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So viel Luxemburg war noch nie

Ein Paukenschlag: Annelies Laschitza brachte den sechsten Band von Rosa Luxemburgs "Gesammelten Werken" heraus

Von Manfred Neuhaus *

An Rosa Luxemburg, der tragischen Jahrhundertfigur, ist nichts mehr zu entdecken«, sinnierte einst einer der letzten großen Intellektuellen der SPD, nämlich Peter Glotz: »Der berühmte Satz aus ihrem hellsichtigen, erst posthum veröffentlichten Pamphlet über die russische Revolution ›Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden‹ wird inzwischen sogar von den Nachfahren ihrer Feinde respektvoll daher geplappert; ... Ein Teil der Linken spricht schon nur noch per Vorname von ihr, wie reiche Leute von ihren Dienstmädchen. Noch Fragen?«

Es gilt als Besonderheit deutscher Kultur- und Geistesgeschichte – und wird weltweit anerkannt und bewundert –, dass die Texte unserer bedeutendsten Dichter und wirkungsmächtigsten Denker der Nachwelt in wohlfeilen Werkausgaben überliefert werden. Was Annelies Laschitza, der bereits verstorbene Günter Radczun (†) sowie ihr polnischer Kollege Feliks Tych geleistet haben, um das literarische Erbe von Rosa Luxemburg für künftige Generationen zu bewahren, ist bewunderungswürdig.

Am Beginn eines in der Rückschau geradezu verwegenen Editions- und Forschungsprogramms steht der kategorische Imperativ des Historikers. Er umfasst nur zwei Worte, und mahnt seit Erasmus und Melanchthon: ad fontes – zu den Quellen. Die Beherzigung dieses Grundsatzes mag Annelies Laschitza dereinst wie ein innerer Kompass davor bewahrt haben, auf dem schmalen Grat zwischen erwarteter Loyalität und intellektueller Selbstbehauptung die Balance zu verlieren. Ihre penible Rekonstruktion der Debatten, Gemeinsamkeiten und gravierenden Differenzen zwischen Luxemburg und Lenin lieferte die Argumente, um das Vollständigkeitspostulat der Editionsphilologie gegen die Zensur zu behaupten und das von Stalin, aber nicht nur von ihm, verteufelte Manuskript »Zur russischen Revolution« im vierten Band der »Gesammelten Schriften« zu veröffentlichen.

Die philologische Dignität der unter der Ägide von Radczun und Laschitza edierten »Gesammelten Werke« und »Gesammelten Briefe« blieb deshalb auch nach dem Ende der DDR unangefochten. Inzwischen gealterte, unzeitgemäße Kommentare wurden im Zuge von Neuauflagen »ideologisch entkernt«, behutsam modernisiert und so gravierend verbessert. Das erfreuliche Ergebnis ist ein internationaler Standard, der die Grundlage für moderne Ausgaben in aller Welt, wie beispielsweise die 2011 in Sao Paulo begonnene Werkausgabe in portugiesischer Sprache, bietet.

Und so ist es mehr als eine schöne Geste, wenn der Karl Dietz Verlag zur Leipziger Buchmesse (und dem vorausgegangenen 80. Geburtstag der renommierten Editorin) mit einem Paukenschlag aufwartet. Was Annelies Laschitza und Eckhard Müller als Quintessenz aufwändiger Archivrecherchen präsentieren, ist erstaunlich: Zu Buche stehen 270 Dokumente, hauptsächlich Beiträge aus sozialdemokratischen Zeitungen, für die erstmals Luxemburgs Autorschaft nachgewiesen wird, aber auch Schriftstücke aus Justiz- und polizeilichen Überwachungsakten. Aus dem Nachlass von Jürgen Kuczynski stammt ein handschriftlicher Entwurf für die Klausurarbeit über Lohnfondstheorie in Luxemburgs Zürcher Dissertationsverfahren. Dessen Lektüre sei nicht nur Stipendiaten der nach ihr benannten Stiftung empfohlen. Im Kuczynski-Nachlass fand Laschitza auch zwei Blätter mit den von Mehring gegen Luxemburgs Willen getilgten Textpassagen in ihrem Artikel »Zur Schlichtung der polnischen Zwistigkeiten« – das Corpus delicti für das ernste Zerwürfnis zwischen beiden im September 1902.

