Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Afghanistan-Krieg, Bundeswehreinsatz und Völkerrecht

Ein Gutachten von Prof. Dr. Norman Paech zum Antrag der Bundesregierung

Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler an der Hochschule für Wirtschaft und Politik Hamburg, hat uns ein Rechtsgutachten zur Verfügung gestellt, das sich mit dem bevorstehenden Bundeswehreinsatz in Afghanistan befasst. Wir doukemntieren es ungekürzt.
Norman Paech wird auf dem nächsten Friedensratschlag in Kassel (1./2. Dezember 2001) einen der Eröffnungsvorträge im Plenum halten.



Gutachten
zum Antrag der Bundesregierung betr. den
"Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf der Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen" vom 7. November 2001 BT-Drucksache 14/7296.


Die Bundesregierung stützt ihren Antrag auf Einsatz bewaffneter Streitkräfte sowohl auf das Selbstverteidigungsrecht gem. Art. 51 UN-Charta als auf eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat, die sie in den beiden Resolutionen zu erkennen glaubt. Ferner bezieht sie sich auf die Beistandsverpflichtung des Art. 5 NATO-Vertrag als Bündnispartner der USA (Antrag Punkte 1, 2 und 3)

Da das Selbstverteidigungsrecht unabhängig von einer evtl. Ermächtigung durch den Sicherheitsrat besteht, sind beide getrennt voneinander rechtlich zu prüfen. Art. 5 NATO-Vertrag baut demgegenüber auf dem Selbstverteidigungsrecht auf, d.h. der sog. Bündnisfall kann nur im Rahmen des Art. 51 UN-Charta festgestellt werden.

I. Zu den völkerrechtlichen Grundlagen

Das zwingenden Verbot der Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt gem. Art. 2 Z. 4 UN-Charta kennt nur zwei Ausnahmen: 1. die Ermächtigung zu militärischen Zwangsmaßnahmen gem. Art. 42 UN-Charta durch den UN-Sicherheitsrat und 2. das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht gem. Art. 51 UN-Charta.

1.Die Resolution 1368 (2001) vom 12. September des UN-Sicherheitsrats

Die USA haben sich zunächst um eine Ermächtigung für ein militärisches Vorgehen gegen Bin Laden und die Taliban durch den UN-Sicherheitsrat bemüht. Bereits einen Tag nach dem Terroranschlag verabschiedete der Sicherheitsrat seine Resolution 1368 (2001), in der er die "entsetzlichen Anschläge in strengster Weise" verurteilte und den Anschlag "wie jeden anderen Akt internationalen Terrorismus, als eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" betrachtete. Dieses ist die gebräuchliche Formel nach Art. 39 UN-Charta, mit der sich der Sicherheitsrat die weiteren Schritte für politische, ökonomische und militärische Sanktionen nach Art. 41 und 42 UN-Charta eröffnet.

Derartige Maßnahmen ergreift er allerdings nicht, er beruft sich nicht auf das Kapitel VII UN-Charta, sondern ruft lediglich "alle Staaten dringend zur Zusammenarbeit auf, um die Täter, die Organisationen und Unterstützer dieser terroristischen Anschläge vor Gericht zu bringen" und betont, "dass jene, die den Tätern geholfen, sie unterstützt oder ihnen Unterschlupf gewährt haben, zur Verantwortung gezogen werden." Ferner ruft er die Staaten dazu auf, durch "engere Zusammenarbeit und vollständige Umsetzung der Anti-Terror-Konvention und der Resolutionen des Sicherheitsrats, vor allem der Resolution 1269 vom 19. Oktober 1999, Terroranschläge zu verhindern und zu unterdrücken."

Schließlich erklärt der Sicherheitsrat seine Bereitschaft, "alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um auf die Terroranschläge zu reagieren und alle Formen des Terrorismus in Übereinstimmung mit der Verantwortung gemäß der UN-Charta zu bekämpfen". Er "beschließt, sich weiter mit der Angelegenheit zu befassen".

Der Wortlaut dieser Resolution zeigt eindeutig, dass die USA ihr Ziel, eine Ermächtigung für militärische Reaktionen auf den Terroranschlag zu erhalten, nicht erreichen konnten. Vielmehr deutet der Sicherheitsrat an, dass er die Gerichte für die geeigneten Mittel ansieht, die Täter, ihrer Organisationen und Unterstützer zur Verantwortung zu ziehen. Dies wird durch die Erwähnung der Anti-Terror-Konvention bestätigt. Es handelt sich um die "International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism", die von der UN-Generalversammlung am 9. Dezember 1999 mit der Resolution 54/169 verabschiedet wurde. Mit der Annahme dieser Konvention sollen sich die Staaten verpflichten, bestimmte genau definierte Taten der Finanzierung und finanziellen Unterstützung terroristischer Aktivitäten unter bestimmten Voraussetzungen (Begehung der Unterstützungshandlungen auf dem Gebiet des Vertragsstaates, Begehung durch Staatsangehörige oder durch Handlungen an Bord von unter der Flagge des Staates fahrenden Schiffen bzw. Flugzeugen) unter Strafe zu stellen und für deren Verfolgung eine strafrechtliche Zuständigkeit zu begründen. Die ebenfalls angeführte Resolution 1269 vom 19. Oktober 1999 fordert die Staaten zu einer allgemein stärkeren Zusammenarbeit und zum Beitritt zu den zahlreichen Konventionen auf, unterstreicht die wichtige Rolle der Vereinten Nationen bei dem Anti-Terrorkampf und mahnt besseren Informationsaustausch, Unterbindung der Finanzierung von Terroraktivitäten, Sorgfalt bei der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus und Zusammenarbeit auf der Verwaltungs- und Justizebene an. Militärische Maßnahmen werden in keinem Zusammenhang erwähnt.

