Friedenskonsolidierung - Schlüsselaufgabe für die Vereinten Nationen
Die Rede des UN-Generalsekretärs Kofi Annan im Deutschen Bundestag
Am 28. Februar 2002 sprach der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, vor dem Deutschen Bundestag. Annan thematisiert den Anspruch und die Aufgaben der Vereinten Nationen zur Sicherung des Weltfriedens, verschweigt aber auch nicht die Schwierigkeiten, die dabei auftreten. Im diplomatischen Geschäft sind mitunter auch die Dinge von Bedeutung, die nicht angesprochen werden. Ob Kofi Annan von Afghanistan oder über den Balkan (insbesondere Kosovo) spricht: Er vermeidet jeden Bezug auf die den UN-Friedesnmissionen vorausgegangenen Kriege. Beim Kosovo-Krieg (genauer: beim NATO-Krieg gegen Jugoslawien) im Frühjahr 1999 hatte es sich nach überwiegender Auffassung der Völkerrechtler um einen von der UN-Charta nicht gedeckten Angriffskrieg gehandelt. Das weiß natürlich auch Kofi Annan. Hätte er darüber in dem Parlament reden sollen, das seiner Zeit - am 16. Oktober 1998 - sein Plazet für ein militärisches Eingreifen der NATO gegeben hatte? Ohne Kritik wäre ihm das nicht möglich gewesen. Aus Höflichkeit dem Gastgeber gegenüber schwieg er also. Im Fall Afghanistans liegen die Verhältnisse nicht ganz so klar. Jedenfalls behauptet die Bundesregierung, dass dem US-Krieg gegen Afghanistan und einer deutschen Beteiligung an "Enduring Freedom" ein eindeutiges Mandat des UN-Sicherheitsrats zugrunde läge. Wäre dies so und entspräche dies auch der Auffassung des UN-Generalsekretärs, so hätte Kofi Annan diesen Krieg sicher als ein - gelungenes? - Beispiel für einen Akt der Friedenserzwingung nach Kapitel VII der UN-Charta erwähnt. Er tat es nicht.
Wir dokuemntieren die Rede Kofi Annans im Wortlaut.
Es ist eine außerordentliche Ehre für mich, vor diesem Hohen Haus zu sprechen -
um so mehr, als mir bewusst ist, dass ich einer der wenigen Nichtdeutschen bin,
die dazu eingeladen wurden, und erst der Dritte, seitdem Sie dieses großartig
restaurierte Domizil in der historischen Hauptstadt Deutschlands bezogen haben.
Gleichzeitig ist es mir auch eine große Freude, zu Ihnen sprechen zu können,
denn als Weltbürger und Mitglied der Vereinten Nationen setzt Deutschland ein
bewundernswertes Beispiel.
Während meiner gesamten Amtszeit als Generalsekretär, aber auch schon davor,
bin ich in den Genuss einer engen Arbeitsbeziehung mit der deutschen Regierung
und dem deutschen Volk gekommen. Ihre konstruktive und großzügige Haltung
gegenüber den Vereinten Nationen ist um so verdienstvoller, wenn man sich vor
Augen hält, dass Deutschland einmal als "Feindstaat" betrachtet wurde und dass
wegen der Teilung Deutschlands im Kalten Krieg die Bundesrepublik mehr als 20
Jahre warten musste, bis sie Mitglied der Vereinten Nationen werden konnte.
In dieser Stadt und vor allem auch an diesem Gebäude sind als Warnung für
künftige Generationen mit Bedacht einige Spuren der schrecklichen Verheerungen
des Krieges erhalten worden. Es gibt, wie ich meine, wenige Völker, die sich so
stark für die Sache des Friedens engagieren wie das deutsche Volk heute, und es
gibt, wenn überhaupt, nur wenige, die bessere historische Gründe dafür haben.
