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UNO-Reform: Das Völkerrecht ist keine Bibel

Streit um die Gültigkeit der Charta von 1945 - um den legitimen und präventiven Einsatz von Gewalt

Von Wolfgang Kötter*

2005 rangiert das Thema "Reform" ganz oben auf der Agenda der UNO. Bei einem Gipfel Mitte September sollen die 191 Mitgliedsstaaten darüber entscheiden, wie und ob die Vereinten Nationen den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein werden. Kofi Annan hat eine "neue und umfassende Vision der kollektiven Sicherheit des 21. Jahrhunderts" angekündigt. Er bezieht sich damit auf jene 101 Vorschläge, die unter dem Titel "Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung" 16 handverlesene Politiker und UN-Insider aus der Experten-Kommission des Generalsekretärs unterbreitet haben.

Die Reaktionen auf die diversen Reformempfehlungen für die Vereinten Nationen sind kontrovers - "vorzüglich", die "umfassendste, klügste und konkreteste Blaupause zur Stärkung der Weltorganisation", loben die einen, eine "UN of America" prophezeien die anderen. Unbestritten sind nur die Ausgangsthesen: Die Welt von heute unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der zur Gründungszeit der UNO vor 60 Jahren. Dem unveränderten Ziel, Weltfrieden und internationale Sicherheit zu garantieren, stehen Gefahren entgegen, die damals noch gar nicht existierten oder zumindest nicht als solche wahrgenommen wurden. Als klassische Bedrohung galten seinerzeit - nach der Erfahrung zweier verheerender Weltkriege - Kämpfe und Konflikte von Staaten untereinander. Die Antwort darauf sollte das im Artikel 2.4. der Charta ausgesprochene umfassende Gewaltverbot geben, von dem nur ausnahmsweise zur Selbstverteidigung (Artikel 51) und als kollektive Maßnahme gegen einen Aggressor (Kapitel VII) abgewichen werden durfte. Damit erhob die UN-Charta nach dem Briand-Kellog-Pakt von 1928 erstmals das Kriegsverbot zur universellen Rechtsnorm, denn noch die Satzung des Völkerbundes schloss das "jus ad bellum" - das Recht auf Krieg - als ultimatives Mittel, um Streitfragen auszutragen, nicht aus.

Heutige Sicherheitsgefährdungen indes verlangen eine differenziertere Analyse und gehen über von Staaten geführte Angriffskriege weit hinaus. Sie umfassen Armut, Seuchen und Umweltzerstörung ebenso wie Krieg und Gewalt im Inneren der Staaten; die Verbreitung und den möglichen Einsatz von nuklearen, radiologischen, biologischen und chemischen Waffen wie auch den Terrorismus und eine über Ländergrenzen hinweg aktionsfähige Kriminalität. Diese Bedrohungen gehen gleichermaßen von Staaten wie von nichtstaatlichen Akteuren aus und gefährden sowohl das Leben Einzelner wie auch die Sicherheit ganzer Völker. Unter derartigen Umständen wird ein neuer Konsens über die gemeinsame Verantwortung für die gegenseitige Sicherheit aller gebraucht. Doch was geschieht, wenn keine konzertierte Aktion der Vereinten Nationen zustande kommt oder dieselbe unfähig ist, in einzelnen Regionen oder Staaten ein Abgleiten in Krieg und Chaos aufzuhalten? Was tun, wenn in einer Extremlage alle Gegenmaßnahmen - außer dem Einsatz von militärischer Gewalt - aussichtslos erscheinen?

Genau hier, in der Frage nach der Legitimität von Gewalt liegt der Kern des Streits um die UN-Reform - wer entscheidet über mögliche Interventionen, nach welchen Kriterien geschieht das? Die Experten-Kommission plädiert für den unveränderten Erhalt der UN-Charta: "Wir befürworten keine Neufassung oder Neuauslegung des Artikels 51", heißt es und weiter: "Der Sicherheitsrat ist nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen uneingeschränkt bevollmächtigt, sich mit der gesamten Bandbreite der Sicherheitsbedrohungen zu befassen, denen sich Staaten gegenübersehen. Es geht nicht darum, Alternativen zum Sicherheitsrat als Quelle der Autorität zu finden", lautet das Urteil. Die herrschende Deutung vom Recht auf Selbstverteidigung und dem Gewaltmonopol des Sicherheitsrates wird damit ausdrücklich bekräftigt. Die Kommission warnt sogar ausdrücklich davor, "dass einseitige Präventivmaßnahmen, im Unterschied zu kollektiv gebilligten Maßnahmen, als rechtmäßig akzeptiert werden könnten. Einem zu gestatten, so zu handeln, bedeutet, es allen zu gestatten." Trotzdem bleibt die Frage, wann ist militärische Gewalt erlaubt?

