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Ein Ordnungsruf gegen Depression

Der Kampf um Frieden schließt die Weiterentwicklung des Völkerrechts ein. Abschlussvorlesung von Lothar Brock, Frankfurt a.M.*

Die Vereinten Nationen wurden gegründet, um die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien. Der Friede wurde damit von einer Idee zur Norm. Was ist damit angesichts der gegenwärtigen Weltlage gewonnen? Zu dieser Frage äußerte sich Lothar Brock im Wintersemester 2003/04 in einer Ringvorlesung, die in wiederkehrender Form von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KFW), der Society for International Development (SID) und dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Universität Frankfurt durchgeführt wird. Mit der Vorlesung nahm Lothar Brock zugleich Abschied von seiner regulären Diensttätigkeit an der Johann-Wolfgang Goethe-Universität.
Wir dokumentieren das Vorlesungs-Manuskript in vollem Umfang und danken dem Autor für das Einverständnis. Eine gekürzte Fassung erschien am 1. März 2004 auf der Dokumentationsseite der "Frankfurter Rundschau".



Vorbemerkungen:

1. Die Formulierung meines Themas legt die Vermutung nahe, dass es im Folgenden um Kant gehen wird. Das ist aber nur indirekt der Fall. Kant liefert den Anlass für die Frage, ob das Rad der Geschichte mit Blick auf Krieg und Frieden sich nur um die eigene Achse dreht, oder auch vorwärts bewegt. Auf eine Kant-Exegese will ich mich keinesfalls einlassen. Das sei den üblichen Verdächtigen vorbehalten, die gerade hier in Frankfurt in so hervorragender Weise präsent sind.

2. Dies ist eine Veranstaltung im Rahmen der Ringvorlesung zur Entwicklungspolitik. Als Kind der Modernisierungstheorie hat die Entwicklungspolitik den Krieg lange Zeit als bloßes Durchgangsstadium im Übergang von der Tradition zur Moderne betrachtet. Inzwischen ist der Krieg oder die kriegerische Anwendung von Gewalt zu einer Rahmenbedingung und zum Objekt der Entwicklungspolitik geworden. Sie muß immer öfter im Schatten dieser Gewalt arbeiten und setzt mehr und mehr ihrer ohnehin spärlichen Ressourcen für Gewaltprävention und Konfliktbearbeitung ein. Wenn ich im Folgenden auch wenig zur Entwicklungspolitik sage, so spreche ich deshalb doch über einen Sachverhalt, der in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Thema der Entwicklungspolitik geworden ist.

I. Fragen

Das Sigmund Freud-Institut führt zur Zeit in Zusammenarbeit mit dem FB 03 eine Ringvorlesung durch. Das Thema: "Zwischen Lebensgefühl und Krankheit: Depression heute". Die Themenwahl kommt nicht von ungefähr: Die Weltgesundheitsorganisation hat festgestellt, dass die Depression sich weltweit ausbreitet. Ein Blick um uns und vielleicht mehr noch in uns fördert vieles zu Tage, was den Befund plausibel erscheinen lässt: Völkermord, Terror, Krieg, weltweit wachsende soziale Disparitäten und zunehmende Schwierigkeiten, sich darauf einen Reim zu machen - das alles ist Grund genug, in Depressionen zu verfallen. Aber die Depression ist eine Versuchung, und man leistet wohl einen größeren Beitrag zum allgemeinen Wohl, wenn man ihr widersteht als wenn man sich ihr hingibt. In diesem Sinne verstehe ich meinen Vortrag als Ordnungsruf gegen Depression - in erster Linie gegen meine eigenen Depressionen. Was Ihre eigenen Depressionen betrifft, so könnten sie durch meinen Vortrag noch zu nehmen. Für diesen Fall bleibt Ihnen nur, sich auf ein Gläschen Wasser oder Wein zu freuen, die es nach dem Vortrag im Foyer gibt. Zum Betrinken langt es leider nicht.

Damit zu den Fragen, mit denen ich mich auseinandersetzen möchte.

Die Idee des Friedens ist Bestandteil der Geschichte des Krieges. Quer durch die Geschichte ist der Friede stets eine Zwischenkriegszeit gewesen. Das Projekt der Aufklärung besteht darin, diese Verknüpfung von Krieg und Frieden zu überwinden und in einer globalen Rechtordnung aufzuheben.

Den Frieden aus den Fesseln des Krieges zu befreien, das bedeutet aus aufklärerischer Sicht die Gewalt an das Recht zu binden. Es geht also um die Einhegung der Gewalt in einem Rechtsfrieden, nicht um die Abschaffung jeglicher Zwangsgewalt.

Die Gewalt an das Recht zu binden, das hat zwar das klassische Völkerrecht auch schon versucht. Es beschränkte sich jedoch weitgehend auf die Regulierung der Gewalt im Krieg. So sieht Hugo Grotius die Aufgabe des Völkerrechts darin, "die laxen Sitten und Freiheiten, die in der Kriegführung eingerissen sind, auf das von Natur erlaubte Maß zurückzuführen und auf das Bessere innerhalb dieser Grenzen hinzuweisen."

Insofern war das klassische Völkerrecht ein Recht des Krieges. In seiner Schrift zum Ewigen Frieden nennt Kant die Vertreter des klassischen Völkerrechts deshalb "lauter leidige Tröster", die viel vom Frieden redeten, ohne mit ihrem Kodex je einen Krieg verhindert zu haben, egal ob "philosophisch oder diplomatisch abgefasst"; denn dieser Codex beruhe auf der gesetzlosen Freiheit der Staaten, "sich unaufhörlich zu balgen". Die Vernunft gebiete, so Kant, diese gesetzlose Freiheit hinter sich zu lassen. Es galt, das Völkerrecht von einem Recht des Krieges in ein Friedensrecht zu verwandeln.

Das ist inzwischen der Form nach weitgehend geschehen. Die Völker haben sich unter der Charta der Vereinten Nationen zusammengeschlossen, um die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien. Die Charta spricht ein allgemeines Gewaltverbot aus und etabliert eine dem Gewaltverbot entsprechende Friedenspflicht. Der Frieden ist damit von einer Idee zu einer Norm geworden.

Was ist damit gewonnen? Zeigt sich heute nicht allzu deutlich, dass jeder Versuch, den Krieg durch Unterwerfung der Politik unter das Recht zu überwinden, nur neue Begründungen dafür liefert, ihn zu führen?