Die Resolution 1368 geht insofern über die bis dahin bekannten Anti- Terror-Resolutionen hinaus, als sie nicht erst die Weigerung einer Regierung, die mutmaßlichen Täter auszuliefern, als eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bezeichnet - so wie die Resolution gegen Libyen im Lockerbie-Fall und die Resolution 1267 von 1999 gegen die Taliban -, sondern bereits den Terroranschlag selbst als eine solche Bedrohung nach Art. 39 UN-Charta bezeichnet. Dennoch ändert diese neue Qualität nichts an dem Ergebnis, dass diese Resolution keine Ermächtigung für eine militärische Reaktion enthält. Die Auffassung der Bundesregierung in Punkt 3 ihres Antrags, dass "nach der Resolution 1368 (2001) alle erforderlichen Schritte zu unternehmen" seien, also auch militärische, ist falsch. Der Sicherheitsrat hat "seine Bereitschaft" erklärt, "alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um auf die Terroranschläge zu reagieren..." Er hat sich damit die Auswahl der erforderlichen Schritte vorbehalten und beansprucht hier seine alleinige Kompetenz für Maßnahmen nach Art. 41 und 42 UN-Charta. Er hat den Staaten keine Blankovollmacht gegeben.

2. Die Resolution 1373 (2001) vom 28. September des UN-Sicherheitsrats

Kurze Zeit später versuchten die USA erneut, eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat zu erhalten. Die daraufhin am 28. September verabschiedete Resolution enthält jedoch genauso wenig die erwünschte Ermächtigung. Sie bestätigt noch einmal die vorangegangene Resolution und bezieht sich in ihren weiteren Forderungen an die Staaten allerdings jetzt ausdrücklich auf das VII. Kapitel der UN-Charta, welches ihr verbindliche Sanktionen und Maßnahmen ermöglicht. Als solche fordert sie in einem ersten Punkt von den Staaten, alles zu unterlassen, zu verhindern und zu bestrafen, was mit der Finanzierung terroristischer Handlungen zusammenhängt. In einem zweiten Punkt fordert sie das gleiche bezüglich jeglicher anderen Unterstützung von terroristischen Aktivitäten. Insbesondere fordert sie die strafrechtliche Verfolgung, gerichtliche Untersuchung und Aburteilung von Terroristen, die Zusammenarbeit bei der Beschaffung von Beweisen, effektiven Grenzkontrollen und strenger Überwachung der Ausgabe und Fälschung von Pass- und Reisedokumenten. Sie fordert die Staaten ferner auf, ihre Zusammenarbeit bei der wechselseitigen Information über alle Fragen, die den Terrorismus betreffen, zu verstärken und durch bi- und multilaterale Abmachungen sowie durch Unterzeichnung der wichtigen Anti-Terrorismus- Konventionen und Umsetzung der Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zu ergänzen. Insbesondere sollen die Staaten darauf achten, dass der Flüchtlingsstatus nicht von Terroristen missbraucht werde, allerdings seien dabei die anerkannten Standards der Menschenrechte und des Völkerrechts zu berücksichtigen.

Schließlich richtet der Sicherheitsrat mit der Resolution ein spezielles Komitee ein, welches aus allen Mitgliedern des Sicherheitsrats besteht, um die Umsetzung der Resolution zu kontrollieren und fordert alle Staaten auf, binnen 90 Tagen dem Komitee über ihre Maßnahmen zu berichten. Der Sicherheitsrat schließt die Resolution mit der Versicherung, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, die Umsetzung der Maßnahmen zu garantieren, und der Absicht, "weiter mit der Sache befasst" zu sein.

Auch aus dem Wortlaut dieser Resolution geht zweifelsfrei hervor, dass der Sicherheitsrat die Bekämpfung des Terrorismus mit anderen Mitteln als militärischen unternehmen will und dass er keine Ermächtigung zu einer militärischen Reaktion irgendeines einzelnen Staates gegeben hat. Dieses wird besonders deutlich, wenn man den Wortlaut mit dem der bekannten Resolution 678 (1990) des Sicherheitsrats vom November 1990 vergleicht, mit der er die Ermächtigung zu militärischen Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 UN-Charta gegeben hat. In ihr heißt es:

"Der Sicherheitsrat....., tätig werdend nach Kapitel VII der UN-Charta, .... ermächtigt die Mitgliedstaaten ..... für den Fall, dass der Irak die oben genannten Resolutionen bis zum 15. Januar 1991 nicht entsprechend Ziffer 1 vollständig durchführt, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um der Resolution 660 (1990) und allen dazu später verabschiedeten Resolutionen Geltung zu verschaffen und sie durchzuführen und den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in dem Gebiet wiederherzustellen."