Eines, was mich in den zwölf Jahren, seitdem Sie durch Selbstbestimmung zur
Einheit gelangt sind, tief beeindruckt hat, ist die Art und Weise, wie Sie über
historisch bedingte Hemmungen bezüglich Ihrer Rolle in der Welt, so auch
bezüglich der Entsendung von Truppen, hinausgewachsen sind und Ihren Teil der
Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit
übernommen haben.
Ich weiß, dass dieser Wandel nicht einfach war. Er verlangte von der politischen
Führung und von den hier versammelten gewählten Volksvertretern Mut und
Taktgefühl zugleich. Aber dies ist natürlich nur eine von vielen Weisen, wie die
Bundesrepublik zu Frieden und Stabilität in Europa und in entfernteren
Weltgegenden beigetragen hat. Ihr Engagement für den Aufbau der Europäischen
Union, Ihr Einsatz für die Verbindung von politischer Stabilität und Zusammenarbeit
mit wirtschaftlichem Fortschritt und der Schaffung einer Währungsunion und das
große Gewicht, das Sie auf die Stärkung demokratischer Institutionen gelegt
haben, sind Ausdruck Ihrer Erkenntnis, dass Frieden eine äußerst komplexe
Struktur ist, die auf vielen Fundamenten zugleich aufgebaut werden muss.
Ihre Rolle bei der Festigung des Friedens auf dem Balkan war besonders wichtig -
und ich freue mich sehr darüber, dass Michael Steiner jetzt als mein
Sonderbeauftragter in Kosovo tätig ist. Doch bin ich auch froh, feststellen zu
können, dass Ihre Tätigkeit nicht auf Europa oder seine unmittelbare Nachbarschaft
beschränkt ist. Deutschland war eines der wenigen Länder, das sich schon vor den
Ereignissen des 11. September ernsthaft mit den Problemen Afghanistans
auseinander gesetzt hat. Seither haben Sie Ihren Beitrag zur Sicherheit in
Afghanistan erhöht - vor allem durch die Übernahme der Führungsrolle bei der
Koordinierung der internationalen Bemühungen, Afghanistan beim Aufbau oder
Wiederaufbau einer wirksamen und professionellen Polizei behilflich zu sein.
Es kann gar keinen wichtigeren Beitrag zur Schaffung dauerhaften Friedens in
diesem Land geben, auf das sich heute - nach einer langen, bedauerlichen Periode
der Vernachlässigung - das Augenmerk der ganzen Welt richtet.
Die Friedenskonsolidierung im weitesten Sinn ist das Thema, über das ich heute
zu Ihnen sprechen möchte. Afghanistan ist nicht das erste Land, in dem die
Vereinten Nationen ersucht wurden, in Partnerschaft mit anderen Organisationen
bei diesem Prozess mitzuhelfen, und es wird wahrscheinlich nicht das letzte sein.
Immer mehr scheint dies eine der Schlüsselaufgaben zu sein, die uns von der
internationalen Gemeinschaft übertragen werden. In vielen Nachkriegsländern wird
von uns auch erwartet, dass wir den Frieden erhalten, indem wir unter der Führung
der Vereinten Nationen Truppen dorthin entsenden, die die berühmten blauen
Helme tragen.
In anderen Fällen - wie beispielsweise in Kosovo und jetzt in Afghanistan - wird
davon ausgegangen, dass diese militärische Aufgabe schwer bewaffnete
Streitkräfte mit sehr robusten Einsatzrichtlinien erfordert. Dann ziehen die
Mitgliedstaaten es vor, diese Aufgabe selbst zu übernehmen - in so genannten
"Koalitionen der Willigen", die vom Sicherheitsrat genehmigt werden - während es
den Vereinten Nationen überlassen bleibt, die zahlreichen zivilen Aufgaben zu
koordinieren, die die internationale Gemeinschaft wahrnimmt, um einem Land in
einer solchen Situation zu helfen.
