Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Stellungnahme "Zur ökologischen Transformation"

Von Gert Blumenthal und Dietrich Spänkuch, Leibniz-Sozietät

Am 15. September 2004 erhielten wir von Mitglieder der "Leibniz-Sozietät"* eine Stellungnahme zugeschickt zu "aktuellen Problemen der ökologischen Transformation". Die Kollegen schrieben: "Da es sich um existentielle Fragen der Gegenwart handelt, rufen wir alle Bürger auf, sich an unserer Homepage-Debatte zu beteiligen. Machen Sie bitte auch Freunde und Bekannte auf unsere ‚Stellungnahme' aufmerksam.
Die Stellungnahme und das freundliche Angebot sich an der Debatte zu beteiligen, erschien uns so interessant, dass wir diese Aufforderung gern an die Besucher/innen unserer Homepage weitergeben.

* Die Leibniz-Sozietät ist eine freie Vereinigung von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftlern. Sie steht in der Tradition der von Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahre 1700 gegründeten Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften, mit der sie historisch durch die über Jahrhunderte ununterbrochene Auswahl ihrer Mitglieder und deren wissenschaftliches Wirken verknüpft ist.
Homepage: www.leibniz-sozietaet.de



Vorbemerkung

Die Autoren, Mitglieder der Leibniz-Sozietät, unterbreiten der Öffentlichkeit folgende Stellungnahme.
Zu dem vorliegenden Text haben konstruktiv beigetragen die Herren Ralph Lucke, Gerhard Öhlmann, Klaus Steinitz (alle Mitglieder der Leibniz-Sozietät) sowie der Vorstandsvorsitzende der Fördergesellschaft Erneuerbare Energien e.V. (FEE), Herr Eberhard Oettel. Bisher haben sich 46 Mitglieder der Leibniz-Sozietät, z.T. mit Änderungsvorschlägen, die meist berücksichtigt wurden, an der Sozietäts-internen Aussprache beteiligt. Allen Diskussionspartnern sei für ihr Interesse und ihre Mitarbeit gedankt.

Das Präsidium der Leibniz-Sozietät beriet über diese Stellungnahme und empfahl am 9. September 2004 deren Veröffentlichung als Herausforderung zur weiteren Diskussion um kontroverse Auffassungen zu existentiellen Fragen innerhalb und außerhalb der Leibniz-Sozietät.

Beteiligen Sie sich bitte an der Diskussion auf unserer Homepage www.leibniz-sozietaet.de!
Zu diesem Zweck senden Sie bitte Ihre E-Mails gleichzeitig an die Adressen
debatte@leibniz-sozietaet.de und gertblumenthal@arcor.de

All diejenigen, die mit Geist und Ziel dieser Stellungnahme einverstanden sind, bitten wir zuzustimmen, daß sie in beabsichtigten Veröffentlichungen dieser Stellungnahme als "Unterzeichner" benannt werden. Teilen Sie bitte diese Ihre Genehmigung mit, indem Sie uns mindestens Ihren Titel, Namen, Vornamen, Wohn- oder Arbeitsort zusenden.

Es ist vorgesehen, nach einem gewissen Endstand der Diskussion die Stellungnahme mit den Namen der Unterzeichner in einem Band der traditionsreichen "Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät" zu publizieren.

Mit Sorge beobachten die Unterzeichner dieser Stellungnahme, wie die in den letzten Jahren unter großen Mühen erreichten Fortschritte zur Sicherung einer globalen ökologischen Stabilität in zunehmendem Maße kurzsichtigen Wirtschaftsinteressen geopfert werden sollen, wodurch die notwendige Fortsetzung der ökologischen Transformation der Gesellschaft auch in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa ernsthaft bedroht ist.