Wenn der Friede ein Gebot der Vernunft ist, also im ureigensten Interesse aller Beteiligten liegt, müsste er sich, wie Kant ausdrücklich bemerkt, auch in einer Welt von Teufeln einstellen - sofern nur die Vernunft Gelegenheit hat, sich Bahn zu brechen. Diese Bedingung sah Kant mit der modernen Demokratie gegeben; denn in der Demokratie hätten diejenigen Gelegenheit über Krieg und Frieden mitzuentscheiden, die die wahren Lasten des Krieges zu tragen hätten. Aber sind es nicht gerade die Demokratien, die heute unter Verweis auf die Notwendigkeit, das Friedensrecht weiterzudenken, neue Kriegsführungsoptionen formulieren und durchsetzen?

"Wen müssen wir schützen?" fragen die demokratischen Vertreter der humanitären Intervention. Aber folgt dem nicht automatisch die Frage: "Wen dürfen wir bombardieren?"

Ich will auf die mit diesen Fragen angeschnittene Problematik wie folgt eingehen. Zunächst werde ich etwas über die 1990er Jahre als historische Gelegenheit zum Frieden sagen. Verhaltene Zuversicht: Die 1990er Jahre als historische Gelegenheit. Im zweiten Schritt behandle ich Gegentendenzen. Depression: Die Norm des Friedens im Krieg Im dritten Schritt werde ich Ihnen meine Lieblingsgeschichte aus dem Schätzkästchen Maghrebinischer Weisheiten erzählen und mich dann einigen grundsätzlicheren Überlegungen zum Thema "Frieden durch Recht" zuwenden. Leidiger Trost? Das Recht als Gegenstand der internationalen Politik. Es folgt ein kleines Zwischenspiel über Engel und Teufel und schließlich der Ordnungsruf gegen Depression Schritt für Schritt nirgendwo hin?: Ordnungsruf gegen Depression. Der Ordnungsruf richtet sich gegen eine wohlfeile Absage an die Idee, Frieden durch Recht zu sichern und gegen den Trend, umstandslos auf einen Diskurs über die Logik imperialer Weltpolitik umzusteigen.

II. Verhaltene Zuversicht: Die 1990er Jahre als historische Gelegenheit

Zu Beginn der 1980er Jahre, also im Gefolge der Nachrüstung, sah die Welt ziemlich bedrohlich aus - in Frankfurt womöglich noch mehr als anderswo. Denn Frankfurt lag in der Verlängerung des sogenannten Fulda Gap, d.h. des weiten landschaftlichen Einschnitts zwischen Kasseler Bergen und Rhön, der sich über die Wetterau bis Frankfurt fortsetzt. Die westlichen Szenarien für den Fall eines Krieges sahen voraus, dass die Truppen des Warschauer Paktes durch diesen Einschnitt in Richtung Rhein-Main-Region vorstoßen würden. Die Frankfurter begannen, sich nach Nischen umzusehen, in denen man einen Atomschlag überleben könnte. Wir selbst hatten einen Kellerraum, der war nach innen durch eine Stahltür gesichert, nach außen aber über einen Luftschlitz offen. Sollte man den Luftschlitz zumauern lassen?

Zehn Jahre später war das Bild völlig verwandelt. Ost und West hatten sich in dramatischen Schritten angenähert. Die atomare Apokalypse war abgesagt. Die Aufrüstung wurde nicht nur gestoppt. Über alle Erwartungen der Friedensbewegung hinaus wurde abgerüstet. Die Charta von Paris, in der Ost und West 1990 die Grundsätze für ein friedliches Zusammenleben der Völker niederlegten, las sich als das schönste Friedensbrevier seit Erasmus von Rotterdam. Und nicht nur innerhalb Europas tat sich etwas. In Afghanistan, zwischen Irak und Iran, im südlichen Afrika, in Zentralamerika schwiegen die Waffen oder gab es berechtigte Gründe für die Erwartung, dass sie dies bald tun würden.

Die Wahnsinnstimmung, die beim Fall der Mauer herrschte, wich bald der Ernüchterung. Am 15. Januar 1991 läuteten hierzulande mitten in der Nacht die Kirchenglocken und wieder machte man sich in Frankfurt sorgen, ob man sich schützen müsse - diesmal nicht gegen einen Atomschlag, aber immerhin gegen mögliche Virenangriffe in der U-Bahn. Andernorts verkehrte sich der von James Rosenau beobachtete Wettlauf um Frieden in sein Gegenteil- in einen Wettlauf um die brutalsten Formen kollektiver Gewalt. Einige Autoren wie Hans Magnus Enzensberger oder Robert Kaplan prophezeiten den Beginn eines Weltbürgerkrieges, Samuel Huntington sagte einen Clash of Civilizations voraus, während Realisten wie John Mearsheimer die Zukunft eher in der Vergangenheit sahen, in eine Welt rivalisierender und sich notfalls bekriegender Nationalstaaten.

Aber die widersprüchliche Entwicklung konnte mit Bezug auf die Globalisierung auch anders gesehen werden, nämlich als kreative Turbulenz der Weltpolitik, als konfliktträchtige Verflechtung aller Weltverhältnisse, die gleichwohl neue Perspektiven der Kooperation und der Verständigung eröffnete. Da der Ost-West-Konflikt friedlich überwunden worden war, schien es nicht unbillig zu hoffen, dass es auch möglich wäre, die Weltverhältnisse insgesamt friedlicher zu gestalten als sie es bis dahin gewesen waren.

Diese Sichtweise der Entwicklung wurde stimmungsmäßig durch die großen Weltkonferenzen der 1990er Jahre gestützt. Auf diesen Konferenzen sollte der Weltpolitik eine neue Richtung gegeben werden. So wurden Agenden formuliert, die von der Integration von Umwelt und Entwicklung unter dem Schlagwort der Nachhaltigkeit, über die Anerkennung der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte und die Durchsetzung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung im Geschlechterverhältnis bis zur Ingangsetzung einer internationalen Sozialpolitik reichten. Zwar handelte es sich eher um eine deklaratorische Politik, aber die Konferenzen wurden förmlich als Etappen in einem auf längere Frist angelegten Verhandlungsprozess ausgewiesen, in dessen Verlauf die Staaten auf konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Programmatik verpflichtet werden sollten. Dass dies passieren würde, dafür wollten fortan auch nicht-staatliche Akteure sorgen, die Nichtregierungsorganisationen, die aus den sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre hervorgegangen waren.

Die Weltkonferenzen boten den Nichtregierungsorganisationen ein Forum zur Selbstdarstellung und ansatzweise sogar ein Einfallstor zur Teilhabe an der Weltpolitik. Die alte Dritte-Welt-Szene erlebte in diesem Zusammenhang ihre Wiedergeburt als Netzwerk für zivile Konfliktbearbeitung und als kritische Öffentlichkeit, die sich aktiv und lautstark in die Weltpolitik einmischte und es sich u.a. zur Aufgabe machte, die Konfliktfähigkeit marginaler Gruppen und kleinerer Entwicklungs- und Transformationsländer in internationalen Verhandlungen zu stärken und Alternativen zu dem in der Wirtschaftspolitik vorherrschenden Neoliberalismus zu entwickeln.