Eine derart schwerwiegende Entscheidung wie die Ermächtigung zu einem militärischen Angriff bedarf einer deutlichen und unmissverständlichen Erklärung. Beide Resolutionen sind hingegen unmissverständlich nicht als Ermächtigung zu werten.

3. Presseerklärung des Präsidenten des UN-Sicherheitsrats vom 8. Oktober 2001

Die Bundesregierung bezieht sich zur Stützung ihrer Meinung auch auf die Presseerklärung des Präsidenten des UN-Sicherheitsrats, Richard Ryan (Irland), mit der er zu der Unterrichtung durch die USA und Großbritannien über den Beginn ihrer Bombardierungen am 4. Oktober Stellung nimmt (Press Release AFG/152 SC/7167). Diese Erklärung ist auch in der Öffentlichkeit immer wieder als ein Zeichen der Zustimmung und der nachträglichen Ermächtigung gewertet worden. Das ist falsch, der Wortlaut der Erklärung gibt eine solche Interpretation nicht her. Alle Bemühungen, ein Protokoll über die Sitzung oder einige Stimmen von Mitgliedern über den Verlauf der Sitzung zu erhalten, um die Ansichten und Positionen genauer bestimmen zu können, sind bisher fehl geschlagen. Die Öffentlichkeit ist allein auf den Inhalt der Presseerklärung verwiesen.

Die Erklärung gibt zunächst Auskunft darüber, dass die Sitzung auf Bitten der USA und Großbritanniens im Beisein des UN-Generalsekretärs zustande gekommen ist, um den Sicherheitsrat über die ergriffenen Maßnahmen zu unterrichten. Sodann berichtet sie darüber, dass sich der Sicherheitsrat noch einmal zu seinen beiden Resolutionen und deren Umsetzung bekannt hat. Er nahm sodann Kenntnis von den Briefen, die die USA und Großbritannien an den Sicherheitsrat gesandt hatten und in denen sie sich auf ihr individuelles und kollektives Selbstverteidigungsrecht gegen die Terroranschläge beriefen. Dies wiederholten sie noch einmal in der Sitzung und unterstrichen, dass sie alles unternähmen, um Zivilisten bei ihren Angriffen zu schützen. Wörtlich heißt es dann: "The members of the Council were appreciative of the presentation made by the United States and the United Kingdom."

"Appreciative" bedeutet keine Anerkennung des Krieges, sondern die anerkennende aber unverbindliche Zurkenntnisnahme der Darstellung, zu der jeder Staat, der sich auf Art. 51 stützt, verpflichtet ist. Das wird besonders deutlich in der französischen Fassung der Presseerklärung: "Les membres du Conseil se sont félicités de l'exposé fait par les Etats Unies et le Royaume Uni." Die im diplomatischen Verkehr übliche Floskel des « sich beglückwünschen » bezieht sich nur auf die Abgabe des Berichts (exposé), nicht aber den Inhalt der Botschaft. Beruft sich ein Staat auf Art. 51, so ist es nach der UN-Charta nicht Sache des Sicherheitsrats, dazu Stellung zu nehmen und über die Berechtigung der Selbstverteidigung zu urteilen. Denn das Selbstverteidigungsrecht hängt nicht von einem Entscheid des Sicherheitsrats ab. Der Sicherheitsrat hat sich offensichtlich weder für eine ausdrückliche Zustimmung zum Kriegsgeschehen, was einem Verzicht auf weitere eigene Aktivitäten gleichkäme, noch für eine Verurteilung der Bombardierungen entschieden, was ihm politisch kaum möglich war. Er hat sich mangels anderer Alternativen dem Gang der Dinge gebeugt und eine möglichst unverfängliche, alle Interpretationen offenlassende Erklärung gewählt.

So vage und auch missverständlich sich seine Erklärung bezüglich der Berechtigung zur Selbstverteidigung auch lesen mag, wer aus ihr eine faktische Genehmigung der begonnenen Angriffe folgern will, kann aus ihr auf keinen Fall eine Ermächtigung für die weitere und zukünftige Kriegsführung herauszulesen. Dazu bedarf es auch formal mehr als nur einer Presseerklärung, ohne dass ein Beschluss vorliegt. Und Schweigen ist keine Zustimmung.

Ergebnis: Weder die Resolutionen noch die Presseerklärung des UN-Sicherheitsrats liefern irgendeinen Anhaltspunkt für eine Ermächtigung zu einem militärischen Einsatz gegen Bin Laden oder die Taliban in Afghanistan.