Wir, die Unterzeichner dieser Stellungnahme, Wissenschaftler der Leibniz-Sozietät und anderer Institutionen wie auch ökologisch interessierte Bürger allgemein, wenden uns, im Bewusstsein unserer gesellschaftlichen Verantwortung, an die Öffentlichkeit, um damit Bestrebungen und Aktionen entgegenzutreten, die verstärkt mit unseriösen Methoden und unter Ignorierung wissenschaftlicher Ergebnisse wie praktischer Erfolge den weiteren zielstrebigen Ausbau der Erneuerbaren Energien zu behindern trachten. Beispiele dafür sind der SPIEGEL-Artikel gegen die Windenergie,[1] das Auftreten des Wirtschaftsministers gegen den Umweltminister, die Obstruktion bestimmter Energieversorgungsunternehmen gegen die Einspeisevergütung, die Praktizierung von Anschlußverweigerungen und Netzentgelt-Erhöhungen durch einige Netzbetreiber u.a.m.

Wir sind davon überzeugt, daß wir mit unserem Engagement im Sinne des Leitmotivs "Theoria cum praxi" des Begründers der Sozietät, Gottfried Wilhelm Leibniz, handeln.

Die Unterzeichner gehen von folgenden Thesen aus:

Die Transformation zu einer ökologischen Energie- und Stoffwirtschaft

Die menschliche Gesellschaft steht vor einer ihrer folgenschwersten Entscheidungen:

Sie muß im globalen Maßstab in historisch kurzer Frist den Übergang zu einem neuen Typ der Energie- und Stoffwirtschaft vollziehen. Diese Wirtschaft muß nachhaltig [2]sein, um den jetzt Lebenden wie auch den kommenden Generationen eine Sicherung der Grundbedürfnisse und ein Leben in Frieden, Gleichberechtigung, Würde und Gesundheit zu ermöglichen.

Dieser Übergang bedeutet einen tiefen Einschnitt in das Leben und Denken der Gesellschaft, er wird alles verändern, Produktions-, Konsumtions- und Lebensweise und trägt alle Züge einer Revolution.[3] Bereits 1972 leistete der Club of Rome in seinem ersten Bericht eine wichtige Vorarbeit hierzu.[4] Die Transformation zu einer neuen Energie- und Stoffwirtschaft stellt die größte Herausforderung für die Menschheit in diesem Jahrhundert dar und ist zugleich eine große Chance für den Übergang auf einen Pfad nachhaltiger Entwicklung, für die Gestaltung einer menschenwürdigen und zukunftsfähigen Gesellschaft.

Der Kampf um den Zugriff auf Erdöl- und Erdgasvorkommen war in der Vergangenheit und ist gegenwärtig eine der Hauptkriegsursachen, und er wird in Zukunft das Wohlergehen von immer mehr Völkern, ja sogar die Sicherheit ganzer globaler Regionen in Frage stellen. Insofern ist die Politik zur Etablierung und Verbreitung von Regenerativenergien Friedenspolitik.

Die objektiven Zwänge für die Transformation

Die Entscheidung zu dieser Transformation ist unumgänglich und dringlich. Dafür sprechen folgende Gründe:
  • Es besteht die Gefahr, daß der auf der Basis fossil-nuklearer Energieversorgung immer weiter wachsende anthropogene Energieumsatz und die damit verbundenen Stoffumsätze die Biosphäre irreversibel schädigen und das Klimasystem destabilisieren.[5]
  • Immer offensichtlicher werden die Gefahren für das Leben durch die Abfälle der Zivilisation, das sind in erster Linie die Treibhausgase Kohlenstoffdioxid und Methan,[6] darüber hinaus aber auch eine schnell wachsende Anzahl chemischer Produkte (deren akute, Langzeit- und Kombinationswirkungen auf die Biosphäre schon längst nicht mehr beherrscht werden), der steigende Umfang gesundheits- und umweltschädlicher Schwermetallverbindungen wie auch die radioaktiven Belastungen aus der Kernenergie-Technik.
  • In absehbarer Zeit, innerhalb weniger Generationen, werden nicht nur fossile Kohlenstoff-Ressourcen, zunächst Erdöl und Erdgas, sondern auch Uranerz (zu jetzigen Konditionen) wegen Erschöpfung der Vorkommen nicht mehr zur Verfügung stehen.[7]


Je länger der Übergang in Richtung auf das "ökologische Zeitalter" hinausgeschoben wird, desto höher wird der Aufwand sein, den die Gesellschaft für diesen unvermeidlichen Prozeß wie auch für die Sanierung der durch die konventionelle Technik geschädigten Umwelt einmal leisten muß. Je länger noch "business as usual", desto umfassender die irreparablen Schäden.[8]