Eine Weltkonferenz für Wirtschaftsfragen gab es zwar nicht. Aber wer wollte, konnte Anzeichen dafür erkennen, dass auch Weltbank und Weltwährungsfonds - nicht zuletzt unter dem Druck der Peso- und der Asienkrise - genötigt werden konnten, sich den Debatten um Nachhaltigkeit, Menschenrechte und soziale Sicherung zu öffnen, die durch die Weltkonferenzen angestoßen worden waren.

Während die Weltkonferenzen das normative Fundament der Politik in der Weltgesellschaft erweiterten, lieferte die Agenda für Frieden, die der Sicherheitsrat 1992 verabschiedete, ein konkretes Programm für eine Ausweitung der kollektiven Handlungsfähigkeit der UNO im Umgang mit Konflikten. Das Konzept umfasste neben der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung auch die aktive Konfliktintervention und Friedenserzwingung und sah hierfür eine Aufwertung der sicherheitspolitischen Autorität der UNO vor. Nach der UN-Charta kann der Sicherheitsrat allerdings nur auf den Plan treten, wenn der internationale Friede gefährdet oder gebrochen wird. Demgegenüber ist es seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer relativen Verlagerung des Kriegsgeschehens von der internationalen auf die innerstaatliche Ebene gekommen. Der Sicherheitsrat füllte die sich daraus ergebende Lücke zwischen seinen Kompetenzen und dem realen Konfliktgeschehen, indem er die systematische Missachtung der Rechte von Minderheiten (Irak), die grobe Missachtung von Menschenrechten (Bosnien), den Zusammenbruch der innerstaatlichen Ordnung (Somalia) und schließlich sogar den gewaltsamen Widerstand gegen Demokratisierung (Haiti) zu einer Bedrohung des internationalen Friedens erklärte. Damit eröffnete er die Möglichkeit, kollektive Maßnahmen nach Kapital VII der UN-Charta auch bei innerstaatlichen Konflikten zu ergreifen. Diese Möglichkeit hatte der Sicherheitsrat zuvor auch schon im Kampf gegen die Apartheid genutzt - offensichtlich mit Erfolg.

Diese Aspekte der weltpolitischen Entwicklung wurden von einer lebhaften Debatte über Globalisierung und Global Governance begleitet, also über die bereits erwähnte weltweite Verflechtung aller Lebenszusammenhänge und neuer Formen des Regierens jenseits traditioneller Staatlichkeit. Global Governance wurde in Verbindung mit der Globalisierung und nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Europäischen Einigung zu einem Thema der Sozialwissenschaften, in dem sich ein breites Spektrum von Wandlungsprozessen bündeln ließen: die Entgrenzung der Staatenwelt und der Übergang zu einer postnationalen Konstellation, der Wandel von Staatlichkeit und die Herausbildung von Netzwerkgesellschaften, die Internationalisierung des Staates und deren Implikationen für die Demokratie, die Globalisierung des Rechts und die Transformation sozialer Bewegungen in eine globale Zivilgesllschaft.

Dies alles vollzog sich vor dem Hintergrundleuchten einer dritten Welle der Demokratisierung, die nunmehr die ganze Welt zu erfassen versprach. Entwicklung verband sich mit Transformation. Und wenn die Dinge auch von Land zu Land sehr unterschiedlich verliefen, so schien es doch möglich, den Niedergang des Realsozialismus durch eine Ausweitung des Geltungsbereichs der liberalen Demokratie vollenden zu können. Dies lag anscheinend in der Logik der Globalisierung, konnten Weltbank und Weltwährungsfonds doch mit Daten aufwarten, denen zufolge diejenigen Entwicklungs- und Transformationsländer die größten Fortschritte machten, die ihre Wirtschaft konsequent öffneten, sich einer verantwortliche Regierungsführung befleißigten und die Menschenrechte achteten.

III. Depression: Die Idee des Friedens im Krieg

War das alles nur ein ängstliches Pfeifen im finstern Wald? Die Schrecken von Somalia und der Völkermord in Ruanda standen noch allen lebhaft vor Augen als die Ereignisse in Srebrenica das Grauen noch steigerten, weil es sich in Gegenwart von UN-Blauhelmen vollzog. Die Handlungsfähigkeit der UNO erwies sich trotz Agenda für den Frieden und der Ausweitung des Aktionsradius' kollektiver Friedenssicherung als unzureichend. Aber zu weiteren Reformen kam es nicht. Die Reformdebatte, die im Vorfeld des 50. Jahrestages der Gründung der Weltorganisation geführt worden war, versandete ergebnislos. Die UNO geriet stattdessen von Seiten der Nato und insbesondere der USA unter Anpassungsdruck.

Die Nato hatte sich 1992 auf dem Balkan zunächst als Hilfstruppe der UNO zur Verfügung gestellt. 1995, im Bosnien-Krieg, ging sie schon eigene Wege. Die Nato handelte zwar noch im Rahmen der UNO-Mission auf dem Balkan, entschied aber weitgehend eigenständig über Militäreinsätze. (Hinzu kam, dass Frau Albright den Generalsekretär der UNO nicht mochte und der US-Senat weder den Generalsekretär noch Frau Albright, so dass sich eine gemeinsame Front gegen die UNO als ein Mittel zur Machtsicherung der Clinton-Administration anbot.)

1999 im Kosovo-Konflikt wurde aus dem eigenständigen Handeln der Nato im Rahmen der UNO dann ein eigenmächtiges Handeln unter Umgehung des Sicherheitsrates. Zur gleichen Zeit nahmen die USA und Großbritannien mit Blick auf den Irak für sich das Recht in Anspruch, ohne weitere Rückkoppelung mit dem Sicherheitsrat darüber zu entscheiden, ob der Irak die einschlägigen UN-Resolutionen von 1991 einhielt oder nicht. Auf der Grundlage einer solchen eigenmächtigen Entscheidung wurde im Dezember 1998 die Bombardierung der "Flugverbotszonen" im Irak wieder aufgenommen. Die Bombardierung wurde dann im März 2003 auf gleichem Wege zum Krieg gegen den Irak erweitert.

Unter diesen Bedingungen erhielt die zu Beginn der 1990er Jahre von Joseph Nye lancierte Rede von der "soft power" einen faden Beigeschmack. Nye hatte sie ursprünglich als empirische Aussage über die wachsende Bedeutung nicht-militärischer im Vergleich zu militärischer Macht verstanden. Jetzt nahm sie eher den Charakter einer Beschwörung an, Weltpolitik nicht auf die Entfaltung einer globalen militärischen Machtausübung zu verkürzen; denn gerade dies schien sich im Gefolge der Terroranschläge vom 11. September anzukündigen, als die US-Regierung eine allgemeine Kriegserklärung abgab, die ausdrücklich offen ließ, für welchen Zeitraum sie galt und gegen wen sie sich richtete.

