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Wann heilt die Strahlungswunde Tschernobyl?

Der Unglücksreaktor soll einen neuen Schutzmantel bekommen

Von Prof. Dr. sc. Alexander Borowoi*

Tschernobyl – auch 20 Jahre danach ist diese Strahlungswunde noch immer nicht vernarbt. Nach wie vor stehen tausende von Quadratkilometern in der Ukraine, Weißrussland und Russland leer. Dieses Territorium ist für Leben und Wirtschaft weiterhin nicht brauchbar. Zehntausende von Menschen, die von der Strahlungsgefahr aus ihren Häusern geflüchtet waren, können immer noch nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine ist noch nicht alles in Ordnung. Für den unseligen Reaktorwrack soll ein neuer Sarkophag gebaut werden. Erst dann wird die Tschernobyler Wunde zusammenziehen können. Wir Physiker aus dem „Kurtschatow“-Institut reisen schon seit 20 Jahren aus Moskau nach Tschernobyl und befassen uns gemeinsam mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen mit der Sicherheit der atomaren Zeitbombe.

Vor einigen Jahren wurde der Schutzmantel frisch gestrichen. Lebensfreude strahlt aber der Sarkophag dadurch nicht aus. Jedes Mal, wenn ich mich ihm nähere, wird es mir unbehaglich zumute. Es handelt sich um ein r-förmiges Bauwerk aus Stahl und Beton so hoch wie ein 20-stöckiges Haus, das auf einer Fläche von 200 x 200 Meter steht. Die absolute Dunkelheit drinnen verbirgt rund ein Tausend teilweise völlig zerstörter Räume.

In vielen dieser Räume steckt der tödliche nukleare Brennstoff, der von der Explosion aus dem Reaktor rausgeworfen wurde. Unter der Hülle befinden sich rund 180 Tonnen davon, was 17 Millionen Curie entspricht. Und sie können mit dem radioaktiven Brennstoffstaub außerhalb der Hülle gelangen. Er wird oft auch „Plutoniumstaub“ genannt, weil er unter anderen Radionukliden auch Plutoniumisotope enthält, deren Zerfall Jahrtausende dauern kann. Nach dem GAU ging der Staub auf den Fußboden der Räume nieder, er bedeckte die zerstörten Konstruktionen und drang in die Wände und Decken ein. Ein Teil davon hängt als Aerosole in der Luft. Stürzen die Deckenkonstruktionen der Schutzhülle ein, könnte der Staub hinausgeworfen werden.

Um zu verstehen, warum es zum Einsturz kommen könnte, muss man sich an die Mai-Tage 1986 erinnern, als eine sowjetische Regierungskommission beschloss, dass der zerstörte Block innerhalb kürzester Zeit und um jeden Preis isoliert werden muss.

Man wählte zwischen zwei Möglichkeiten, einen riesigen, hermetischen und dickwandigen Hangar zu bauen, der die Reaktorruine völlig zudecken würde; oder aber die erhalten gebliebenen Stützen des Blocks zu nutzen und Querbalken darauf zu legen. Auf den Querbalken sollte ein Dach aus Metallrohren und -blech befestigt werden. Auf der westlichen und der nördlichen Seite sollten dann Seitenwände aus Stahl und Beton entstehen.

Wie Expertenschätzungen zeigten, war die erste Variante viel geld- und zeitaufwändiger. Deshalb wurde der zweite Weg gewählt. Dank der selbstlosen und hochprofessionellen Arbeit von mehreren Zehntausenden Menschen wurde die kolossale Nothülle innerhalb einer unglaublich kurzen Frist von einem halben Jahr gebaut.

Zugleich musste aber in Kauf genommen werden, dass die alten Stützenkonstruktionen nicht absolut zuverlässig waren: Immerhin hatten sie die Explosion und den Brand überstanden. Ihre wirkliche Festigkeit konnte wegen der gewaltigen Strahlungsfelder nicht überprüft werden. Informationen darüber wurden ausschließlich von Fotos gewonnen, die von einem Hubschrauber aus gemacht wurden. Sollte sich eine mürbe Stütze (etwa infolge eines Erdbebens) verschieben, träte ein „Domino-Effekt“ ein, weil auch die anderen Konstruktionen leicht zusammenstürzen könnten. Der Sarkophag wird zusammenklappen, die Todeswolke aus radioaktivem Staub gelangt in die Umwelt.

Russische, ukrainische und deutsche Physiker haben versucht, die Folgen des Einsturzes zu berechnen, und kamen dabei zu ähnlichen Ergebnissen. Die Menschen, die im Kernkraftwerk Tschernobyl tätig sind, würden dabei recht ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen (das Kernkraftwerk ist zwar längst geschlossen, die Beseitigung der Folgen wurde aber für keinen Augenblick gestoppt). Danach wird sich der radioaktive Staub im Umkreis von drei Kilometern absetzen - allerdings nur wenn der Wind die übliche Stärke von einigen Metern pro Sekunde haben wird. Die Tatsache, dass Orkane in dieser Gegend äußerst selten vorkommen, gibt Anlass zu einer solchen Hoffnung.

