"Deutschland hat seine Zurückhaltung aufgegeben"
Gespräch mit Bernhard Neugebauer über die Rolle der Vereinten Nationen im neuen Jahrtausend
*** Dr. Bernhard Neugebauer (rechts) stand von 1953 bis 1990 im
Diplomatischen Dienst der DDR, unter anderem als Botschafter in der
Ständigen Vertretung der DDR bei den Vereinten Nationen. Neugebauer ist
Vorstandsmitglied des Verbandes für Internationale Politik und Völkerrecht
e.V.
Das folgende Interview mit Dr. Neugebauer entnahmen wir der Tageszeitung "junge Welt".
Frage: Herr Neugebauer, Sie haben vor kurzem vor dem Verband für Internationale
Politik und Völkerrecht e.V., Berlin, und Medienvertretern über die deutsche
UN-Politik im neuen Jahrtausend referiert. Darin nahmen Sie auch Bezug auf
das Gipfeltreffen von Vertretern der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im
September vergangenen Jahres. Hat dieser »Millenniumsgipfel« neue
Erkenntnisse für die weitere Politik der Vereinten Nationen gebracht?
Bernd Neugebauer: Die Ansammlung einer kritischen Masse von Staatsmännern, wie es J. Williams
vieldeutig nennt, ist in ihrem Umfang nicht die erste, aber wohl die am
zahlreichsten besuchte gewesen. 5 000 Politiker samt diplomatischem Fußvolk
und Ansprachen von 99 Staatsoberhäuptern, drei Kronprinzen, 47
Regierungschefs und einer stattlichen Anzahl von Außenministern sind schon für
sich genommen ein Ereignis. Die Frage nach den Erkenntnissen und Ergebnissen
dieses Millenniumsgipfels ist deshalb schon berechtigt.
Nimmt man die beiden entscheidenden Dokumente, die »Mitteilung des
Präsidenten des Sicherheitsrates« und die »Millenniumserklärung der Vereinten
Nationen«, so ist aber Vorsicht angesagt. Natürlich gibt es kein Problem der
internationalen Beziehungen, das die Staaten und Völker auf diesem Planeten
berührt, das nicht genannt ist. Doch eine Bestandsaufnahme und nur allgemeine
Andeutungen für deren Lösung sind zu wenig. Zu einer Reihe entscheidender
Probleme der Vereinten Nationen, so der Neustrukturierung des Sicherheitsrats,
zum wirksamen Schutz der Umwelt, zur radikalen und verbindlichen
Abschaffung aller Angriffswaffen, zur Neuordnung der internationalen
Wirtschaftsbeziehungen in einer globalisierten Welt, zur tatsächlichen
Gewährleistung der Menschenrechte, gibt es allgemeine Aufrufe und vage
Aussagen. Und vergleicht man diese Dokumente mit denen des Gipfeltreffens
der Vereinten Nationen vor fünf Jahren zum 50. Jahrestag der Gründung der
Vereinten Nationen, finden sich Wiederholungen der Formulierungen und
Appelle.
Das führt zu dem Schluß, daß in New York zwar viele Protokolle geschrieben
wurden und viel Medienzauber veranstaltet wurde, für die Lösung der
dringenden Probleme jedoch kaum etwas geschehen ist.
Sicher ist die Möglichkeit der direkten Kontakte zwischen so viel
Politikprominenz ein zu beachtender Faktor. Die Vereinten Nationen hatten ja
immer auch die Funktion, eine ungezwungene Begegnungsstätte zu sein. Und
auch das Prestige vieler kleiner Staaten, gleichberechtigt an diesem Treffen
teilzunehmen, ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Wahrscheinlich sind aber doch
eher die Hotel-, Restaurant- und Dienstleistungsunternehmer aller Couleur in
New York die konkreten Nutznießer. Das am ehesten faßbare Ereignis des
Millenniumsgipfels ist, wie die Presse feststellte, daß Kofi Annan als
Generalsekretär der Vereinten Nationen eine Wahlkampagne auf höchster
Ebene führen konnte im Hinblick auf die im nächsten Jahr anstehende Wahl für
eine zweite Amtsperiode.
F: Welche Probleme erwarten die Vereinten Nationen im neuen Jahrzehnt,
angesichts der Dominanz der USA in der Welt?
Vor den Vereinten Nationen steht im neuen Jahrzehnt das Problem, werden sie
in dem Geflecht der internationalen Beziehungen eine zentrale und
weltanerkannte, ordnende Rolle spielen oder werden sie weiter degradiert zum
Willensvollstrecker einiger weniger mächtiger Staatengruppen beziehungsweise
der USA in deren Konzept als Weltordnungsmacht.
Die Vereinten Nationen haben nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit der
Ost-West-Konfrontation und des Kalten Krieges, der Befreiung der national
und kolonial unterdrückten Völker des Interessenausgleichs und der Bewahrung
der Welt vor einem atomaren Inferno eine dominierende Rolle gespielt. Jetzt
aber gibt es neue Herausforderungen, die eine Reform der Vereinten Nationen
und ihrer Strukturen verlangen. Außerdem steht die Ergänzung der Charta der
Vereinten Nationen durch Kapitel zum Umweltschutz, zu den Menschenrechten,
zu den sozialen Weltproblemen und zur Globalisierung der
Weltwirtschaftsbeziehungen, zur Konflikterkennung und - lösung auf der
Tagesordnung.