Auch die euphorische Rede über Globalisierung und den Wandel von Staatlichkeit wurde gedämpft. Teil der Globalisierung ist offenbar die Herausbildung von Weltgewaltmärkten, über die jedes noch so atavatisich anmutende Gemetzel in die Weltwirtschaft integriert wird, und der Wandel von Staatlichkeit scheint sich in Wechselwirkung mit dem Terrorismus auch als Entdemokratisierung und Entrechtlichung der Sicherheitspolitik zu vollziehen. Die public private partnerships, in denen sich die Kräfte der Globalisierung zum allgemeine Wohl wechselseitig verstärken sollen, werden in offenbar zunehmendem Maße als ein Mittel zum Outsourcing von Kriegsoperationen genutzt. Ein Heer von Privatunternehmen ist direkt an militärischen Eingriffen in die Konflikte des Südens beteiligt. (Das sind in erster Linie Service-Unternehmen, die für Bauten, Logistik, Hilfestellung bei der Bedienung komplexer Waffensysteme oder auch nur fürs Kochen zuständig sind.) Nach Angaben des BICC hat sich die Zahl der zivilen Hilfstruppen der Militärs auf Seiten der USA zwischen dem zweiten Golfkrieg und dem Irak-Krieg verzehnfacht. Sollte sich hier ein allgemeiner Trend abzeichnen, wären die Konsequenzen gravierend: auf der einen Seite könnten solche Firmen indirekt Entscheidungen über Krieg oder Frieden beeinflussen (besonders was kleine und begrenzte Kriege betrifft), zum anderen könnten die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten gegenüber Militäreinsätzen eingeschränkt werden, sofern private Firmen, die dem Militär zuarbeiten, sich dem kontrollierenden Zugriff der Parlamente entziehen.

Schlimmstenfalls könnte es sogar zur Übertragung von gesetzwidrigen Methoden der Informationsbeschaffung an private Sicherheitsfirmen kommen. Bisher leisten hier offenbar befreundete Länder Hilfe, und in Afghanistan sind es einheimische militärische Einheiten, die mit den dezentral operierenden US-Kommandos kooperieren, und ihre Gefangenen nach vorliegenden Berichten routinemäßig misshandeln. Das könnte dazu beitragen, die gegenwärtig sich schon vollziehende Entrechtlichung des Krieges gegen den Terror innerhalb der westlichen Demokratien voranzutreiben. Die Gerichte werden, wie beim Hamburger Terrorismusprozess, im Kampf gegen den Terror blockiert, wenn nicht marginalisiert, weil die Geheimdienste ihnen Informationen vorenthalten, bei deren Beschaffung man sich nicht unbedingt an die Strafprozessordnung hält und bei deren Verwertung es nicht um Rechtsprechung, sondern um Gefahrenabwehr (wenn nicht um die Machtsicherung der Geheimdienste selbst) geht.

Hinzu kommt, dass die unumgängliche Forderung nach Anerkennung von Differenz mit der unermüdlichen Konstruktion neuer Differenzen beantwortet wird, selbst dort, wo man sie vorher gar nicht vermutet hat. Mars und Venus", "altes und neues Europa" sind die Früchte solcher Konstruktionen. Hinter diesen Sprachspielen steht eine unerfreuliche Entwicklung: Kritik vermischt sich mit Stimmungsmache, Anti-Imperialismus mit Antiamerikanismus und Antisemitismus - nicht nur in Frankreich, sondern auch bei uns wie Umfragen belegen.

Der Westen hat gehofft, den Rest der Welt auf die friedenstiftende Idee der liberalen Demokratie einschwören zu können. Stattdessen wächst heute die Angst, dass diese Idee womöglich nicht einmal ausreichen könnte, den Zusammenhalt der bestehenden Demokratien untereinander zu wahren. Und wenn die US-Politik, wie Robert Kagan oder Herfried Münkler meinen, einer imperialen Handlungslogik folgt, die sie zur Weltherrschaft drängt, dann könnten wir nicht einmal mehr sicher sein, dass es den Demokratien gelingen wird, auf Dauer untereinander Frieden zu halten.

Erweist sich also der Schrecken, den die erste Verkündung einer neuen Weltordnung zu Beginn der 1990er Jahre auslöste, doch als berechtigt? Waren die zwischenzeitlich sich ausbreitenden Vorstellungen über zivilisatorische Prozesse, eine zweite reflexive Moderne oder Global Governance letztlich doch nur Makulatur?

Ich will diese Frage bezogen auf einen bestimmten Aspekt der Debatte behandeln: die Idee des Friedens durch Recht. Die Stoßrichtung meiner Argumentation richtet sich, wie einleitend bereits angemerkt, gegen einen vorschnellen Übergang vom Diskurs über Frieden durch Recht zu einem Diskurs über die Errichtung einer imperialen Weltordnung. Ich argumentiere, dass selbst wenn die gegenwärtige US-Politik einer imperialen Handlungslogik folgt, die Möglichkeit besteht und es deshalb auch vernünftig ist, gegen eine solche Logik die Idee des Rechts zu sezten und zwar, weil auch die gegenwärtige US-Regierung Rechtspolitik betreibt. Sie tut damit nichts Neues. Die Entwicklung des Völkerrechts stand epochenweise schon immer unter dem Einfluss hegemonialer Mächte. Dennoch war das Völkerrecht stets mehr als bloßes Instrument der jeweiligen Hegemonialmacht. Das will ich im Folgenden erläutern.

IV. Leidiger Trost? Recht und Politik

Lassen Sie mich zur Erholung vor dem nächsten Schritt die angekündigte kleine Geschichte erzählen (wie gesagt: meine Lieblingsgeschichte).

Zu Nazeredin Hodscha, einem bekannten Weisen aus dem Morgenland, kam eines Tages ein Pächter, der sagte: "Mein Pachtherr verweigert mir die Nutzung des Bodens. So verweigere ich ihm die Zahlung der Pacht. Habe ich recht?" Der Hodscha antwortete: "Du hast recht." Wenig später kam der Pachtherr zum Hodscha und sprach wie folgt. "Mein Pächter verweigert mir die Zahlung der Pacht. So verweigere ich ihm die Nutzung des Bodens. Habe ich recht?" Nazeredin Hodscha antwortete: "Du hast recht." Als der Pachtherr gegangen war, sagte der Schüler des Weisen, der alles mit angehört hatte: "Du kannst doch nicht, weiser Lehrer, dem Bauern sagen, ‚Du hast recht' und dem Pachthernn ebenfalls sagen: ‚Du hast recht!'". Darauf antwortete der weise Hodscha: "Du hast recht."