Der Sarkophag birgt Gefahr, die im Laufe von Jahren zunehmen wird. Das Problem liegt am Wasser. Angesichts der hohen Strahlung konnte die Hülle nicht völlig hermetisch gemacht werden. Jedes Jahr gelangten bis zu 2.000 Kubikmeter Regen- und Tauwasser durch die Ritze unter die Hülle. Das Wasser hat die Konstruktionen zerstört, den Brennstoff verwässert, und es könnte sogar, sollte sich die pessimistischste Prognose bewahrheiten, eine unlenkbare Steuerreaktion auslösen.

Mein Chef S.Beljajew und ich haben noch 1989 dem sowjetischen Atomminister vorgeschlagen, auf die erste Variante zurückzukommen und den löchrigen Sarkophag durch eine zweite Hülle einzukapseln. Diese sollte absolut hermetisch sein, kein Wasser hinein- sowie keinen Staub hinauslassen und selbstverständlich die Menschen schützen, die dort arbeiten. Eine solche Hülle würde die Möglichkeit bieten, den zerstörten Meiler ohne Hast und mit maximalen Sicherheitsvorkehrungen zu demontieren und die Spaltstoffe zu entsorgen.

Der Vorschlag wurde heftig debattiert und im Endeffekt angenommen. Seit 1990 wurden diverse Entwürfe für den Sarkophag-2 konzipiert. Aber 1991 fiel die Sowjetunion auseinander, die Ukraine wurde ein selbständiger Staat. Die Sarkophag-2-Idee wurde zwar von der ukrainischen Regierung gebilligt, ihre Realisierung erforderte aber gigantische technische und finanzielle Ressourcen, über die das Land nicht verfügte.

Der Gründung eines Tschernobyl-Sonderfonds für den Bau des Sarkophags ging ein langes Tauziehen voraus. Es galt, die Zustimmung einiger westlicher Länder zur Bereitstellung der Gelder für den Fonds (heute geht es um eine Milliarde Dollar) einzuholen. Die prinzipielle Vereinbarung zum Fonds wurde 1996 erzielt.

Auf der Grundlage langjähriger Untersuchungen und Vorschläge russischer und ukrainischer Fachleute wurde der Shelter Implementation Plan (SIP) - ein Plan für die Arbeit auf dem Objekt „Ukrytije-2“ (die 2. Hülle) - zusammengestellt. Der Plan sah einige Hauptschritte vor: Fortsetzung der Untersuchungen; Befestigung der besonders bedrohten Konstruktionen des Sarkophags und deren Stabilisierung für zehn bis 15 Jahre, solange an „Ukrytije-2“ gebaut wird; Herstellung der 2. Hülle; Demontage der Reste des zerstörten Reaktors, deren Abtransport und Entsorgung unter dem Schutz dieser Hülle.

Seit dem Beginn der realen Verwirklichung sind acht Jahre vergangen. Die Leistung der ersten Jahre war nicht besonders beeindruckend, obgleich Dutzende von Dollarmillionen ausgegeben und tausende Seiten von Berichten verfasst wurden, die nichts Neues enthielten. All das rief bei der ukrainischen Landesführung, beim Tschernobyl-Fonds und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, der die Mittel des Fonds verwaltet, Besorgnis hervor.

Dank den eingeleiteten Maßnahmen ändert sich jetzt die Situation zum Besseren. Etwa die Hälfte der Arbeit, deren Ziel in der Stabilisierung der Sarkophag-Konstruktionen besteht, ist ausgeführt. Täglich sind hunderte Arbeiter auf der Baustelle tätig. Dosimetristen und Mediziner passen auf die Sicherheit auf. Das System der Beobachtung der Brennstoffe, die innerhalb der Räume geblieben sind, wird demnächst fertig gestellt. Demnächst soll die Projektierung der neuen Hülle, „Ukrytije-2“, beginnen, der die Bau- und Montagearbeiten folgen sollen. Gemäß einer moderat optimistischen Prognose könnte diese Arbeit innerhalb von drei bis vier Jahren abgeschlossen sein. Über dem alten Gebäude wird ein riesiger Bogen entstehen, der dann von den Seiten zugebaut wird. Diese neue Hülle wird mindestens ein Jahrhundert dienen können.

* Prof. Dr. sc. Alexander Borowoi, Russisches Forschungszentrums "Kurtschatow"-Institut; ordentliches Mitglied der New Yorker Wissenschaftsakademie und IAEO-Experte für Strahlungshavarien; das Kurtschatow-Institut war Zentralhirn der sowjetischen Atomindustrie und nimmt weiterhin deinen führenden Platz im Forschungsbereich ein.

Der Artikel wurde uns von der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zur Verfügung gestellt.
Website von RIA Nowosti: http://de.rian.ru/



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