Weltdaten

Bevölkerung (Weltgröße 1998 absolut: 5,9 Md.):
Industrieländer: 24 %,
Nichtindustrieländer: 76 %, nach Entwicklungsstand:
  • hoch: 9 %
  • mittel: 35 %
  • schwach: 32 %

BIP (Weltgröße 1998 absolut: 32 Bill. US-Dollar):
Industrieländer: 80 %,
Nichtindustrieländer: 20 %, nach Entwicklungsstand:
  • hoch: 11 %
  • mittel: 8 %
  • schwach: 1 %

Primärenergieverbrauch (Weltgröße 1998 absolut: 410 EJ):
Industrieländer: 66 %,
Nichtindustrieländer: 34 %, nach Entwicklungsstand:
  • hoch: 11 %
  • mittel: 19 %
  • schwach: 4 %

CO2-Emission (Weltgröße 1998 absolut: 23,1 Mrd. t):
Industrieländer: 65 %,
Nichtindustrieländer: 35 %, nach Entwicklungsstand:
  • hoch: 10 %
  • mittel: 20 %
  • schwach: 5 %




Die Instrumente der Transformation

Solidarität und Lebensweise

Ein großer, weiter wachsender Anteil der Weltbevölkerung lebt unter menschenunwürdigen Bedingungen. Etwa 2 Milliarden Menschen haben noch immer keinen Zugang zu Elektroenergie, 1,4 Milliarden leiden unter Trinkwassermangel, und in vielen Ländern gibt es keine hinreichende Gesundheitsversorgung. Diese ständig den Weltfrieden bedrohende Zweiteilung unserer Welt geht eindrucksvoll aus den Zahlen der Tab. "Weltdaten"[9] hervor.

Der Kampf der Betroffenen für ihre Befreiung aus der Armut, für ein gleichberechtigtes Leben in Würde für sich und ihre Kinder ist zutiefst berechtigt und eine elementare, auf Dauer nicht niederzuhaltende Kraft, deren Wirkungen das Leben in immer weiteren Gebieten der Erde prägt.

Es ist aus sachlichen und ethischen Gründen unmöglich, die in den Industrieländern vorherrschende Lebensweise mit ihren z.T. zerstörerischen Konsequenzen, ihrer Philosophie des "ewigen Wachstums" und der Leugnung natürlicher Grenzen, als Vorbild für die gesamte Erdbevölkerung darzustellen und global zu verbreiten. Würde die heutige Erdbevölkerung den spezifischen Ressourcenverbrauch der Nordamerikaner annehmen, benötigte die Menschheit drei Planeten Erde.[10] Um den Entwicklungsländern zur Verringerung ihres ökonomischen Abstands zu den Industrieländern ein höheres Wachstum zu ermöglichen, müssen diese ihren absoluten Ressourcenverbrauch und die davon ausgehende Umweltbelastung in den nächsten fünfzig Jahren um ein Mehrfaches reduzieren.

Deshalb müssen vor allem in den Industrieländern Wege zu einer zukunftsfähigen Lebensweise energisch eröffnet und beschritten werden, in der aktive Solidarität mit allen in Armut Lebenden, mit allen Unterdrückten und Entrechteten ein Grundbedürfnis ist.

In Ländern der Armut, des Hungers und der Unterdrückung die ökologische Wende ohne die Beseitigung der sozialen Ursachen des Raubbaus an der Natur herbeiführen zu wollen, ist eine Illusion! Ohne tiefgreifende Fortschritte bei der globalen Lösung der sozialen Frage sowie bei der Verringerung der Kluft zwischen Nord und Süd wird es auch keine globale Lösung der ökologischen Probleme geben.