Es kommt also auf die Perspektive an. Wenn wir das internationale System vorrangig als anarchische Machtordnung sehen, werden wir vermuten, dass hier die Logik der Anarchie, sprich ein machtgestütztes Autonomiestreben im Vordergrund steht. Wenn wir das internationale System als ein vielschichtiges Netz aus politischen Akteuren und gesellschaftlichen Gruppen sehen, werden wir vermuten, dass hier die Logik der Verflechtung, sprich die Selbstbindung der Akteure an bestimmte Regeln zum Zuge kommt.

Im Rahmen ihrer jeweiligen Prämissen haben die Vertreter beider Positionen Recht. Wir können aber nicht beiden Recht geben, wenn wir wie Hodschas Schüler davon überzeugt sind, dass nur die eine oder andere Seite Recht haben kann. Das ist jedoch nicht zwingend; denn weder der Verflechtungs- noch der Machttheoretiker interpretiert lediglich eine Welt, die ihm entgegentritt, er erfindet sie auch, wie inzwischen aus konstruktivistischer Sicht zur Genüge betont worden ist. Jede empirische Analyse, die die Annahmen der einen oder anderen Position als falsch beweisen will, steht damit selbst unter dem Verdacht, einer heimlichen Agenda zu folgen. Von daher erscheint es plausibel, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass im internationalen System nach unterschiedlichen Logiken gehandelt wird.

Ich will jedoch nicht von dieser konstruktivistischen Sicht her argumentieren, sondern vom Paradox der Freiheit her, indem ich die These vertrete, dass die Machtperspektive und die Verflechtungsperspektive zwei Seiten derselben Sache bezeichnen, nämlich die Einheit von Autonomiestreben und Selbstbindung in jeglicher Sozialbeziehung. Das heißt zugleich, dass jeder Akteur stets auf beide Handlungslogiken verwiesen ist. In der Regel ist hier jedoch mit erheblichen Ungleichgewichten zu rechnen, die dort besonders stark in Erscheinung treten, wo es kein Gewaltmonopol, wohl aber große Machtunterschiede gibt; denn hier besteht ein erheblicher Ermessenspielraum beim Umgang mit Normen und Regeln und die mächtigen Akteure können auf die Idee kommen, dass sie sich leisten können, was keinem anderen möglich ist, nämlich das Verhältnis von Autonomiestreben und Selbstbindung zugunsten der Autonomie aufzulösen. Über längere Sicht gelingt das aber auch dem Mächtigen nicht, wie die Endlichkeit aller Imperien zeigt. So wird auch der Mächtige keinesfalls aus der Notwendigkeit befreit wird, sich tendenziell selbst den Regeln zu unterwerfen, die er anderen auferlegt, will er nicht untergehen. (Karl Grobe hat darauf in seinem heutigen Kommentar zur US-Politik im Kontext des Irakkrieges hingewiesen.)

Ist diese Annahme zu optimistisch? Zu dieser Frage ein kleines Zwischenspiel:

Zwischenspiel: Teufel und Engel

Einleitend wurde (mit Kant) postuliert, dass der Friede ein Gebot der Vernunft sei und sich auch in einer Welt von Teufeln einstellen müsste, sofern nur die Vernunft Gelegenheit hat, sich Bahn zu brechen. Peter Niesen hat kürzlich herausgearbeitet, dass der Teufel an dieser Stelle bei Kant für jenes Wesen steht, das die utilitaristische Anthropologie einen rationalen Nutzenmaximierer nennt. Dem Teufel als rationalem Nutzenmaximierer muss jedoch weder die Möglichkeit abgesprochen werden, moralisches Wissen zu erwerben, also das Wissen darüber, was Engel tun würden, um dem Vernunftgebot zu entsprechen, noch muß ihnen die Fähigkeit abgesprochen werden, moralisches Wissen in moralisches Handeln umzusetzen. Dabei spielt die Staatsverfassung eine zentrale Rolle; denn eine gute Staatsverfassung kann, wie Kant bemerkt, "die gute moralische Bildung des Volkes" fördern. Damit wird gesagt, dass eine Friedensordnung zwar keineswegs den guten Menschen voraussetzt. Eine gute Staatsverfassung kann aber sehr wohl dazu beitragen, jene Verhaltensweisen zu stärken, die dem Vernunftgebot entsprechen. Um im Bild zu bleiben, Kant erkennt im Teufel den gefallenen Engel, dessen Herkunft ihm als Fähigkeit erhalten bleibt, den eigenen Nutzen in einem größeren Zusammenhang zu sehen, also nicht nur im bornierten, sondern auch im wohlverstandenen Eigeninteresse zu handeln. (Zur Bekräftigung sei Mario Giordano zitiert, der in einem wunderschönen Büchlein über Engel und Ungeheuer schreibt: "Das Wort Engel kommt aus dem Griechischen und bedeutet Bote. Als Boten zwischen Himmel und Erde müssen Engel sehr schnell sein. Deswegen haben sie Flügel. Wissenschaftler haben bewiesen, dass Menschen mit solchen Flügeln niemals fliegen könnten. Sie konnten aber nicht beweisen, dass es keine Engel gibt." Mit anderen Worten, wir wissen, dass es keinesfalls die Moral ist, die die Welt regiert. Aber das beweist nicht, dass es keine Moral gibt oder dass, wenn es sie gibt, sie nicht wirksam ist.

Ende des Zwischenspiels

Was heißt das nun für die Frage, wie die Entwicklungstendenzen der internationalen Politik und insbesondere die Bemühungen um Frieden durch Recht seit dem Ende des Ost-West-Konflikts einzuschätzen sind?