4. Das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung gem. Art. 51 UN-Charta

Diese zweite Ausnahme vom zwingenden Gewaltverbot haben die USA in Anspruch genommen, als klar wurde, dass sie eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat nicht erhalten würden. Es kann als individuelles Verteidigungsrecht von demjenigen Staat in Anspruch genommen werden, der unmittelbar angegriffen worden ist (USA), und als kollektives Recht von denjenigen Staaten (Großbritannien, NATO-Staaten), die dem Angegriffenen zu Hilfe kommen.

Art. 51 UN-Charta hat genaue Voraussetzungen für das Recht normiert, um einem Missbrauch vorzubeugen. Es muss sich um einen bewaffneten Angriff eines Staates handeln, der gegenwärtig ist, und die Verteidigungsmaßnahmen dürfen nur so lange dauern, bis der Sicherheitsrat selbst die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet hat.

Klassischerweise wird man in der Zerstörung von Wohn- und Bürogebäuden mittels Passagiermaschinen keinen "bewaffneten Angriff" sehen. Wenn man aber weniger auf das Instrument als auf die Zerstörungswirkung abstellt und einen solchen Angriff bejaht, bleibt immer noch zweifelhaft, ob es sich um den Angriff eines Staates gehandelt hat. Ein Terroranschlag einzelner Personen, selbst wenn sie ein "Netzwerk" bilden, ist ein Verbrechen, welches vor einem Gericht geahndet werden müsste, wie es jedes nationale Strafrecht sowie das "Haager Übereinkommen zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen" vom 16. 12. 1970 und das "Montrealer Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt" vom 23. September 1971 vorsehen.

Als Angriff eines Staates könnten die Anschläge nur dann gewertet werden, wenn erstens klar wäre, dass Bin Laden den Auftrag erteilt hätte und zweitens er wiederum im Auftrag oder zumindest Einverständnis der Taliban gehandelt hätte. Außenminister Powell musste jedoch in einem Interview in der "New York Times" einräumen, dass es nicht einmal Indizien für die entscheidende Rolle Bin Ladens gäbe. Das von ihm angekündigte "White Paper" zu den Hintergründen und Beweisen des Terror-Netzwerkes ist bisher nicht erschienen. Auch hat der Sonderbeauftragte Taylor nach Aussagen westlicher Diplomaten auf der Sitzung des NATO-Rates keinerlei Beweise dafür vorgelegt, dass Bin Laden die Anschläge geplant oder angeordnet habe. Das von dem britischen Premier Blair veröffentlichte Material erhebt nach seinen eigenen Worten "nicht den Anspruch, eine ausreichende Grundlage für ein Gerichtsverfahren gegen Osama Bin Laden darzustellen" (Frankfurter Rundschau v. 9. Oktober 2001).

Ist also die Verbindung zwischen den Beteiligten des Anschlags und Bin Laden äußerst zweifelhaft, so fehlt bisher jeder Anhalt dafür, dass die Taliban Bin Laden entsandt bzw. von dem Anschlag etwas gewusst hätten. Das einzige, was wohl unzweifelhaft ist, ist seine terroristische Vergangenheit und sein Unterschlupf in Afghanistan. Doch inwieweit können überhaupt evtl. Handlungen Bin Ladens den Taliban in Afghanistan angelastet werden? Auch mit diesen Fragen der Zuordnung hat sich die UNO bereits frühzeitig auseinandersetzen müssen. In der berühmten Resolution 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974, mit der sie den Begriff der Aggression definierte, werden verschiedene Tatbestände als Angriffshandlungen ausgewiesen. Unter ihnen :

"a) Die Invasion oder der Angriff durch die Streitkräfte eines Staates auf das Gebiet eines anderen Staates......;
b) Die Beschießung oder die Bombardierung des Hoheitsgebiets eines anderen Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates.... ;
....
f) Die Handlung eines Staates, die in seiner Duldung besteht, dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen;
g) Das Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, Freischärler oder Söldner durch einen Staat oder für ihn, wenn sie mit Waffengewalt Handlungen gegen einen anderen Staat von so schwerer Art ausführen, dass sie den oben angeführten Handlungen gleichkommen, oder die wesentliche Beteiligung an einer solchen."

Diese Definitionen zeigen deutlich, dass ein "Angriff" nur in einem aktiven "Entsenden" nicht aber in der Duldung und Aufnahme der Banden auf dem eigenen Territorium besteht. Allerdings hat nach der ebenfalls berühmten "Prinzipiendeklaration" der Resolution 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970 (Erklärung über die Grundsätze des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen) "jeder Staat die Pflicht, die Organisierung, Anstiftung oder Unterstützung von Bürgerkriegs- oder Terrorakten in einem anderen Staat oder die Teilnahme daran oder die Duldung organisierter Aktivitäten, die auf die Begehung solcher Akte gerichtet sind, in seinem Hoheitsgebiet zu unterlassen, wenn die in diesem Absatz erwähnten Akte die Androhung oder Anwendung von Gewalt einschließen." Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung ist zwar ein Völkerrechtsvergehen aber noch nicht selbst ein Angriff, gegen den militärische Mittel gerechtfertigt wären.

So hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag in seinem Urteil von 1986, in dem er die USA wegen verschiedener Völkerrechtsverstöße durch Aggressionsakte gegen Nikaragua verurteilt hat, ausdrücklich festgestellt, dass zwar die Ausrüstung und Entsendung der Contras nicht aber allein ihre Unterstützung mit Waffen oder logistischen Hilfen den angegriffenen Staat zu militärischen Verteidigungsmaßnahmen nach Art. 51 UN-Charta gegen den unterstützenden Staat berechtigen (ICJ Reports of Judgement, Advisory Opinions and Orders 1986, S. 14 ff., 62 ff., 104 ff.). Dementsprechend war der Bombenangriff der USA auf Bengasi und Tripolis am 15. April 1986, der als militärische Reaktion auf die Weigerung Libyens, die Verdächtigen des Anschlags auf die Berliner Diskothek "La Belle" zehn Tage zuvor auszuliefern, erfolgte, weder als Selbstverteidigung noch unter anderen Gesichtspunkten völkerrechtlich zu rechtfertigen. Das gleiche gilt für die Raketenangriffe im Jahr 1998 auf eine Fabrik im Sudan und Ausbildungslager Bin Ladens in Afghanistan als Reaktion auf die Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania. Das waren alles keine Maßnahmen der Selbstverteidigung, sondern völkerrechtlich nicht erlaubte Vergeltungsschläge.

Weitere Zweifel an einem Selbstverteidigungsrecht gegen die Terroranschläge vom 11. September ergeben sich daraus, dass der Angriff gegenwärtig sein muss. Selbst wenn man einem angegriffenen Staat das Recht und die Zeit zu wohl überlegten Verteidigungshandlungen einräumen muss, so sollte die Gefahr einer Wiederholung bzw. neuer Anschläge präsent sein. Dies ist zwar von Justizminister Ashcroft mehrfach behauptet worden und auch Bin Laden hat jüngst (10. November 2001) Vergeltungsschläge mit biologischen und nuklearen Waffen angedroht, falls die USA derartige Waffen benutzen würden. Von den Anschlägen mit Anthrax ist bisher nicht behauptet worden, dass sie von Bin Laden kämen und weitere Indizien für unmittelbar drohende Angriffe aus Richtung Afghanistan sind nicht genannt worden. Überhaupt sprechen die Ubiquität des Terrorismus und die Tatsache, dass die Terroristen an keine Grenzen gebunden sind und die Staaten nach Belieben wechseln können dafür, dass mögliche weitere Anschläge aus ganz anderen geographischen Richtungen zu erwarten sind. Die einzig gesicherten Verbindungen der Selbstmordattentäter zu ihren Aufenthaltsorten und Hintermännern verweisen derzeit nur auf Deutschland, Großbritannien, Spanien und die USA selbst.

Schiebt man alle diese Bedenken beiseite und akzeptiert ein Selbstverteidigungsrecht, so begrenzt Art. 51 UN-Charta die Dauer dieses Rechts ausdrücklich auf die Zeit, "bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat". In seiner Resolution vom 12. September hatte der Sicherheitsrat zunächst lediglich angekündigt, dass er alle notwendigen Schritte zur Beantwortung der Terroranschläge vom 11. September unternehmen und alle Formen des Terrorismus bekämpfen werde. Derartige Schritte hat der Sicherheitsrat dann in seiner Sitzung vom 28. September mit der Resolution 1373 beschlossen und konkrete Maßnahmen gegen die finanzielle Basis und logistische Unterstützung von Terroristen eingeleitet. Er hat ein Komitee eingerichtet und mit der Überwachung der Maßnahmen beauftragt, die auch bereits von einzelnen Staaten eingeleitet worden sind. Schließlich hat er erneut betont, dass er "mit der Angelegenheit" weiter befasst bleiben wolle.

Damit war zu jener Zeit bereits das Verteidigungsrecht der USA konsumiert und die alleinige Kompetenz für militärische Maßnahmen lag gem. Art. 39 und 42 UN-Charta beim Sicherheitsrat. Zwar hat er in der Präambel der Resolution noch einmal das individuelle und kollektive Recht auf Selbstverteidigung bestätigt, diese Selbstverständlichkeit aber nur in derart allgemeiner Form ausgedrückt, dass daraus nicht der Schluss gezogen werden kann, er ermächtige die USA dazu trotz der von ihm selbst ergriffenen Maßnahmen. Der Sicherheitsrat hat selbst zu entscheiden, welche Maßnahmen er für erforderlich hält. Kein Staat darf, wenn er anderer Ansicht ist, zu den von ihm für erforderlich gehaltenen Maßnahmen greifen, wenn sie gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UN-Charta verstoßen. Als Beispiel ist auf das Vorgehen des Sicherheitsrats vor knapp zehn Jahren gegen Libyen zur Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter im Lockerbie-Fall zu verweisen. Mit seiner Resolution 748 vom 31. März 1992 wertete er die Weigerung Libyens, die Verdächtigen auszuliefern, als Gefährdung des internationalen Friedens gem. Art. 39 UN-Charta und verhängte weitgehende Sanktionen. Es dauerte genau sieben Jahre, bis die Sanktionen und Verhandlungen schließlich Libyen bewogen, die Verdächtigen an die Niederlande auszuliefern, wo ihnen der Prozess gemacht wurde. Seinerzeit war die Gefahr weiterer Flugzeugentführungen und Attentate genauso präsent wie heute, die USA akzeptierten und unterstützten jedoch die Handlungskompetenz des UN-Sicherheitsrats.