Ressourcenproduktivität

Auf fast allen Feldern technischer Energiewandlung bestehen relativ einfach und kostengünstig durchführbare, gleichermaßen ressourcen- wie klimaschonende Maßnahmen darin, die Effizienz der Wandlung und Nutzung von Energie zu erhöhen und sparsam damit umzugehen. Die hier noch zu erschließenden Potentiale sind riesig, werden aber noch längst nicht in vollem Umfang wahrgenommen.[11] Energieeffizienz durchgreifend und breit angelegt zu erhöhen, muß zu einer ständigen, unverzichtbaren Aufgabe der ökologischen Transformation werden - erforderlich und geeignet, die Einführung von Regenerativenergien vorzubereiten und zu erleichtern. Schritte dieser Art müssen Vorrang haben vor der Errichtung neuer Kraftwerke.

Auch in der Stoffwirtschaft ist Effizienzerhöhung erforderlich. Die Stoffströme müssen bereits heute vermindert und auf hohem technischen Niveau möglichst zum Kreislauf geschlossen werden, wobei Logistikoptimierungen und elektronisch gesteuerten Verkehrskonzepten eine hohe Bedeutung für den Abbau von Umweltbelastungen zukommen wird.

Regenerativenergien

Die zukunftsfähige Energieversorgung der Gesellschaft kann nur auf den fließenden Energien der Natur beruhen, auf Sonne, Wind, Wasser, Biomasse, Meeresströmung und -wellen sowie Erdwärme.[12] Das ist der Zustand der "regenerativen Vollversorgung". Dieser Zustand ist realisierbar,
  • weil das Potential der Regenerativenergien unerschöpflich ist und den Bedarf selbst einer weiter stark anwachsenden Erdbevölkerung bei weitem zu decken vermag: Beispielsweise überträgt allein die Sonnenstrahlung eine Leistung von etwa 18 000 TW auf die Kontinente unserer Erde (und eine Nutzung der Sonnenenergie auch auf den Meeresflächen ist denkbar). Im Vergleich dazu entspricht der Welt-Primärenergieverbrauch 1999 nur 13 TW. Zusätzlich aber stehen noch die anderen natürlichen Quellen zur Verfügung: Die kinetische Energie des Windes, die kinetische und potentielle Energie des Wassers, die thermische Energie der Weltmeere sowie die Energien der Biomasse und der Erdwärme. Die Gesamtheit der natürlichen Energieströme entspricht rund dem 3 000fachen des derzeitigen jährlichen Weltenergieverbrauchs.
  • weil Lösungsmöglichkeiten für die Probleme, die mit der Nutzung mancher regenerativer Quellen verbundenen sind, wie Energiefluktuationen, niedrige Energie-Flächendichten, das Erfordernis effizienter Energiespeicherung u. a., heute bereits vorhanden oder als künftige Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung schon erkennbar sind.
Die Unterzeichner erinnern daran, daß schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (Korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften) und Svante Arrhenius [13] in bewunderungswürdiger Weitsicht derartige Forderungen erhoben haben.

Die Vollversorgung mit Regenerativenergien kann nicht mit einem einzigen Wandlertyp allein verwirklicht werden. Es ist vielmehr eine Vielzahl von Wandlertypen dafür einzusetzen, dezentral strukturiert, den jeweiligen lokalen Gegebenheiten optimal angepaßt, vernetzt und gesteuert durch eine leistungsfähige Systemtechnik. Autarke Energieversorgungskonzepte wie in Jünde bei Göttingen sowie in den 3 000 in der Bundesrepublik bereits existierenden energieautarken Häusern sollten als Führungsbeispiele entwickelt werden und höchste Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erfahren.

Die Energietechnik des ökologischen Zeitalters ist, anders als die gegenwärtig betriebene Fossil-Nuklear-Technik, fehlertolerant und terrorismussicher. Sie arbeitet emissionsneutral bzw. nahezu emissionsfrei. Großflächige Havarien oder gar lokal und zeitlich weitreichende Katastrophen sind ausgeschlossen.