Nunmehr kommt es darauf an, daß die Vereinten Nationen als Ausgleichsfaktor
zwischen der Interessenlage der Supermacht USA und dem Rest der Welt
funktionieren. Hier liegen die Chancen der Vereinten Nationen im neuen
Jahrzehnt und darüber hinaus.
F: Wie ist die Interessenlage der BRD gegenüber den Vereinten Nationen zu
bewerten?
Die lnteressenlage der BRD gegenüber den Vereinten Nationen hat sich seit
1990 doch gewandelt. Bis 1990, zur Zeit der Mitgliedschaft von zwei deutschen
Staaten in den Vereinten Nationen, übte die BRD eine gewisse Zurückhaltung
gegenüber den Vereinten Nationen. Nicht zufällig war in dieser Zeit die
Stimmenthaltung des westdeutschen Staates in den Vereinten Nationen
hinlänglich bekannt und wurde als »German vote« bezeichnet.
In den neunziger Jahren, nunmehr als »Deutschland«, erhob die Bundesrepublik
doch deutliche Machtansprüche. Typisch dafür ist die Fokussierung auf die
Mitgliedschaft im Sicherheitsrat als ständiges Mitglied mit allen Rechten
einschließlich des Vetorechts. Zwar gab es dazu weltweit ein positives Echo,
doch existieren tatsächlich ernsthafte Einwände - und nicht nur von den
afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten, sondern auch von Italien, sicher
auch von Großbritannien. So steht dieser Anspruch auf der deutschen
UN-Agenda noch ganz oben, ist aber in absehbarer Zeit nicht zu verwirklichen.
Wenn die bundesdeutsche Außenpolitik nunmehr den Multilateralismus in den
internationalen Beziehungen hervorhebt, so sollte das auch eine stärkere
Hinwendung zur multilateralen Zusammenarbeit auf den entscheidenden
Gebieten der Menschheit bedeuten. So könnten die Interessen der BRD auch
im regionalen und multilateralen Beziehungsgeflecht artikuliert werden, das
Prestige der Vereinten Nationen könnte gestärkt und den Kräften
entgegengewirkt werden, die die Vereinten Nationen finanziell austrocknen
wollen.
F: Vor allem Nichtregierungsorganisationen (NGO) fordern neben
Staatenvertretern eine Demokratisierung der Vereinten Nationen. Welche
Chancen haben diese Forderungen in einer Welt der Polarisierung?
Es ist in der Tat so, daß Nichtregierungsorganisationen auf eine
»Demokratisierung« der Vereinten Nationen drängen. Was auch immer
»Demokratisierung« in diesem Fall bedeutet, eine stärkere Einflußnahme und
Präsenz in diesem Staatengremium kann dem Aufspüren der tatsächlichen
Probleme nur förderlich sein. Das gelang zum Beispiel in anschaulicher Weise
auf dem Umweltgipfel der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro 1992.
Derzeit ist man bemüht, den Einfluß der NGO wieder zu beschneiden. Die
USA, Rußland, aber auch andere europäische Staaten sind da mit von der
Partie. Die völkerrechtliche Regulierung des Mitwirkens der
Nichtregierungsorganisationen an den Entscheidungsprozessen wäre natürlich
wünschenswert und würde der Politik der Polarisierung in der Welt
entgegenwirken.
F: Internationale Beobachter sind besorgt über den zunehmenden Einfluß
transnationaler Monopole auf die Vereinten Nationen.
Diese Befürchtungen sind sehr berechtigt und verlangen größte Aufmerksamkeit
im internationalen Leben. Es ist sicher kein Zufall und nicht von untergeordneter
Bedeutung, wenn in der Millenniumserklärung im Teil III »Entwicklung und
Armutsbeseitigung« gleich an zwei Stellen auf diesen Aspekt hingewiesen wird.
Im Punkt 13 wird die Schaffung eines »offenen, fairen, regelgeschützten,
gerechteren und nichtdiskriminierenden multilateralen Handels- und
Finanzsystems« gefordert, und im Punkt 19 heißt es, daß bei der Entwicklung
und Armutsbeseitigung »feste Partnerschaften mit dem Privatsektor und der
Organisation der Zivilgesellschaft« aufzubauen sind. All dies findet sich dann im
Abschnitt »Stärkung der Vereinten Nationen«.
Wie immer das ausgestaltet werden kann, tatsächlich bestimmen heute die
transnationalen Monopole, Banken, Versicherungen und Gesellschaften das
internationale Wirtschaftsleben, und den Staaten und internationalen
Organisationen ist es bisher nicht gelungen, Regulationsmechanismen für die
Globalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu finden, von einer
Durchsetzung ganz zu schweigen. Deshalb ist es an der Zeit, daß hier ein
geregeltes Miteinander geformt wird. Ob allerdings diese transnationalen
Monopole dazu wirklich bereit sind, ist doch stark zu bezweifeln...
Das Gespräch führte Franz-Karl Hitze
Aus: junge Welt, 17. Februar 2001
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