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass der Sicherheitsrat bereits 1996, zu einer Zeit als die Taliban noch von Pakistan und den USA unterstützt wurden, festgestellt hatte, dass die "Situation in Afghanistan einen fruchtbaren Boden für Terrorismus und Drogenhandel" biete und auf die Region destabilisierend wirke (Res. 1076 v. 22. Oktober 1996). Zwei Jahre später forderte er von den Taliban, die Aufnahme und Ausbildung internationaler Terroristen zu unterlassen und sie zur Rechenschaft zu ziehen (Res. 1214 v. 8. Dezember 1998). Da die Taliban dieser Aufforderung offensichtlich nicht nachgekommen waren, bezeichnete er diese Weigerung als eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, missbilligte den Aufenthalt Bin Ladens in Afghanistan, forderte seine Auslieferung und verhängte zugleich ein Flug- und Finanzembargo gegen die Taliban (Res. 1267 v. 15. Oktober 1999). Letzteres erweiterte er ein Jahr später um ein Waffenembargo und den Abbruch der militärischen Zusammenarbeit mit den Taliban, die bis dahin immer noch von einigen Staaten unterhalten worden war (Res. 1333 v. 19. Dezember 2000). Der Sicherheitsrat knüpfte also mit seinen beiden Resolutionen vom September 2001 an seine Bemühungen an, evtl. von Bin Laden und Afghanistan ausgehende Terrorakte zu unterbinden und die Region zu stabilisieren. Die Tatsache, dass diese Maßnahmen den Terroranschlag vom 11. September nicht verhindern konnten, verbietet es einzelnen Staaten zwar nicht, andere Maßnahmen, die sie für wirksamer halten, einzuleiten, befreit sie aber nicht von dem zwingenden Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UN-Charta. Wie im Lockerbie-Fall hätte auf das Verhandlungsangebot der Taliban eingegangen werden müssen und ihre Versicherung, Bin Laden dann an einen neutralen Staat auszuliefern, wenn zwingendere Beweise für seine Täterschaft vorgelegt würden, nicht kategorisch zurückgewiesen werden dürfen.

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass nach Wortlaut und Zielsetzung des Art. 51 UN-Charta bereits Anfang Oktober 2001 den USA kein Selbstverteidigungsrecht mit militärischen Mitteln mehr zustand.

5. Der Bündnisfall gem. Art. 5 Nordatlantikvertrag

Damit entbehrt auch die Erklärung des sog. Bündnisfalles durch die NATO-Vertragsstaaten am 5. Oktober 2001 ihre faktische und rechtliche Grundlage. Art. 5 Nordatlantikvertrag ist eine Ermächtigungs- und Verpflichtungsnorm, die im Falle eines Angriffs auf einen Mitgliedstaat jedem anderen Mitglied die Pflicht auferlegt, zu prüfen, was er zur Abwehr des Angriffs beisteuern kann. Das können politische, ökonomische oder militärische Maßnahmen sein. Voraussetzung ist jedoch, dass ein Fall der Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta vorliegt, den Art. 5 Nordatlantikvertrag nur in seiner kollektiven Verteidigungskomponente für die NATO-Staaten präzisiert. Art. 5 Nordatlantikvertrag ist also keine selbständige Ermächtigungsgrundlage, sondern direkt abhängig von Art. 51 UN-Charta und dem Vorliegen seiner Voraussetzungen. Art. 52 UN-Charta bindet Regionalorganisationen, von denen die NATO eine ist, in ihren Aktivitäten zur Friedenssicherung ausdrücklich an die Ziele und Bestimmungen der Vereinten Nationen.

Als die NATO-Staaten am 5. Oktober auf Bitten der USA insgesamt acht Maßnahmen zur Unterstützung der USA beschlossen, beriefen sie sich (fälschlich) auf das kollektive Verteidigungsrecht. Zu den Maßnahmen gehörten Überflugrechte für US-Kampfbomber, Zugangsrechte zu Häfen und Flughäfen für US-Truppen und die Verlegung eigener Truppen. Der jetzt von der Bundesregierung geforderte Einsatz eigener Truppen geht über den Katalog der am 5. Oktober angebotenen Hilfsmaßnahmen weit hinaus. Dazu ist jeder NATO-Mitgliedstaat ermächtigt, wenn die Voraussetzungen des Art. 5 Nordatlantikvertrag i.V.m. Art. 51 UN-Charta vorliegen würden. Das war zum Zeitpunkt des NATO-Beschlusses nicht so und ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt Mitte November noch viel weniger der Fall. Darauf wird unter dem folgenden Punkt 6. eingegangen.