Ich hole etwas aus und bitte noch mal um Geduld:

Für den politikwissenschaftlichen Ansatz ist in dem hier behandelten Themenfeld die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden konstitutiv, wohlgemerkt: die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden und nicht zwischen negativem und positivem Frieden, nicht zwischen manifestem und latentem, großem und kleinem, offnem und verdecktem Krieg. Die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden verweist auf gegensätzliche Verhaltensweisen in Konflikten. Der Krieg steht für die willkürliche Anwendung von Gewalt. Friede ist die Aufhebung willkürlicher Gewaltanwendung in einer Rechtsordnung. Willkürliche Gewaltanwendung heißt, dass die Konfliktparteien nach eigenem Ermessen über die Anwendung von Gewalt entscheiden. Auch der "gerechte Krieg" beruht insofern auf Willkür, weil das Wesentliche des Krieges in ihm erhalten bleibt: nämlich die Inanspruchnahme eines souveränen Rechts, über die Anwendung kriegerischer Gewalt eigenständig zu entscheiden. Deshalb ist der (heute so populäre) Rückgriff auf die Lehre vom gerechten Krieg entschieden zurückzuweisen; es sei denn, dass die Kriterien des gerechten Krieges lediglich dazu dienen, die Anforderungen an zulässige kollektive Zwangsmaßnahmen im Rahmen von Kapitel VII der UN-Charta zu spezifizieren. In diesem Fall erübrigt sich aber der Bezug auf die Denkfigur des gerechten Krieges; denn dann geht es nicht mehr um gerechte und ungerechte Kriege, sondern um legale oder illegale Gewaltanwendung. (Der Unterschied besteht - wie gesagt - darin, dass im einen Fall die Konfliktparteien selbst entscheiden, im andern Fall die Entscheidung einer völkerrechtlich hierfür ausgewiesenen Institution vorbehalten ist.)

Die Charta der Vereinten Nationen verbietet die Anwendung von Gewalt. Das Gewaltverbot besagt, dass kein Staat nach eigenem Ermessen in den Beziehungen zu anderen Staaten Gewalt anwenden darf. Als einzige Ausnahme gilt die Selbstverteidigung. Aber auch hier ist das Moment der Willkür weit zurückgedrängt: Das Recht auf Selbstverteidigung wird zwar als naturgegeben anerkannt, aber es kann nur im Falle eines bewaffneten Angriffs in Anspruch genommen werden und auch nur solange, bis der Sicherheitsrat sich der Sache annimmt.

Nun kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass ein Gewaltverbot ausreicht, willkürliche Gewaltanwendung tatsächlich zu verhindern. Deshalb sieht die UN-Charta in Kapitel VII die Möglichkeit vor, notfalls mit militärischer Gewalt auf die Bedrohung oder den Bruch des internationalen Friedens zu reagieren - aber eben nur auf der Grundlage einer hierfür erforderlichen Entscheidung des UN Sicherheitsrates. Die UN-Charta folgt hier im Grundsatz dem Prinzip, dass niemand in eigener Sache Richter sein soll. Da aber gerade die Ständigen Mitglieder in vielen der zu entscheidenden Fällen zumindest indirekt beteiligt sind, ist dieses Prinzip mit der gegenwärtigen Regel nur sehr unvollkommen umgesetzt worden. Dieser Sachverhalt ist kritisch zu bewerten. Er bietet aber keinen Grund, unter Berufung auf den "gerechte Krieg" noch hinter diese Stufe der Verrechtlichung der internationalen Friedenssicherung zurückzufallen.

Ist die Verrechtlichung ein bloßer Fetisch der Friedensforschung? Um das zu erörtern, erlauben Sie mir ein paar politologische Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Recht, die darauf hinauslaufen, die Einheit von Autonomiestreben und Selbstbindung als Ambivalenz des Rechts zu fassen. Ich entschuldige mich bei unseren Juristenkollegen für diese Grenzüberschreitung. Sie beansprucht nicht, die Juristen zu belehren, sondern stellt nur einen Versuch dar, sich aus politologischer Sicht mit dem Recht auseinander zusetzen.

Im modernen Staat hat sich der Schritt zur Zivilisierung des Konfliktverhaltens als Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols vollzogen. Dieses Gewaltmonopol gilt als legitim soweit es gewalttätige Selbsthilfe zugunsten einer rechtlich gehegten Konfliktaustragung zurückdrängt. Das Gewaltmonopol verwandelt violentia in potestas und stiftet damit Ordnung. Diese Ordnung wird aber erst in dem Maße zur Friedensordnung, in dem staatliches Handeln sich selbst bestimmten Regeln unterwirft, das staatliche Gewaltmonopol also rechtstaatlicher Kontrolle unterstellt wird. Dies leistet eine Verfassung.

Nun bleibt aber auch in der rechtsstaatlich eingehegten Gewalt noch ein Element der Willkür erhalten. Das liegt daran, dass die Einhegung von Gewalt sich quer durch die Geschichte und bis auf weiteres im Kontext ungleicher Entwicklung und ungleicher Machtverhältnisse vollzieht. Der formalen Gleichheit des Rechts entspricht also auch im Verfassungsstaat keine Gleichheit des Zugriffs auf das Recht (weder hinsichtlich seiner Formulierung, noch seiner Anwendung). Es ist in diesem Sinne stets mit Versuchen zu rechnen, das Recht zu manipulieren. Aber der Manipulation des Rechts sind Grenzen gesetzt, die in der Natur des Rechts selbst liegen; denn das Spezifikum des Rechts besteht darin, dass es sich der vollständigen Einvernahme für partikulare Zwecke entzieht, andernfalls wäre es kein Recht.

Politische Akteure sind also versucht, sich etwas verfügbar zu machen, dessen Wert für sie in seiner Unverfügbarkeit besteht. Hierin liegt die Ambivalenz des Rechts begründet. Das herrschende Recht ist stets Recht der Herrschenden, aber zugleich und ebenso notwendig auch herrschendes Recht. Als herrschendes Recht dient es als Medium, über das Unrechtserfahrungen artikuliert und in Unterlassungs- oder Wiedergutmachungsansprüche übersetzt werden können. Frieden durch Recht ist und bleibt von daher eine konkrete Utopie, die im demokratischen Verfassungsstaat bereits Wirklichkeit geworden ist, wobei diese Errungenschaft aber ständig gegen Fehlentwicklungen geschützt werden muss.

Wie verhält es sich damit nun auf der internationalen Ebene? Auch für das Völkerrecht gilt, dass seiner Manipulation und Korrumpierung Grenzen gesetzt sind, die in der Natur des Völkerrechts als Recht liegen. Wer sich auf die Sprache des Völkerrechts einlässt, unterwirft sich den Regeln, die mit dem Sprechen in Kategorien des Rechts einhergehen. Dazu gehört, dass jeder Bezug auf das Recht ein Akt der Selbstbindung an das Recht ist. Da es auf internationaler Ebene kein Gewaltmonopol gibt, ist dieser Aspekt der Selbstbindung von besonderer Bedeutung. Denn hier schlägt die ungleiche Entwicklung und Machtverteilung noch viel stärker durch als auf die Handhabung des nationalen Rechts.