Aber selbst dort, wo Streitkräfte unter UN-Befehl im Einsatz stehen, bilden sie
heute häufig zusammen mit zivilen Elementen der Vereinten Nationen Teil einer
größeren Mission, deren Mandat über die traditionelle Friedenssicherung
hinausgeht. Dieses Mandat besteht im Wesentlichen darin, die Grundlagen für
einen dauerhafteren Frieden zu legen. In der Vergangenheit wurden
Friedenssicherungskräfte der Vereinten Nationen entsandt, um eine Waffenruhe
aufrechtzuerhalten, während die Parteien an einer politischen Regelung arbeiteten.
Nur zu oft wurde daraus ein jahrelanger Aufenthalt, weil eine Regelung nicht zu
Stande kam. Seit dem Ende des Kalten Krieges werden sie sehr viel häufiger erst
entsandt, wenn eine politische Regelung bereits vereinbart worden ist, mit dem
Ziel, den Parteien bei deren Durchführung zu helfen.
Sensibler Prozess
Sie sind heute kein statisches Element mehr, dessen Entfernung das prekäre
militärische Gleichgewicht zerstören und den Konflikt wieder aufflammen lassen
würde. Vielmehr wird von ihnen erwartet, dass sie eine dynamische Rolle spielen,
als Teil einer komplexen Operation unter Beteiligung zahlreicher Akteure, die
danach streben, einen Frieden zu stärken und zu konsolidieren, der auch dann
noch hält, wenn sie abgezogen wurden.
Die Friedenskonsolidierung ist ein wichtiger, notwendiger Auftrag. Dennoch können
sich die Vereinten Nationen seine erfolgreiche Durchführung nur dann erhoffen,
wenn zwei Dinge von vornherein klar verstanden werden:
Erstens: Friedenskonsolidierung ist ein äußerst komplexer Prozess, der viele
verschiedene Einzelaufgaben miteinander verbindet. Erfolg oder Fehlschlag bei
einer davon hat unausweichliche Auswirkungen auf alle anderen.
Zweitens: Es handelt sich um einen langen und sensiblen Prozess, bei dem es
keine schnellen Patentlösungen gibt. Wer immer sich auf diesen Weg begibt,
muss darauf vorbereitet sein, dass er ihn über lange Strecken gehen müssen wird.
Beispielhaft für den ersten Punkt steht die Ausbildung und Überwachung lokaler
Polizeikräfte - ein Beispiel, das angesichts der Rolle, die Sie jetzt in Afghanistan
übernehmen, für Sie von Interesse sein dürfte. Eine solche Tätigkeit hat wenig Wert
ohne unbestechliche und wirksame Gerichte, menschenwürdige Haftanstalten und
zumindest einige Institutionen zur Förderung der Menschenrechte. Denn was nützt
es, eine effiziente Polizei aufzubauen, wenn es für die verhafteten Straftäter keine
Gefängnisse gibt, oder nur solche, die auf eine Weise geführt werden, die allen
Vorstellungen von Menschenwürde zuwiderlaufen? Was nützt es überhaupt,
Straftäter zu verhaften, wenn sie nicht binnen angemessener Frist vor ein Gericht
gestellt werden können, das internationale Mindeststandards einhält, oder wenn es
an den Mitteln fehlt, um genügend Beweise zu erheben, die eine Verurteilung
ermöglichen?
Um ein anderes Beispiel zu nennen: Was nützen Wahlen, selbst bei absolut
einwandfreien Abstimmungsverfahren, wenn die Kandidaten nicht die Freiheit
haben, einen Wahlkampf zu führen beziehungsweise die Medien nicht darüber
berichten können; wenn die Verlierer nicht bereit sind, das Ergebnis zu akzeptieren
oder die Gewinner ihren Sieg so auslegen, dass sie nun alle anderslautenden
Ansichten ignorieren können?