Erwähnung verdienen auch bereits zuvor entstandene Notizen für Mehrings Gebrauch. Luxemburg kommentiert darin herzerfrischend respektlos einen Artikel des Polen-Freundes Friedrich Engels in der »Neuen Rheinischen Zeitung«.

Politisch brisant sind ferner 21 Reden in Volks- und Wahlversammlungen. Auf einige von ihnen hatten bereits Erhard Hexelschneider, Harald Koth und Ulla Plener aufmerksam gemacht. Die meisten hat Ko-Editor Müller durch Aktenstudien und Recherchen in Presseorganen erschlossen. Nach der Lektüre der temperamentvollen Reden mit teils frappierenden Aktualitätsbezügen stellt sich Erstaunen ein: Welche Strapazen hat diese zierliche junge Frau während so einer Agitationstour in das Ruhrgebiet auf sich nehmen müssen, um an drei Abenden hintereinander sechs Versammlungen, darunter drei Großkundgebungen mit 2000 bis 3000 Teilnehmern, zu bestreiten. Wohlgemerkt ohne moderne Logistik, Lautsprecher und Reisekomfort.

Den Löwenanteil des Bandes bilden jedoch publizistische Texte, deren Urheberschaft die Bearbeiter – zuweilen beflügelt durch Vorarbeiten von Bernd Florath, Narihiko Ito, Ottokar Luban und Klaus Kinner – nun erstmals, nach eingehender Echtheitsprüfung, Rosa Luxemburg zuweisen können. Die schlüssige Beweisführung liefern Korrespondenzzeichen, Parallelstellen und andere Kriterien in Fußnotenkommentaren.

Der Zuwachs an »neuen« Luxemburg-Texten ist enorm. Er erlaubt es, die frühe Karriere einer der ungewöhnlichsten Journalistinnen ihrer Zeit neu zu betrachten: Wir erleben eine Autorin »mit politischem Scharfblick, erstaunlichem Einfallsreichtum, brillanter Ausdrucksweise, gefürchteter Polemik, horrender Tatsachenbesessenheit, unbändigem Widerspruchsgeist und empfindlicher Abkehr- bzw. Abwehrreaktion«. Noch jung an Jahren und erst seit kurzem in Deutschland sesshaft, musste sie bald redaktionelle Verantwortung schultern, so 1898 mit 27 Jahren (!) für die »Sächsische Arbeiter-Zeitung« (Dresden), 1902 (gemeinsam mit Mehring) für die »Leipziger Volkszeitung« und 1905 für den »Vorwärts« (Berlin).

Verweilen wir für einen Moment bei den 40 Beiträgen des vorliegenden Bandes aus der »Sächsischen Arbeiterzeitung«: Rosa Luxemburg liebte Frankreich. Seit sie 1894/1895 Marie-Édouard Vaillant, Jean Jaurès und Jules Guesde in Paris persönlich kennengelernt hatte, verband sie mehr als ein publizistisches Interesse mit dem Land ihrer Sehnsucht und dessen gespaltener politischer Linken. Am 13. Januar 1898 hatte Émile Zola in der Pariser Tageszeitung »L’Aurore« sein berühmtes »J’accuse!« veröffentlicht. Sein mutiger Einspruch gegen das Skandalurteil über Alfred Dreyfus gilt als die Geburtsstunde des modernen Intellektuellen und Vorbild kritisch-engagierter Zeitgenossenschaft. Dass die junge linke Intellektuelle Rosa Luxemburg zu jenen hellhörigen Stimmen im deutschen Blätterwald gehört, welche die Chronique scandaleuse aus erster Hand kommentiert haben, sollte deshalb niemand verwundern. Ebenso aufschlussreich ist das zeitgeschichtliche Panorama, das die sprachbegabte Autorin 1905 als Chefredakteurin des »Vorwärts« mit ihrer Kolumne »Die Revolution in Russland« entfaltet.

Von wegen nichts mehr zu entdecken? Weilte Peter Glotz noch unter uns, er würde über den neuen Band sicher staunen. So viel Luxemburg war noch nie.

Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Bd. 6. 1893 bis 1906. Hg. v. Annelies Laschitza und Eckhard Müller. Karl Dietz Verlag, Berlin 2014. 990 S., geb., 49,90 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 14. März 2014


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