6. "Selbstverteidigungsexzess"

Die USA, Großbritannien und die Bundesregierung beanspruchen weiterhin das Recht auf Selbstverteidigung für den aktuellen Kriegseinsatz. Sie nehmen unbeeindruckt von allen völkerrechtlichen Bedenken das ius ad bellum in Anspruch. Unterstellen wir trotz der zahlreichen Bedenken das Recht für die USA und ihre Verbündeten, so befreit sie das jedoch nicht von den weiteren Regeln des Kriegsvölkerrechts, das sog. ius in bello, welches für jeden militärischen Einsatz gilt, sei er völkerrechtlich legitimiert oder auch nicht. Dieses Recht ist vornehmlich in dem I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte von 1977 zusammengefasst. Das Protokoll konkretisiert den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel, das strikte Verbot der Bedrohung oder des Angriffs auf Zivilisten und zivile Einrichtungen und das Verbot unterschiedsloser Angriffe. Die USA haben das I. Zusatzprotokoll zwar bisher nicht ratifiziert, die folgenden Grundsätze haben jedoch völkergewohnheitsrechtliche Geltung und binden die USA ebenso.

So lautet Art. 35 I. Zusatzprotokoll:

"1. In einem bewaffneten Konflikt haben die am Konflikt beteiligten Parteien kein uneingeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegführung.
2. Es ist verboten, Waffen, Geschosse und Material sowie Methoden der Kriegführung zu verwenden, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen und unnötige Leiden zu verursachen.
3. Es ist verboten, Methoden oder Mittel der Kriegführung zu verwenden, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, dass sie ausgedehnte, langanhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen."

In den folgenden Artikeln wird dieses Verbot der Unverhältnismäßigkeit und des Übermaßes an Waffenwirkungen und Zielobjekten präzisiert. So verstößt der Einsatz von Streubomben, deren einzelne Sprengladungen wie Landminen noch lange nach ihrem Abwurf explodieren können, gegen Art. 51 I. Zusatzprotokoll. Trinkwasser- und Bewässerungsanlagen sind nach Art. 54 ebenso geschützt wie Deiche und Staudämme nach Art. 56. So wirksam die Informationen über die Kriegführung durch die amerikanische Regierung und Fernsehsender auch zensiert und gefiltert werden, die freigegebenen Nachrichten und Bilder belegen dennoch die massiven Verletzungen dieses Kriegsvölkerrechts. Das Elend der Flüchtlingsströme und die absehbare Winterkatastrophe für die fliehenden Menschen stehen völlig außer Verhältnis zu der ursprünglichen Absicht, Bin Laden zu fangen.

Darüber hinaus ist eine deutliche Verschiebung des Kriegsziels zu beobachten. Von der Ergreifung Bin Ladens hat das Ziel zu der Beseitigung des Taliban-Regimes gewechselt. Das hat in der Tat nichts mehr mit Selbstverteidigung, sondern mit der Neuordnung einer Region zu tun, was nach Art. 2 Z. 7 UN-Charta eindeutig verboten ist. Das ist endgültig ein Verteidigungsexzess, wenn man überhaupt die These von der Selbstverteidigung akzeptiert. Für den Beschluss des Bundestages, ab Mitte November in das militärische Geschehen einzugreifen, ist der Zeitpunkt und die Entwicklung des Krieges entscheidend, da er jetzt definitiv die Grenzen der Verteidigung überschritten hat.

Als Ergebnis ist festzuhalten. Terroranschläge wie der vom 11. September sind schwere Verbrechen die durch nationales Strafrecht zu verfolgen und abzuurteilen sind. Zu diesem Zwecke kann jedoch auch nach dem Vorbild der bereits bestehenden internationalen Straftribunale ein eigenes internationales Strafgericht eingerichtet werden. Der Sicherheitsrat hat im vorliegenden Fall den Terroranschlag als eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gem. Art. 39 UN-Charta eingestuft und verschiedene Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus angeordnet. Er hat jedoch keine Ermächtigung zur Ergreifung militärischer Maßnahmen gem. Art. 42 UN-Charta durch die USA und ihre Verbündeten erteilt. Auch in der Presseerklärung vom 8. Oktober 2001 ist keine derartige Ermächtigung enthalten.