Wir können nicht einem Land durch Wahlen Frieden bringen, wenn wir ihm nicht
auch helfen, demokratische Institutionen zu schaffen und seiner Bevölkerung die
Lösung ihrer sozialen Probleme zumindest in Aussicht zu stellen. Oder was nützt
es wiederum, die Häuser von Flüchtlingen wieder aufzubauen, wenn wir sie nicht
davon überzeugen können, dass nach ihrer Rückkehr ihre Sicherheit gewährleistet
ist? Und was nützt es, sie zur Rückkehr zu bewegen, wenn es keine Aussicht auf
eine wirtschaftliche Entwicklung gibt, in der sie ihre Fähigkeiten zum Einsatz
bringen und ihre Familien ernähren können?
Ebenso fragt sich, was es nützt, bewaffnete Gruppen zu entwaffnen und zu
demobilisieren, wenn es für die dadurch freigesetzten Jugendlichen und jungen
Männer keine ordentlichen Schulen oder zivile Arbeitsplätze gibt.
Alle diese humanitären, militärischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Aufgaben greifen ineinander, und die daran beteiligten Menschen müssen eng
zusammenarbeiten. Keine davon lässt dauerhaften Erfolg erwarten, wenn wir sie
nicht alle als Teil einer einzigen, zusammenhängenden Strategie gleichzeitig
wahrnehmen. Sollten für eine davon die Mittel fehlen, mag sich die Arbeit an allen
anderen als vergeblich erweisen.
Die unbequeme Wahrheit ist, dass nach Lage der Dinge die Vereinten Nationen
und andere Institutionen nach wie vor schlecht dafür gerüstet sind, eine solche
umfassende Strategie zu entwickeln, und noch weniger, sie durchzuführen.
Dennoch wird beides häufig von den Vereinten Nationen verlangt. Zurzeit ist unser
System zu stark in Kompetenzbereiche untergliedert. Ich glaube, dass es uns im
UN-Sekretariat zum Teil gelungen ist, dies zu überwinden, und ich habe mich mit
Nachdruck darum bemüht, die Arbeit unserer Fonds und Programme, wie etwa des
Unicef, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, des
Welternährungsprogramms und der Hohen Kommissare, für Flüchtlinge und
Menschenrechte zu koordinieren. Wir sind außerdem bemüht, in der Arbeit des
Systems der Vereinten Nationen insgesamt, das natürlich auch die Weltbank und
den Internationalen Währungsfonds umfasst, eine stärkere gegenseitige
Abstimmung herbeizuführen.
Doch die Schlüsselentscheidungen werden von den Regierungen der einzelnen
Staaten getroffen, entweder einzeln oder in zwischenstaatlichen Organen wie dem
Sicherheitsrat, der Generalversammlung und ihren verschiedenen Ausschüssen,
und auch - da die Vereinten Nationen Einsätze selten allein durchführen - in den
entsprechenden Gremien anderer Organisationen wie etwa der Nato und der OSZE.
Die Sache wird dadurch noch weiter kompliziert, dass die verschiedenen Stellen
des UN-Systems unterschiedlichen Verantwortungsbereichen innerhalb der
Länderregierungen zugeordnet sind, weswegen in den Hauptstädten
Prioritätenkonflikte entstehen und am anderen Ende widersprüchliche Signale
gesetzt werden können.
So wird beispielsweise Unicef in einem jeweiligen Mitgliedstaat einen ganz anderen
Sektor als Ansprech- und Kooperationspartner haben als die Hauptabteilung
Friedenssicherungseinsätze. Zu oft führt dies zu einer fragmentierten
Vorgehensweise, genau das Gegenteil von dem, was wir eigentlich brauchen. Die
Mandate, die den Vereinten Nationen und anderen Organisationen übertragen
werden, übersteigen häufig deren Kapazität. Und vielfach haben wir entweder zu
wenig Geld oder wir haben Geld, das nicht für die vordringlichsten Prioritäten
bereitsteht, weil es an andere Zwecke gebunden ist, oder es entsteht eine zu
große zeitliche Lücke zwischen der Zusage von Mitteln und ihrer Auszahlung.
