ihm auf die »politische Geste« an, die realiter eine korrigierende und folgenreiche politische Tat mit erheblichen rechtlichen Wirkungen gewesen wäre – und bis zu einem gewissen Grad auch heute noch ist. Er moniert, daß man glaube, nicht beachten zu müssen, daß »Zukunft nur aus geschichtsbewußter Gegenwart, d.h. aus einer Gegenwart, die die Vergangenheit nicht verfälscht, hervorgehen kann«.

Ein Friedensvertrag mit Polen – und den anderen Staaten, die Opfer der Angriffe des Deutschen Reiches geworden waren – hätte gewiß nicht alle bestehenden und zukünftigen Probleme zwischen der BRD und Polen beseitigt. Die Erklärung der BRD, daß das Deutsche Reich nicht fortbestehe und daß dem Grundlagenvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts keine irgendwie geartete Bindungswirkung mehr zukomme, hätte der Beginn einer wahrheitsgetreuen, die Rolle von Tätern und Opfern ohne jeden Vorbehalt anerkennenden, friedlichen und nicht-imperialistischen Politik sein können.

Fußnoten
  1. Es geht dabei um ein Völkchen von »vor allem linksgrün gewirkte und/oder vom deutschen Juristendemokratismus versehrte Jugendliche aller Altersklassen«, die sich an den »deutschen Meisterschaftskämpfen in Demokratieverhütung« beteiligen, indem sie an der Ausarbeitung einer »Verfassung aller Deutschen«, also an der Revision und Anpassung des Grundgesetzes nach der deutschen Vereinigung mitwirkten, vgl. H. Ridder, »Ein Musterfall von Völkchen«, in: konkret 4/1992, S.26 ff.
  2. Wolfgang Abendroth, Gesammelte Schriften Band 1, 1926-1948, Hannover 2006, Band 2, 1949–1955, hrsg. v. M. Buckmiller, J. Perels, U .Schöler, Hannover 2008; weitere gesammelte Schriften Abendroths sind von früh an in zahlreichen Sammelbänden mit unterschiedlichen Schwerpunkten erschienen
  3. W. Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und herausgegeben von Barbara Dietrich und Joachim Perels, Frankfurt a. M., 1976; A. Diers, Arbeiterbewegung- Demokratie-Staat. Wolfgang Abendroth. Leben und Werk 1906-1948, Hamburg 2006; R. Heigl, Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken (1950–1968), Hamburg 2008
  4. Helmut Ridder, Gesammelte Schriften, hrsg. v. D. Deiseroth, P. Derleder, Chr. Koch, F.-W. Steinmeier, Wiesbaden 2010. Vgl. die Rezension dieses Bandes von P. Römer in: Ossietzky 13, Jahrgang 14/15, 24. Juli 2010, S. 566 f., sie kann von der Homepage: www.roemer-peter.de heruntergeladen werden
  5. Vgl. auch P. Römer, »Ein radikaler Demokrat. Portrait. Helmut Ridder zum 90. Geburtstag«, jW-Thema vom 18./19. Juli 2009
  6. F.-M. Balzer, Helmut Ridder (1919-2007) für Einsteiger und Fortgeschrittene, CD-ROM, 3. durchges. und wesentlich erweiterte Aufl., Bonn 2009
Christoph Koch (Hg.): Politik ist die Praxis der Wissenschaft vom Notwendigen - Helmut Ridder (1919–2007). Verlag Martin Meidenbauer, München 2010, 438 Seiten, 59,90 Euro

* Peter Römer war nach einer Assistenz bei Wolfgang Abendroth Professor für wissenschaftliche Politik in Marburg. Von ihm sind im Jürgen-Dinter-Verlag Köln folgende Aufsatzsammlungen erschienen: Band 1: Das kapitalistische Privateigentum, Band 2: Das Recht der Gesellschaft und der Bundesrepublik Deutschland, Band 3: Die Verteidigung des Grundgesetzes, Band 4: Wolfgang Abendroth; Carl Schmitt, Band 5: Hans Kelsen

Aus: junge Welt, 30. Mai 2011



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