Für eine verantwortungsvolle Abwägung sollten folgende Leitlinien gelten: Ernst der Bedrohung, Redlichkeit der Motive, Anwendung als letztes Mittel, Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Folgen. Diese Kriterien schränken die Fälle legitimer Gewaltanwendung erheblich ein. Letztendlich sind politische Akteure als Entscheidungsträger aber mit dem außerordentlich komplizierten Verhältnis von Recht, Menschlichkeit und Moral konfrontiert. Das Recht hat für die Menschen eine wichtige Funktion, aber es ist kein Wert an sich. Vielmehr werden Normen, Regeln, Gebote und Verbote vereinbart, um das Miteinander zu erleichtern, gegenseitiges Verhalten erträglich zu machen und Verstöße einen geltenden Rechtskodex ahnden zu können.

Um allgemein akzeptiert zu werden, muss Recht mit den allgemein Normen von Moral und Menschlichkeit vereinbar sein. "Wenn Recht und Moral auch zwei verschiedene Dinge sind", betont der Strafrechtler Volker Erb, "so kann ein Recht, das diesen Namen verdienen will, gleichwohl nicht in beliebigem Maße gegen Moral und Menschlichkeit agieren." Mit anderen Worten: Kein einzelner Mensch und auch kein Staat muss einer absehbaren Katastrophe tatenlos zusehen. "Das Völkerrecht ist kein Selbstmord-Pakt", so der finnische Rechtsexperte Martti Koskenniemi, "wir haben das Recht nicht entwickelt, damit wir uns selbst umbringen." Und vermag das Recht überhaupt, Zwangslagen in Ausnahmesituationen zweifelsfrei zu regeln? Es kann der Fall eintreten, dass Gewaltmaßnahmen unverzichtbar sind und Nichthandeln eine tödliche Schuld heraufbeschwört. War der von der Staatenwelt hingenommene Genozid der Roten Khmer gegen die Bevölkerung Kambodschas zwischen 1975 und 1979 zu verantworten? Trägt niemand Schuld daran, dass 1994 der Völkermord in Ruanda nicht verhindert wurde? Kann sich auf die Rechtslage berufen, wer den Massenmord im sudanesischen Darfur geschehen lässt? Wenn ein Angreifer - möglicherweise mit terroristischem Hintergrund - eine radiologische Zeitbombe ticken lässt oder erkennbar eine Massenepidemie vorbereitet, soll dann gehandelt oder abgewartet werden? Die Antwort fällt deshalb so schwer, weil das nur höchst bedingt verifizierbare Bedrohungsargument nicht erst von der Bush-Administration missbraucht wurde, um einen Irakkrieg führen zu können. Schon 1964 hatte der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson die Bombardierung Nordvietnams mit einer fingierten Attacke auf den US-Zerstörer Maddox im Golf von Tonking gerechtfertigt. Und die sowjetische Führung begründete ihr Eingreifen in der Regel mit selbst organisierten Hilferufen - sei es aus Budapest, Prag oder Kabul. Genauso wenig wie Gesetze Rechtsverletzungen verhindern können, gibt es den absoluten Schutz gegen einen Missbrauch des Rechts.

Ein Ausweg liegt weder in einem lebensfernen Rechtsfetischismus noch einem hybriden Rechtsnihilismus. "Das Völkerrecht ist keineswegs die Bibel", meint der bereits zitierte Martti Koskenniemi, "derzeit allerdings ist das Völkerrecht weitaus hilfreicher als alles andere. Es ist das einzig wirksame Medium, mit dem der Rest der Welt versuchen kann, Druck auf die USA auszuüben." Was heißt das für die heiß umstrittene "präventive" Gewalt? Welches wäre eine angemessene Antwort auf "präemptive Kriege" der US-Administration, die geltendes Recht ignoriert und willkürlich bricht. Sicher müssen die übrigen Staaten und die internationale Zivilgesellschaft dieses Verhalten verurteilen, die Einhaltung bestehenden Völkerrechts fordern und - wo immer möglich - die USA in die kollektive Fortschreibung internationalen Rechts einbinden. Ein funktionierender Multilateralismus wäre eine wirklich konstruktive Antwort auf den amerikanischen Unilateralismus. Das sture Beharren auf der Unberührbarkeit überkommener Rechtsformeln, die der Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden, ist dagegen eher kontraproduktiv, da es die Protagonisten unilateralen Handelns stärkt und die Welt nicht sicherer, sondern verwundbarer macht.