Diese Lücke zwischen Zusage und Auszahlung bereitet mir im Falle Afghanistans
bereits jetzt große Sorgen. Obwohl erhebliche Beträge versprochen wurden, ist dort
bisher noch nicht genügend Geld eingegangen. Die Friedenskonsolidierung in
Afghanistan ist auf die Dynamik eines möglichst schnellen Wiederaufbaus
angewiesen. Im jetzigen Stadium ist es von höchstem Vorrang, Lehrern ihre
Gehälter auszuzahlen, Saatgut für die neue Anbausaison bereitzustellen und in
den Städten wie auf dem Land Arbeitsplätze zu schaffen. Solche schnell wirkenden
Projekte können in den frühen Phasen einer Friedenskonsolidierungsoperation
Entscheidendes ausmachen - vor allem, wenn es um deren Glaubwürdigkeit in den
Augen der örtlichen Bevölkerung geht.
Und dies bringt mich zu meinem zweiten Punkt - der Notwendigkeit eines
langfristigen Engagements. Ich habe zu Beginn gesagt, dass Afghanistan heute im
Mittelpunkt des Weltinteresses steht, nachdem es lange Zeit in beschämender
Weise vernachlässigt wurde. Leider ist diese Vernachlässigung typisch für
kriegszerstörte Länder, die sich nicht mehr in den Schlagzeilen befinden. Dabei
sind wir uns sicher alle einig, dass es nicht nur für Afghanistan, sondern für die
ganze Welt viel besser gewesen wäre, wenn Afghanistan nach dem sowjetischen
Rückzug 1989 nachhaltige Aufmerksamkeit erhalten hätte, anstatt dass man es
ungehindert in Anarchie versinken ließ.
Krieg und Anarchie
Auch in anderen Fällen - so zum Beispiel in Angola - wurden
Friedensvereinbarungen missachtet, hielten Krieg und Anarchie wieder Einzug und
verlängerten die Qualen eines gepeinigten Volkes und zerstörten die geweckten
Hoffnungen. In Ruanda glaubte die internationale Gemeinschaft, ein
Friedensabkommen werde umgesetzt, während in Wirklichkeit Vorbereitungen zu
einem breit angelegten Völkermord im Gange waren.
Zweifellos tragen in solchen Fällen die Parteien, die Verabredungen gebrochen und
Gewalt angewendet haben, die schwerste Verantwortung. Aber häufig entfällt ein
Teil der Verantwortung auch auf die internationale Gemeinschaft, die das Erbe des
Misstrauens und des Hasses, das von einem Konflikt hinterlassen werden kann,
ebenso unterschätzte wie die Stärke des Anreizes für junge Männer und
Jugendliche, weiter zu kämpfen, weil kein anderes Ventil für ihre Energie vorhanden
ist.
Die Vereinten Nationen haben aus diesen Erfahrungen gelernt, dass ebenso wie
ein Konflikt nie in einem Vakuum entsteht auch der Frieden nicht nur eine Frage
der Unterzeichnung von Abkommen oder Verträgen ist. Er muss immer von Grund
auf neu geschaffen werden - wie dies heute in Afghanistan der Fall ist. Ich will
damit nicht sagen, dass die Friedenssicherungseinsätze auf unbegrenzte Zeit in
Ländern bleiben sollten, die gerade einen Konflikt überwunden haben. Im Gegenteil,
es ist sehr wichtig, dass wir die Länder dazu bewegen, sich aus der Abhängigkeit
zu befreien.
Die Friedenssicherungs- und Friedenskonsolidierungskräfte sollten stets die
Eigenanstrengungen der Länder unterstützen und ihre Eigenständigkeit fördern,
nicht hingegen der örtlichen Führung und Verwaltung ihre Aufgaben abnehmen.
