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Gigantische Fabrik Ozean

Schon Jules Michelet forderte einen Kodex – im 19. Jahrhundert

Von Hermannus Pfeiffer *

Lohnt sich die Mühe, ein voluminöses Buch zu lesen, welches erstmals im warmen Januar des Jahres 1861 in den Schaukästen an den Pariser Boulevards auslag? Lohnt sich die Mühe heute noch, nach weit mehr als einem Jahrhundert und nach zwei Weltkriegen? Wenn es dabei um das schillernde »La mer« von Jules Michelet geht, kann die Antwort nur »ja« lauten. Globalisierung, die materielle und kulturelle Armut vieler Menschen, der Umgang mit unserer Umwelt, die wir längst der Natur entrissen haben oder die »Klimakatastrophe«, dieses Unwort der Alarmisten von der Öko-Front, zu all diesem und zu vielem mehr findet der französische Historiker nachhallende Worte.

Die »Erde« wird zu drei Vierteln von (Salz-)Wasser bedeckt, die Kontinente schwimmen in Ozeanen und die Halbinsel Europa wird von den Fluten des Atlantiks, der Ostsee und des Mittelmeeres umspült. Unbekannte Wassermassen, kaum ausgelotet, kilometertief und am Boden voller Rohstoff-Rauschen. Bislang erntet die Menschheit nur wenige Früchte des Meeres, aber in der gewaltigen Schatztruhe verbergen sich Rohstoffe, Energie und Wirkstoffe für Jahrtausende und auch die Chance, dem Reizgas Kohlendioxid Herr zu werden. In Europa lebt jeder dritte Bürger in Küstennähe, weltweit sogar jeder zweite, mit steigender Tendenz seit Michelets Zeiten. Die Menschheit versammelt sich, wenn wir der »Geografischen Rundschau« folgen, um die wenigen großen Seehäfen, den Bahnhöfen der Globalisierung. Zudem wohnt und arbeitet ein Großteil der übrigen Weltbevölkerung in der Nähe eines Flusses, der das Süßwasser dahin zurückträgt, wo es herkommt – aus dem salzigen Meer. Eine angemessene Diskussion über die ökonomischen und ökologischen Folgen der Globalisierung ist also unmöglich, ohne das Meer, drei Viertel der Erde, zu bedenken.

Vor diesem Hintergrund ist der in Frankreich geschätzte Michelet für das maritime Verständnis und damit für das Verständnis der Welt so nützlich wie Adam Smith und Karl Marx für die Ökonomie im Allgemeinen oder Niccolò Machiavelli und Baron de Montesquieu für die Politikwissenschaft. Michelet reist mit uns durch das gigantische Naturphänomen, diskutiert biologische und geographische Aspekte, schaudert vor der bedrohlichen Naturgewalt, ruht am sonnigen Strand und schätzt das Meer als Nahrungslieferant und Wirtschaftsfaktor.

Ich will »den Schluss« des Epos dem Leser nicht verraten, ziehe es vor, von der »Handlung« und den Abenteuern, die Michelets Helden durchleiden, zu schweigen. Seine Reiseeindrücke zusammen fassend, beklagt der Historiker den »Krieg gegen die Rassen des Meeres« und zeigt sich verwundert, »den Menschen so ungeschickt zu sehen bei der Eroberung« – von Walen und Fischen, von Territorien und Völkern. »Dem Erdball gegenüber verhielt sich der Mensch wie ein unerfahrener, angehender Musiker vor einer riesenhaften Orgel, der er kaum ein paar Töne entlockt. Er wusste dem heiligen Instrument lediglich die Tasten zu zerbrechen.« Eine Antwort, die 2007 angesichts der Ausrottung der Wale oder der Luftverschmutzung durch das giftige Schweröl der Containerriesen auf den Meeresautobahnen genau so aktuell ist, wie sie es bereits 1861 war, als die Wale von den Jägern ins nordische Eismeer vertrieben wurden und die industriellen, stählernen Dampfer und schwimmende Fischfabriken die hölzernen Segelschiffe, Fischkutter und Millionen handwerklicher Arbeitsplätze versenkten. Und das Ungeschick der Menschen, von dem Michelet ausführlich berichtet, lässt sich leicht wiederfinden in den Klimakonferenzen unserer Tage oder auf dem G8-Gipfel im weißen Heiligendamm an der Küste der überfischten, verschmutzten, zunehmend industriell ausgenutzten Ostsee.

Michelet kritisiert den Absolutismus von (heutigen) Umwelt- und Naturschützern, mit dem erzählerischen und von Rolf Wintermeyer angenehm übertragenen Pathos, der dem Vorläufer der französischen Nouvelle Histoire manchmal zu eigen ist. Der Schriftsteller lobt den »Wagemut und das Genie, mit dem der Mensch die Meere eroberte und seinen Planeten sich untertan machte« – oder es tun sollte, in aller Demut selbstverständlich. »Man kann den Ozean zu einer gewaltigen Lebensmittelfabrik, zu einem produktiveren Nahrungslaboratorium als die Erde selbst machen. Alles, die Meere, die Ströme, die Flüsse, die Teiche ertragreich zu machen, darum geht es. Bis jetzt baute man nur die Erde an, und nun ist die Zeit gekommen, die Wasser zu bestellen.« Wohlgemerkt, bei vollem Respekt für das Kulturgut Natur und die Kreatur. »Das Meer, welches das Leben auf diesem Erdball begann, wäre noch immer seine wohltätige Amme, wüßte der Mensch nur die in ihm herrschende Ordnung zu respektieren, anstatt sie zu gefährden.«

Michelet glaubt nicht an einen Dualismus, in dem sich Ökonomie und Ökologie gegenseitig ausschließen, sondern an Dialektik und an Politik. Er fordert einen »Kodex der Nationen«, in dem die großen Nationen die »chaotischen Zustände« beenden und auf einen »Zustand der Zivilisation« setzen. Europa kann dazu seinen Beitrag leisten. Bis Ende des Jahres wird das 56-seitige Grünbuch »Meerespolitik« in allen EU-Staaten diskutiert. Danach will die EU-Kommission eine Endfassung vorlegen und eine Richtlinie zum Schutz des maritimen Lebensraumes durchsetzen. Hoffentlich mit Michelet in Hinterkopf und Herzen.

Jules Michelet: Das Meer. Campus Verlag, Frankfurt (Main). 357 S., geb., 19,90 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Dezember 2007


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