Regenerativenergien werden zuweilen noch mißverstanden als gerade ausreichend für die Nischenversorgung.[14] Der Regenerativenergie-Technik kommt aber vielmehr die Bedeutung einer Schlüsseltechnologie dieses Jahrhunderts zu. Die Versorgung mit Regenerativenergien ist der Kern der Nachhaltigkeit. Wie nicht anders zu erwarten, wirft sie eine Vielzahl neuer, komplizierter Fragen auf. Darum ist eine Forschungsstrategie der Energiewende auszuarbeiten und abgestimmte Forschungsprogramme für die Minderung des Energiebedarfs, die Erhöhung der Effizienz der Energiewandlung, die weitgehende Deckung des Energiebedarfs aus regenerativen Energiequellen sowie für Energiespeicherung aufzustellen. Die Finanzmittel für die entsprechenden Forschungsrichtungen sind möglichst schnell massiv zu erhöhen.

Gegenwärtig besteht, innerhalb eines engen Zeitfensters, die seltene Chance, in der Bundesrepublik Deutschland die fossil-nukleare Energiebasis durch die Einführung von Regenerativenergien abzulösen: Hier müssen in den nächsten zwanzig Jahren überalterte Kraftwerkskapazitäten von etwa 40 GW substituiert werden.

Die Etablierung von Regenerativenergien darf von den Industrieländern nicht allein als Mittel eigener Bedarfsdeckung gesehen werden. Vielmehr bieten Regenerativenergie-Wandler auf Grund ihrer modularen, dezentralen und netzvariablen Charakteristik die Möglichkeit, das Lebensniveau in der Dritten Welt durchgreifend zu verbessern und die drückende Abhängigkeit dieser Länder von immer teurer werdenden Fossilenergie-Importen zu beseitigen - eine humanistische Verpflichtung für alle Industrieländer. Das bevölkerungsreichste Land unseres Planeten, China, hat bereits auf Regierungsebene Interesse an der umfassenden Nutzung der Techniken Regenerativer Energien signalisiert.

Eine gleichberechtigte Kooperation mit Ländern des Sonnengürtels beim Aufbau und bei der Nutzung einer dort zu errichtenden Regenerativenergie-Basis läßt Vorteile für beide Seiten erkennen: Entwicklung einer industriellen Basis mit der dazugehörigen technischen Intelligenz und Facharbeiterschaft für die Länder des Südens und Energieexporte aus diesen Ländern für eine sichere Versorgung des Nordens.

Regenerative Stoffversorgung (Stoffressourcen)

Noch zu wenig ist in das Bewußtsein der Öffentlichkeit getreten, daß mit der Erschöpfung der fossilen Kohlenstoff-Ressourcen auch eine wichtige Quelle für die stoffliche Versorgung von Industrie und Gesellschaft versiegen wird.

Die deshalb notwendige Umwälzung ist wahrscheinlich noch schwieriger vorstellbar als die energetische. Aus Erdöl und Erdgas hergestellte Zwischen- und Endprodukte sind aus dem modernen Leben nicht mehr wegzudenken: Kunststoffe (Baumaterialien, Möbel, Konstruktionselemente, Autoteile, Textilien, Folien, Verpackungsmaterialien), Schmieröle, Lacke und Farben, Klebstoffe u.a. All diese Produkte enden über kurz oder lang durch Verbrennen, Verrotten oder Vergären als Kohlenstoffdioxid - das klimaschädliche Treibhausgas.

Ebenfalls Klimaschutzgründe könnten es u.U. der Metallurgie und der Chemie-Industrie verbieten, weiterhin Koks als Reaktionspartner einzusetzen, z.B. zur Eisengewinnung im Hochofen. Zu prüfen sind auch die Zukunftsaussichten anderer großindustrieller Prozesse, die massenhaft Kohlenstoffdioxid emittieren, wie das Kalkbrennen und die Zementproduktion.

Ob die gegenwärtig diskutierte Kohlenstoffdioxid-"Sequestrierung" (Verpressen in den Untergrund) einen Ausweg bietet, ob die Biomasse dem doppelten Druck der energetischen und der stofflichen Nutzung standhalten kann oder ob nicht auch Verfahren zur chemischen Nutzung des atmosphärischen Kohlenstoffdioxids anzuwenden sind - all das sind offene Fragen, anspruchsvolle Herausforderungen für Wissenschaft und Technik, zu deren Beantwortung wir mit unseren Mitteln beitragen wollen.