Die Regelungen der UN-Charta unterwerfen alle Mitgliedstaaten der Pflicht, sich in ihrem Verhalten auf eben diese Regeln zu beziehen. Wenn die Staaten dies tun, dann aus dem Grunde, weil das eine Erwartungssicherheit schafft, die der Wahrnehmung der eigenen Interessen zugute kommt. Das betrifft ebenso die Interessen der Starken wie der Schwachen. Die Starken sind darauf aus, über die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen Kosten bei der Durchsetzung ihrer Interessen einzusparen; die Schwachen sind an der Verrechtlichung interessiert, weil sie hoffen, das Recht gegen unbillige Ansprüche der Starken in Stellung bringen zu können und gleichzeitig eigene Ansprüche gegenüber den Stärkeren dadurch Nachdruck zu verleihen, dass sie sie zum Gegenstand eines Rechtsdiskurses machen. Ich verweise auf den langen Streit über den Begriff der Menschenrechte und das Tauziehen um das Recht auf Entwicklung.

Wie im Zwischenspiel über Engel und Teufel erwähnt, bleibt es jedoch nicht bei der reinen Kostenkalkulation. Vielmehr ergeben sich aus den Rechtsnormen auch Standards der Angemessenheit, die ihrerseits das Verhalten beeinflussen. In diesem Sinne erleben wir heute keineswegs eine fortschreitende Marginalisierung des Völkerrechts, sondern eine Intensivierung des Kampfes darum, was im Sinne dieses Rechts als angemessen gilt. In diesem Licht ist auch die Debatte über das Recht oder die Pflicht zur humanitären Intervention zu sehen. Hier stehen demokratietheoretische Erwägungen, der internationale Schutz der Menschenrechte und Herrschaftsinteressen gegeneinander. Dieses Spannungsverhältnis kann weder durch eine nassforsche Relativierung noch durch eine kategorische Verabsolutierung des Interventionsverbots gelöst werden. Vorerst kann hier nur die strikte Bindung von Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte an die Regeln der kollektiven Friedenssicherung nach Kapitel VII UN-Charta für einen halbwegs konstruktiven Umgang mit der Problematik sorgen.

Die Herausbildung von Standards der Angemessenheit wird wie oben festgestellt durch eine "gute Verfassung" gestärkt. Gibt es so etwas auch auf internationaler Ebene? Und wäre das überhaupt erstrebenswert? Dazu sei hier nur in aller Flüchtigkeit folgendes angemerkt: Betrachtet man die Volkssouveränität als Kern demokratischer Selbstbestimmung, wie Ingeborg Maus das tut, so ist jede über den Staat hinausgreifende Verfassung abzulehnen. Regelungen der internationalen Beziehungen müssen dann auf zwischenstaatliche Verträge beschränkt bleiben, die der Oberhoheit der Parlamente unterworfen sind. Es ist jedoch zu fragen, ob das ausreichen kann, um die materiellen Einschränkungen demokratischer Selbstbestimmung aufzufangen, die mit der globalen Verflechtung aller Lebensverhältnisse einhergehen. Auch hier gilt, dass demokratische Selbstbestimmung, also Autonomie, in einer materiell verflochtenen Welt nur im Rahmen der Selbstbindung möglich ist. Und zur Stärkung dieser Selbstbindung reicht die Vernunft der einzelnen Staaten - auch der Demokratien - offenbar nicht aus. Mit Kant und nicht notwendigerweise gegen ihn müsste man hier auf den erzieherischen Effekt einer guten Verfassung setzen, die dazu beiträgt, der Vernunft auf die Sprünge zu helfen. In diesem Sinne bedarf es internationaler Normen, die der autonomen Verfügungsgewalt der Einzelstaaten entzogen sind, gleichwohl aber nicht als Einschränkung demokratischer Selbstbestimmung gelten müssten, sondern als die Voraussetzung für die Ausübung demokratischer Selbstbestimmung in einer verflochtenen Welt.

V. Schritt für Schritt: Ordnungsruf gegen Depression

Was folgt daraus für die Einschätzung der Entwicklung seit Ende des Ost-West-Konflikts und insbesondere der Politik der USA?

In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 nehmen die Vereinigten Staaten für sich das Recht auf eine vorbeugende Kriegführung in Anspruch. Die Entscheidung zum Krieg gegen den Irak wurde aber nicht mit diesem "Recht" begründet. Vielmehr berief sich die amerikanische Regierung zusammen mit der britischen (und der australischen) auf die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates und argumentierte, dass deren Nichterfüllung durch den Irak einen Rechtsgrund für militärische Zwangsmaßnahmen liefere. Wie erwähnt war genau dieses Verhalten bereits bei der Wiederaufnahme der Bombardements im Dezember 1998 praktiziert worden. Die USA stellten sich also nicht außerhalb des Völkerrechts oder die UNO, sondern beriefen sich auf UN-Resolutionen. Man mag das als zynischen Versuch zur Manipulation des Rechts sehen. Andererseits verweist der Manipulationsversuch auf die Bedeutung, die dem Recht im Sinne der eben vorgeführten Argumentation zugewiesen wird, auch von den USA. Die USA haben dem Völkerrecht keineswegs den Rücken zugekehrt, sondern versuchen, ihm ihren Stempel aufzudrücken.

Diese Feststellung mag nun ihrerseits als zynisches Argument betrachtet werden. Aber erstens hat der Versuch der USA und Großbritanniens, die ausdrückliche Zustimmung der UNO für den Krieg gegen Irak zu erlangen, den Sicherheitsrat und damit die Frage der Legitimation von Gewalt in einer präzedenzlosen Weise in den Mittelpunkt der Weltpolitik gerückt. Und zweitens dürfte eben dies ein Grund dafür sein, dass die USA sich auf die Resolution 1483 vom 22. Mai 2003 eingelassen haben, die die Rechte und Pflichten der Besatzungsmächte im Irak und den Modus der Transformation detailliert regelt.

Nun muss aber die Irak-Politik im Rahmen der Gesamtpolitik der USA gesehen werden. Diese scheint darauf abzuzielen,
  • sich zwar auf das Völkerrecht zu berufen, den Selbstbindungseffekt an das Völkerrecht aber so gering wie möglich zu halten,
  • in diesem Sinne zwar einschlägige UNO-Resolutionen mitzutragen, für sich aber das Recht auf eine eigenständige Interpretation ihrer Folgewirkungen in Anspruch zu nehmen;
  • das Recht auf Selbstverteidigung gegenüber Maßnahmen der kollektiven Friedenssicherung aufzuwerten, ohne sich dabei aber den Restriktionen des Art. 51 zu unterwerfen;
  • unter Berufung auf die besondere Verantwortung als einzig verbliebene Supermacht in der Tendenz für sich eine Sonderposition im Völkerrecht anzustreben, gleichzeitig aber als Hüter des Völkerrechts anerkannt zu werden (Byers Siehe US Exceptionalism/Erlöser-Nation J. Moltmann in Friedenswarte)
Es gibt also allen Anlass, der Handhabung des Völkerrechts durch die gegenwärtige US-Regierung entschieden entgegenzutreten und sich mit den USA auf einen Kampf um das Völkerrecht einzulassen.