Und die Friedenssicherungskräfte sollten so bald wie möglich wieder abziehen,
nachdem sie an der Schaffung von Bedingungen mitgewirkt haben, unter denen ein
Land seine Stabilität aufrechterhalten kann. Allerdings sollten sie niemals abrupt
oder verfrüht abgezogen werden. Darum hoffe ich sehr, dass die derzeitige
Internationale Sicherheitsbeistandstruppe in Afghanistan über ihre derzeitige
Mandatsperiode hinaus verlängert werden kann.
Erforderlich ist ein nahtloser Übergang, der sorgfältig zu terminieren und zu planen
ist, in enger Zusammenarbeit mit den anderen Organisationen - bilateralen und
multilateralen, staatlichen und nichtstaatlichen, humanitären und
Entwicklungsorganisationen -, deren Arbeit weiter gehen muss, lange nachdem die
Friedenssicherungskräfte abgezogen sind. Je engere Beziehungen zwischen allen
diesen Partnern und für die Dauer seiner Präsenz mit dem
Friedenssicherungseinsatz bestehen, desto größer sind die Aussichten, dass
diese Partner auch nach Beendigung des Friedenseinsatzes den
Friedenskonsolidierungsprozess weiter voranbringen können.
Dies ist auch der Grund, aus dem ich mich immer häufiger bemühe, den
Residierenden Koordinator der Vereinten Nationen in einem Land zum
stellvertretenden Leiter der Friedenssicherungsmission zu ernennen. Auf diese
Weise kann er sicherstellen, dass im Rahmen des
Friedenskonsolidierungsprozesses frühzeitig Entwicklungsprogramme eingeleitet
werden und dass beim Abzug der Mission eine reibungslose Übergabe an das
reguläre Landesteam der Vereinten Nationen erfolgt.
Ferner bin ich bestrebt, am Amtssitz ähnlich enge Verbindungen zwischen den mit
Entwicklung befassten und den für Frieden und Sicherheit zuständigen Stellen des
Hauses zu gewährleisten. Aber dies kann nur funktionieren, wenn die
Mitgliedstaaten, die die Mittel und das Personal für alle diese Einsätze
bereitstellen, gewillt sind, die Arbeit ihrer eigenen Ministerien und Dienststellen in
gleicher Weise zu koordinieren.
Mitgliedstaaten, die Truppen für einen Friedenssicherungseinsatz stellen, wollen
immer und zu Recht wissen, wie die "Ausstiegsstrategie" aussieht. Kein Staat will
seine Soldaten auf unbegrenzte Zeit in einem fremden Land stationiert wissen,
ohne dass ein politisches Ergebnis in Sicht wäre. In Antwort auf diese Frage haben
wir bei den Vereinten Nationen, was den Übergang zu einer neuen Phase angeht,
unseren eigenen Slogan geprägt: "Kein Ausstieg ohne Strategie".
Wenn wir uns einmal dazu verpflichtet haben, Völkern beim Wiederaufbau des
Friedens behilflich zu sein, nachdem ein Krieg ihr Land verwüstet und tiefes
Misstrauen unter ihnen gesät hat, müssen wir meiner Auffassung nach dazu bereit
sein, diesen Kurs zu halten und Strukturen zu hinterlassen, die ihnen die
Weiterführung dieses Prozesses erlauben. Denn sonst wird unsere gesamte Arbeit
vergeblich gewesen sein, und diejenigen, die häufig unter Gefahr für Leib und Leben
hart gearbeitet haben, um den Frieden zu erhalten, werden die niederschmetternde
Erfahrung machen müssen, dass nach ihrem Weggang ihre Arbeit zunichte
gemacht wird.
Ich plädiere dafür, meine Damen und Herren, dass unser Ziel immer die Schaffung
eines nachhaltigen Friedens sein sollte, genauso wie wir uns um die
Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung bemühen - wobei diese ihrerseits
eine der Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden ist. Sie als Deutsche, die
Ihr eigenes Land nach dem Zweiten Weltkrieg so großartig wieder aufgebaut
haben, mit Hilfe Ihrer Freunde und Verbündeten in der internationalen
Gemeinschaft, können vielleicht besser als jedes andere Volk verstehen, was ich
meine.