Die gesellschaftliche Diskussion

Die hier dargestellten Probleme und Entwicklungen sind komplex und greifen nicht nur tief in das Leben der gegenwärtigen Gesellschaft ein, sondern betreffen vor allem die kommenden Generationen. Darum dürfen der Gedankenaustausch darüber und die notwendigen Entscheidungen nicht allein Naturwissenschaftlern, Technikern und Politikern überlassen bleiben. Vielmehr ist auch das Wort der Sozial- und Geisteswissenschaftler, der Mediziner und der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit, wie Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen, der Journalisten und der Kirchen, einzufordern und zu berücksichtigen.

Durch egoistische Wirtschaftsinteressen bestimmte Desinformation, erfahrungsresistente, verharmlosende Technikgläubigkeit und Bedenkenlosigkeit, Tendenzen von Technokratie wie auch billige Panikmache jeder Art verzögern den Transformationsprozeß. Derartigen Auffassungen ist darum, wissenschaftlich begründet, entgegenzutreten.

Wissenschaftler und Techniker sollten eine ihrer vornehmsten Aufgaben darin sehen, die Bevölkerung ehrlich und rückhaltlos über alle eventuellen Risiken technischer Entwicklungen zu informieren und außerdem den erforderlichen Sachverstand und die Urteilsfähigkeit der Bevölkerung zu entwickeln.

Wir, die Unterzeichner, rufen Wissenschaftler innerhalb und außerhalb der Leibniz-Sozietät sowie alle Gleichgesinnten auf, sich dieser Stellungnahme anzuschließen und gemeinsam mit uns sich in den Prozeß des Meinungsaustausches wie auch der aufklärerischen und wissenschaftlichen Arbeit zur Förderung der ökologischen Transformation einzubringen. Wir halten derartige Aktivitäten angesichts der eingangs erwähnten politischen Aktionen gegen die ökologische Wende für dringend notwendig! Angst lähmt - Sorge mobilisiert.

Fußnoten
  1. "Der Windmühlen Wahn", Der Spiegel Nr. 14, 29.03.2004.
  2. Volker Hauff, "Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht.", Greven-Verlag Eggenkamp 1987.
  3. Alexander King, Bertrand Schneider, "Die globale Revolution, ein Bericht des Rates des Club of Rome", Spiegel spezial Nr. 2/1991.
  4. Dennis L. Meadows u.a., "Die Grenzen des Wachstums", Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1972.
  5. Hans-Peter Dürr, "Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad", Verlag Herder Freiburg i. Br. 1995, S. 161 ff.
  6. Hans-Joachim Schellnhuber, "Erdsystemanalyse und Koevolution", Festvortrag Leibniz-Tag 2004, Berlin 01.07.04.
  7. Colin J. Campbell, Frauke Liesenborghs, Jörg Schindler, Werner Zittel, "Ölwechsel! Das Ende des Erdölzeitalters und die Weichenstellung fü die Zukunft", Deutscher Taschenbuch Verlag München, 2. Aufl. 2003.
  8. Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jřrgen Randers, "Die neuen Grenzen des Wachstums", Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1992.
  9. Joachim Nitsch u.a. (DLR, Wuppertal Inst., Ifeu), "Erneuerbare Energien" Hrg.: BMU, Berlin 2004, S. 13.
  10. M. Wackernagel, W. Rees, "Our ecological footprint", New Society Publ., Gabriola Island, BC, Philadelphia, PA, 1996
  11. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Amory B. Lovins, L. Hunter Lovins, "FAKTOR VIER", Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1997.
  12. Hermann Scheer, "Sonnen-Strategie - Politik ohne Alternative", Piper Verlag München, 2. Aufl. 1998.
  13. Svante Arrhenius, : "On the influence of carbonic acid in the air upon the temperature of the ground", Philosophical Magazin, Ser.5, 41 (1896), 237-276.
  14. "Deutsche Energieforschung und Energiepolitik auf dem Prüfstand", Thesenpapier der Leopoldina, Leopoldina Nachrichten Nr. 10, Beilage der Naturwissenschaftlichen Rundschau, 57. Jahrgang, Heft 3 (2004), 1-3.
Berlin, Dienstag, 14. September 2004


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