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Bündnisfall und Verteidigungsfall im Grundgesetz

Verfassungs- und völkerrechtliche Klarstellungen

Die Rechtslage ist nicht ganz einfach. Wir haben darauf schon bei der Interpretation des NATO-Vertrags hingewiesen. Im "Freitag" vom 21. September 2001 fand sich ein sehr gründlicher Artikel zur Frage, ob und unter welchen Umständen die Bundesrepublik Truppen in Marsch setzen darf. Wir dokumentieren die Analyse aus dem Hause des Forschungsinstituts für Sicherheitspolitik und Internationale Entwicklung e.V. in Bonn.

Der Fall »Bündnisfall«

NATO-VERTRAG: Eine Ausweitung auf Bedrohungen wie Terror und Sabotage ist umstritten

Von Eckehart Ehrenberg


Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis, und der NATO-Rat hat am 12. September Beistandsbeschlüsse unter Bezug auf Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 gefasst. Zum ersten Mal in der Geschichte der Allianz. Ist damit nun wirklich der »Verteidigungsfall« eingetreten, wie gern behauptet wird? Für die NATO als solche gibt es diesen Verteidigungsfall genau genommen nicht, sondern nur für ihre Mitgliedsstaaten. Hält eine - oder halten mehrere - der Vertragsparteien den Verteidigungsfall für eingetreten und stimmen die anderen dem zu, befinden sich alle im Verteidigungsfall, sind einander zu Beistand verpflichtet. Sie nehmen dann für entsprechende Maßnahmen das Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta in Anspruch, auch wenn sie nicht selbst angegriffen wurden. »Die Vertragsparteien«, so heißt es im ersten Satz von Artikel 5 des NATO-Vertrags, »stimmen darin überein, daß ein bewaffneter Angriff auf einen oder mehrere von ihnen [...] als Angriff auf alle von ihnen angesehen wird [...]«.

Das ist dann der »Bündnisfall«, der für alle Vertragsparteien den »NATO-Verteidigungsfall« konstituiert. Der jedoch muss nicht mit dem jeweils national definierten »Verteidigungsfall« übereinstimmen. Dies ist besonders für Deutschland mit Blick auf das Grundgesetz wichtig. Art. 115a GG setzt zur Feststellung des Verteidigungsfalles voraus, »daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht«. Dies muss beim »Bündnisfall« nicht zutreffen. Dieser letztere »Fall« findet allerdings über Art. 24 indirekt Eingang in das Grundgesetz: »Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen.« Er ist dann zugleich durch das Grundgesetz ermächtigt, in die »Beschränkungen seiner Hoheitsrechte« einzuwilligen.

Es liegt auf der Hand, dass zwischen Artikel 24 und 115a GG Spannungen und Widersprüche auftreten können, soweit nicht einer Bestimmung der Vorrang gebührt. Ähnlich war die Situation, als es um Auslandseinsätze der Bundeswehr ging, die nicht der Verteidigung des Bundesgebiets dienten. Zur Lösung der Konflikte zwischen Artikel 24 und 87a GG (Aufstellung und Befugnisse der Streitkräfte) hat das Bundesverfassungsgericht - in seiner Art salomonisch, wiewohl nicht unumstritten - entschieden, dass der Einsatz der Bundeswehr in solchen Fällen nicht ausgeschlossen ist, aber stets auch der Bundestag mit der gleichen Mehrheit zustimmen muss, die zur Feststellung des Verteidigungsfalles nach Art. 115a GG vorgesehen ist.

Der Bundeskanzler hat nach dem Beschluss des NATO-Rats korrekterweise gesagt, die Form der Unterstützung der USA sei noch offen. Er hat aber ebenso unmissverständlich erklärt, die Bundesrepublik werde auch militärischen Beistand leisten. Dazu war er nicht befugt. Wenn er sich dabei auf seine Verständigung mit der Mehrheit der Fraktionsvorsitzenden stützt, missachtet dies - genau wie bei der Reaktion auf die Abstimmung zum Bundeswehr-Einsatz in Mazedonien - die Gewissensfreiheit der Abgeordneten nach Art. 38 GG. Der Bundestag ist keine hierarchische Organisation, in der die Fraktionsvorsitzenden über das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten entscheiden oder gar die Bundesregierung zu Versprechungen ermächtigen könnten.

Nun wurde allerdings auf dem NATO-Jubiläumsgipfels von 1999 eine neue NATO-Strategie formuliert, die versucht, Artikel 5 des NATO-Vertrages auch auf die Bereiche Terror, Sabotage und organisiertes Verbrechen auszudehnen. Diese Beschlüsse sind nicht nur umstritten und Anlass einer Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht; sie können den von den nationalen Parlamenten ratifizierten und in dieser Form weiterhin gültigen NATO-Vertrag auch nicht in der Substanz ändern.

Dies ist beileibe keine juristische Spitzfindigkeit, die angesichts der jüngsten Terror-Anschläge praktischer Vernunft widerspricht. Ganz im Gegenteil. Diese »Spitzfindigkeit« wäre ein Weg, zur Vernunft zurückzukehren. Denn, die Anschläge sind keine Folge militärischen Versagens oder mangelnder (militärischer) Abschreckung. Versagt - und zwar krass - haben die Organe und Systeme der inneren Sicherheit in den USA und anderen NATO-Staaten. Auch künftige Anschläge werden sich mit militärischen Mitteln nicht verhindern lassen.

* Der Autor ist Direktor des Forschungsinstituts für Sicherheitspolitik und Internationale Entwicklung e.V. in Bonn

Aus: Freitag, 39, 21. September 2001

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