Die deutsche Geschichte hätte ganz anders ausgehen können, wenn die
westlichen Verbündeten sich zwei oder drei Jahre nach 1945 wieder
zurückgezogen hätten, oder wenn sie Sie nicht dabei unterstützt hätten, diese Ihre
Bundesrepublik zu schaffen und darüber hinaus auch Ihre Wirtschaft wieder
aufzubauen. Niemand bestreitet, dass dies vor allem deutsche Leistungen sind, auf
die Sie zu Recht stolz sein können. Aber ich glaube, dass sie auch ein
leuchtendes Beispiel dafür sind, was erreicht werden kann, wenn einer friedlichen
Zukunft verpflichtete Außenstehende mit dem Volk eines Landes
zusammenarbeiten, um ihm bei der Überwindung der bitteren Hinterlassenschaft
eines Krieges behilflich zu sein.
Prominente Rolle
Ich weiß, dass die Deutschen diese Ansicht teilen und dass dies der Grund ist,
aus dem Deutschland eine immer prominentere Rolle bei den Bemühungen
übernimmt, in Ländern, die in jüngerer Zeit unter Kriegen gelitten haben, die
Wunden zu heilen und wieder Frieden zu schaffen. In diesem Zusammenhang darf
ich Ihnen meine Anerkennung dafür aussprechen, dass Sie in absoluten Zahlen
weltweit zu den größten Gebern öffentlicher Entwicklungshilfe gehören.
Gleichzeitig hege ich die Hoffnung, dass Sie noch mehr tun können, indem Sie
auch einen höheren prozentualen Anteil ihres Bruttosozialprodukts für diesen
Zweck bereitstellen. Ferner darf ich den großzügigen Beitrag würdigen, den Sie für
weit entfernte, vom Krieg verwüstete Länder leisten, die keine unmittelbaren
Verbindungen zu Ihnen haben, wie jetzt Afghanistan und zuvor schon Sierra Leone.
Damit stellen Sie sicher, dass es keine Zonen der Gleichgültigkeit gibt, wie Ihr
Bundespräsident es so treffend ausgedrückt hat.
Gestatten Sie mir auch, Sie zu ermutigen, möglichst bald das Statut des
Internationalen Strafgerichtshofs zu ratifizieren. Wenn Sie in den nächsten Wochen
rasch handeln, können Sie noch zu den ersten sechzig Staaten gehören, deren
Ratifikation das Statut in Kraft treten lässt.
Wir haben aus bitterer Erfahrung gelernt, dass wahrer Frieden nicht auf
Straflosigkeit aufgebaut werden kann. Er erfordert Gerechtigkeit und Abschreckung
ebenso wie Großmut und Versöhnungsbereitschaft.
Meine Damen und Herren, in den kommenden Monaten und Jahren wird
Deutschland zweifellos aufgerufen werden, noch mehr für nachhaltigen Frieden und
nachhaltige Entwicklung zu tun. Ihnen als Parlamentariern kommt dabei eine
entscheidende Rolle zu. Sie bilden die institutionelle Brücke zwischen dem Staat
und der Zivilgesellschaft und das unverzichtbare Bindeglied zwischen der lokalen
und der globalen Ebene. Sie sind daher in der einzigartigen Position, sich für eine
Weltorganisation einzusetzen, die wirksamer arbeitet und den Bedürfnissen und
Bestrebungen der Menschen, die Sie vertreten, besser gerecht wird.
Ich zolle Ihnen Beifall für das, was Sie bereits getan haben, und sehe einer noch
engeren künftigen Zusammenarbeit mit der Regierung und dem Volk Deutschlands
erwartungsvoll entgegen. Meine Freunde, vielen Dank.
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