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die gegenwärtige Machtposition der USA und die Politik der Bush-Administration nur die eine Seite des Problems darstellen. Die andere besteht in den neuen Herausforderungen, mit denen sich jeder Versuch einer rechtlichen Einhegung der Gewalt heute unabhängig von der US-Position auseinandersetzen muss. Es geht also um mehr als um die Einhegung US-amerikanischer Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Es geht um wirkungsvolle Alternativen im Umgang mit den innerstaatlichen Kriegen der Gegenwart, mit den internationalen Gewaltmärkten, über die sie sich reproduzieren, und mit dem transnationalen Terrorismus, der die düstere Seite der post-nationalen Konstellation hervorkehrt.

Die Auseinandersetzung mit den USA, zielt also nicht nur darauf, US-amerikanischer Imperialbestrebungen als solche einzudämmen, sondern auch und gerade in diesem Kontext darauf, das Völkerrecht weiterzuentwickeln.

Damit sind wir bei der Einschätzung der Gesamtentwicklung seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Positiv ist hier anzumerken, dass die Ausdifferenzierung des Völkerrechts insbesondere mit Blick auf die Menschenrechte und deren internationalen Schutz erhebliche Fortschritte gemacht hat. Die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes stellt hier einen Meilenstein in einer langfristige Entwicklung dar, die von Einzelregierungen aufgehalten, aber wohl nicht mehr zum Stillstand gebracht werden kann. Grundlegende Fragen bleiben jedoch ungeklärt. Einerseits erscheint es unerlässlich, den Status von Souveränität neu zu überdenken soweit die Berufung auf die nationale Souveränität einer Abschirmung von Menschenrechtsverletzungen dient. Andererseits besteht hier ein berechtigtes Misstrauen auf seiten der (potentiell) betroffenen Länder gegenüber den potentiellen Interventen. Hinzu kommt, dass der internationale Schutz der Menschenrechte auch Fragen demokratischer Selbstbestimmung aufwirft, deren Klärung trotz einer nun schon recht langen Debatte über Demokratie jenseits des Nationalstaates aussteht.

Wie oben angesprochen, vollzieht sich der Wandel von Staatlichkeit heute z.T. als Delegation staatlicher Gewalt (fälschlich Privatisierung genannt) und als Entrechtlichung der Terrorismusverfolgung. Auch das wirft gravierende Probleme für die Demokratie auf. Unsere Amerikanische Kollegin Anne Marie Slaughter fordert eine Offensive zur Durchsetzung westlich-liberaler Rechtsvorstellungen auf globaler Ebene. Dafür mag es gute Gründe geben. Zur Zeit wäre aber ebenso eine innerwestliche Offensive geboten, die darauf gerichtet ist, rechtsstaatliche Verfahrensweisen und demokratischer Partizipation im Zeichen neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen zu wahren und zu gewährleisten.

In diesem Zusammenhang noch ein Wort zur Entwicklungspolitik. Sie glaubt, dass sie sich heute als Sicherheitspolitik verkaufen muss, um ernst genommen zu werden. Diese Art von politischer Vermarktungsstrategie ist in der gegenwärtigen Stimmungslage offenbar naheliegend. Aber die Entwicklungspolitik läuft Gefahr, ins Schlepptau der militärischen Selbstverteidigung am Hindukush oder sonst wo zu geraten statt Alternativen zur militärgestützten Politik zu praktizieren. Die Entwicklungspolitik droht hier in eine Sicherheitsfalle zu tappen, in der sie eher Ressourcen und Spielraum für eine eigenständige Politik verliert als hinzugewinnt. Um Gertrude Stein zu zitieren: Entwicklungspolitik ist Entwicklungspolitik ist Entwicklungspolitik Im Übrigen sollte die Entwicklungspolitik daran Anstoß nehmen, dass man über Gerechtigkeit heute nur noch in Verbindung mit dem gerechten Krieg zu sprechen scheint, statt sich diesem Trend durch die eigene Versicherheitlichung noch Auftrieb zu geben.

Ich komme zum Schluss.

Die Aura der Unverfügbarkeit oder der Widerständigkeit, die das Recht umgibt, ist nur ein unstetes Flackern. Es gilt das Recht zu verteidigen, aber ohne es einzubetonnieren. Warum das wichtig ist und nicht ganz aussichtslos, habe ich zu begründen versucht. Der Terrorismus und der Kampf gegen ihn begünstigen die Entrechtlichung des Umgangs mit der Gewalt auf inner- wie auf zwischenstaatlicher Ebene. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, die im Rahmen der Vereinten Nationen bestehenden Ansätze zur Etablierung einer Weltrechtsordnung zu stärken und weiterzuentwickeln. Ob das gelingt, ist ungewiss. Kants Perspektive ist die einer ins Unendliche reichenden Annäherung. Mit Uwe Wesel könnte man auf die Neigung der Geschichte setzen, sich ab und zu in die richtige Richtung zu entwickeln. In diesem Sinne sind enttäuschungsfeste Konzepte der Friedenssicherung anzustreben.

Unbedarfter Fortschrittsglaube hilft nicht weiter, im Gegenteil, er kann leicht in eine verhängnisvolle Sehnsucht nach Erlösung umkippen. Von daher ist Skepsis gegenüber der Idee des Friedens durch Recht angebracht. Diese Skepsis muss aber nicht zu der Einsicht gesteigert werden, dass Fortschritt nur darin besteht, seine Unmöglichkeit anzuerkennen. "Schritt für Schritt nirgendwo hin", heißt es bei Samuel Beckett. Eine solche Beschwörung des Fortschreitens im Fortschrittlosen führt unvermeidlich in die Depression. Um das zu vermeiden, sollten wir es bei einer gesundheitsdienlichen Skepsis belassen.

Das heißt, dass jeder Kampf um das Recht in dem Bewusstsein zu führen ist, dass er neues Unrecht schafft, aber nicht mit der Folge, dass er aufgegeben werden müsste.

* Lothar Brock, 1939 geboren, Studium der Politikwissenschaft, des Öffentlichen Rechts und der Neueren Geschichte in Saarbrücken und Berlin (FU). Nach zweijähriger Arbeit bei der Organisation Amerikanischer Staaten in Washington, D.C., und einer Assistenten- und Dozententätigkeit an der FU Berlin und der TU Braunschweig seit 1979 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der Universität Frankfurt und Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
Studien- und Forschungsaufenthalte in den USA, Mexiko, Indien, Peru und Brasilien. Langjähriger Leiter der Kammer der EKD für Entwicklung und Umwelt. Arbeitsschwerpunkt: Nord-Süd-Beziehungen, Entwicklungspolitik und Friedenstheorien.



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