Wenn es also kein Generalrecht für richtiges Tun in allen Lebenslagen gibt, dann muss jemand Verantwortung tragen für Handeln oder Unterlassen - und damit letztlich auch über den präventiven Einsatz militärischer Gewalt entscheiden. Trotz aller Unzulänglichkeiten kann das in dieser unvollkommenen Welt souveräner Staaten nur der Sicherheitsrat sein, denn alle UN-Mitglieder haben ihm im Artikel 24 der Charta, "die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens" übertragen. Jeder Reformversuch im Interesse von Rechtsbindung und Demokratisierung der UNO muss hier ansetzen. Die von der Expertenkommission in diesem Kontext erwogenen Erweiterungsmodelle - sie gehen in jedem Fall von einer größeren Zahl ständiger Mitglieder aus - zielen in diese Richtung. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brasilien, Deutschland, Indien und Japan sowie Südafrika und/oder Nigeria beziehungsweise Ägypten. Im "Coffee Club" organisieren derweil die jeweiligen Rivalen - Argentinien, Italien, Mexiko, Pakistan und Spanien - ihre Gegenstrategie. Sollte Staaten aus bisher unterrepräsentierten Regionen künftig mehr Einfluss zugestanden werden, kann das der Akzeptanz von Entscheidungen des Sicherheitsrates nur dienlich sein.

Beim Vetorecht wäre keine Ausweitung, sondern dessen Einengung wünschenswert. Es erscheint allerdings völlig irreal, von den bisherigen Veto-Mächten - USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China - den Verzicht auf ihr Privileg zu erwarten. Aber es ist denkbar, den Gebrauch des Veto-Rechtes einzuschränken (auf existenzielle Fragen der betreffenden Staaten oder des Weltfriedens zum Beispiel) und eine Begründungspflicht einzuführen. Nur braucht eine UN-Reform neben 128 Ja-Stimmen in der Vollversammlung auch das Plazet aller Vetomächte. Wo sich vehementer Widerstand formiert, das zeigt die jüngste Diffamierungskampagne gegen Kofi Annan in den USA. Schließlich will der UN-Generalsekretär mit einer erfolgreichen Reform seine Amtsperiode an der Spitze der Weltorganisation krönen. Das könnte davon abhängen, wie konziliant er sich gegenüber amerikanischen Wünschen verhält.

Kofi Annans hochrangige Expertenkommission
(Person / Land / frühere politische Ämter)
  • Anand Panyarachun (Vorsitzender / Thailand) / Premierminister
  • Robert Badinter (Frankreich) / Senator / Justizminister
  • Joao Clemente Baena Soares (Brasilien) / Generalsekretär der OAS
  • Gro Harlem Brundtland (Norwegen) / Ministerpräsidentin / WHO-Generalsekretärin
  • Mary Chinery-Hesse (Ghana) / Stellvertretende Generaldirektorin der ILO-Internationale Arbeitsorganisation
  • Gareth Evans (Australien) / Außenminister
  • David Hannay (Großbritannien) / UN-Botschafter
  • Enrique Iglesias (Uruguay) / Außenminister
  • Amre Moussa (Ägypten) / Außenminister / Generalsekretär der Arabischen Liga
  • Satish Nambiar (Indien) / Kommandeur UNPROFOR (UN-Blauhelmkontingente in Jugoslawien während des Bürgerkrieges)
  • Sadako Ogata (Japan) / UN-Hochkommissarin f. Flüchtlingsfragen
  • Jewgenij Primakow (Russland) / Premierminister
  • Qian Qichen (China) / Außenminister / Vizepremier
  • Nafis Sadik (Pakistan) / Exekutivdirektor UN-Bevölkerungsfonds
  • Salim Ahmed Salim (Tansania) / Premierminister / OAU-Generalsekretär
  • Brent Scowcroft (USA) / Nationaler Sicherheitsberater

Gebrauch des Veto-Rechts durch die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates 1945-2005

China (bis 1971 Taiwan)4(davon einmal Taiwan)
Frankreich18
Großbritannien29
UdSSR/Russland118
USA74
[UdSSR-Russland/China zusammen][121]
[Westmächte zusammen][122]
Gesamt243


* Aus: Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung 03, 21. Januar 2005



Siehe zu diesem Thema:
100 Empfehlungen zur Bekämpfung von Terrorismus, Armut, Gewalt, zur Abschaffung von Massenvernichtungswaffen und zur Reform der Vereinten Nationen
Hochrangige Kommission legt Vorschläge zur UN-Reform vor - Berichte und Kommentare (3. Dezember 2004)
Reformkommission der UNO: Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung
Im Wortlaut: Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel - Mitteilung des Generalsekretärs A/59/565 - pdf-Format (7. Dezember 2004)
"Die Reform beläßt einen Rettungsanker"
Die UNO und die Präventivkriege der USA. Gespräch mit Norman Paech, Hamburg (5. Dezember 2004)




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