Der Angriff auf Afghanistan ist auch nicht durch das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta gerechtfertigt, da weder die Täterschaft Bin Ladens noch die der Taliban hinreichend glaubhaft gemacht worden ist, die "Gegenwärtigkeit" des Angriffs nach drei bzw. acht Wochen immer zweifelhafter wird und der UN-Sicherheitsrat bereits seit dem 28. September die ihm erforderlich erscheinenden Maßnahmen ergriffen hat. Geht man dennoch von einem Selbstverteidigungsrecht aus, so hat der Krieg inzwischen Formen und Ausmaße angenommen, die nicht nur das im I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen normierte humanitäre Völkerrecht verletzen, sondern auch die Grenzen der Verteidigung weit überschritten haben, sodass eine Berufung auf Art. 51 UN-Charta missbräuchlich ist. Aus diesen Gründen ist auch eine Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Mittel durch Art. 5 Nordatlantikvertrag nicht möglich.

II. Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen

Die Bundesregierung beruft sich ferner auf Art. 24 Abs. 2 GG, um für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan auch eine verfassungsrechtliche Legitimation nachzuweisen. Es handele sich um die Wahrnehmung des "Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG."

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner AWACS-Entscheidung von 1994 den Einsatz deutscher Truppen "out of area" nach Art. 87 a Abs. 2 i.V. m. 24 Abs.2 GG gebilligt (BVerfGE 90, 286 ff.). Das bedeutet, dass die Bundeswehr über ihren ausschließlichen Einsatz zur Territorialverteidigung (Art. 87 a, 115 a GG) hinaus, in bestimmten Fällen im Rahmen eines "Systems der kollektiven Sicherheit" auch zu anderen Aufgaben eingesetzt werden darf. Im Rahmen der UNO bedarf es dazu einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den Sicherheitsrat, die seinerzeit auch vorgelegen hat, jetzt aber nicht. Selbst wenn man der äußerst umstrittenen Einordnung der NATO als "System gegenseitiger kollektiver Sicherheit" folgt, bedeutet das nicht, dass der Bundestag für seinen Beschluss sich auf rechtswidrige Beschlüsse der NATO stützen darf. Die fehlende Ermächtigung des Sicherheitsrates kann nicht durch einen Beschluss der NATO (Bündnisfall) ersetzt werden, der selbst gegen die UN-Charta verstößt. Offensichtlich bedient sich die Bundesregierung hier schon der Neuen NATO-Strategie vom 23./24 April 1999, in dem der Einsatz der NATO-Streitkräfte auch gegenüber Akten des Terrorismus vorgesehen ist. Als rechtliche Grundlage für den Einsatz fällt sie jedoch schon nach der Meinung der Bundesregierung selbst aus, die in der Neuen NATO-Strategie lediglich eine unverbindliche politische Programmatik sehen will.

Im Ergebnis ist für die Anwendung des 24 Abs. 2 GG bei dem beabsichtigten Afghanistan-Einsatz kein Raum. Die Einsatzbefugnisse der Bundeswehr begrenzen sich auf die Territorialverteidigung gem. Art. 87 a, 115 a GG.

Darüber hinaus gibt es weitere verfassungsrechtliche Bedenken gegen den geplanten Beschluss. Die Bundesregierung fordert eine Kriegsermächtigung für 3900 Soldaten über 12 Monate in einem Einsatzgebiet, welches den Nahen und Mittleren Osten, Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete umfasst. Diese Ermächtigung verlässt völlig den von der Regierung bisher selbst akzeptierten Verteidigungsrahmen und macht deutlich, dass es um Selbstverteidigung gar nicht mehr geht, sondern um ein geostrategisches Ordnungskonzept. Ein zwölfmonatiger Einsatz zwingt den Sicherheitsrat in die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers, wie wir es schon im Krieg gegen Jugoslawien erlebt haben. Er erlaubt der Bundesregierung beliebige Einsätze im Dreieck zwischen Tunesien, der Türkei und Indien. Diese territoriale Ausweitung geht über das sog. Bündnisgebiet der NATO weit hinaus und hat mit Art. 6 des Nordatlantikvertrages, in dem das Gebiet bestimmt wird, welches bei einem Angriff die Bündnispflichten nach Art. 5 auslösen kann, nichts mehr zu tun. Die erbetene Ermächtigung ist viel zu unbestimmt, ein Blankoscheck für unkontrollierbare Kriegsziele und Einsatzoptionen, die einer unzulässigen Generalermächtigung an die Bundesregierung gleichkommt.

Völlig ungeklärt ist nämlich bis jetzt, ob der Einsatzbeschluss wie die Feststellung des Verteidigungsfalles gem. Art. 115 a GG zu behandeln ist und alle Möglichkeiten der Art. 115 b bis 115 l GG nach sich zieht, von der Erweiterung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, der Abkürzung des Gesetzgebungsverfahrens bis zur Erweiterung der Befugnisse der Bundesregierung, was wiederum die Befugnisse der parlamentarischen Opposition während der Zeit des Einsatzes stark beschneidet.

Aus all diesen völker- und verfassungsrechtlichen Gründen müsste der Antrag der Bundesregierung abgelehnt werden.

Hamburg, d. 12. November 2001
Prof. Dr. Norman Paech


Zurück zur Seite "Völkerrecht"

Zur Seite "Außenpolitik"

Zur Seite "Bundeswehr"

Zur Afghanistan-Seite

Zurück zur Homepage