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Entschleierte Verhältnisse

Pikettys Ungleichheitsanalyse kritisch gewürdigt

Von Ekkehard Lieberam *

Es ist erstaunlich: Erst im Herbst wird das umfangreiche Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty »Le capital aus XXIe siècle« (etwa 800 Seiten, 80 Seiten Statistik) in deutscher Sprache erscheinen, aber bereits seit dem Frühjahr macht es Schlagzeilen in den deutschen Print- und Onlinemedien. Piketty hat die langfristige Entwicklung von Einkommen und Vermögen in mehr als 20 westlichen Ländern vom 19. bis ins 21. Jahrhundert hinein untersucht und ist dabei zu Ergebnissen gekommen, die zunächst wenig überraschend sind. Die Reichen werden tatsächlich in der Tendenz immer reicher; die Armen werden ärmer. Im Detail aber ist seine Langzeitanalyse hochinteressant. Piketty verifiziert nicht nur die Grundtendenz des von Marx aufgedeckten allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation. Er liefert auch den Ökonomen, Historikern und Politikwissenschaftlern das bisher fehlende statistische Material, um das Auf und Ab von Vermögensbildung und -zerstörung sowie von Veränderungen von Einkommen und Vermögen im Kontext anderer Faktoren (Weltkriege, ökonomische Depressionen, politische Kräfteverhältnisse) bewerten zu können.

Im Rahmen der Reihe »Ökonomisches Alphabetisierungsprogramm« des pad-Verlages haben es zwei kompetente linke Ökonomen unternommen, vorab wichtige Ergebnisse der Untersuchungen Pikettys darzustellen, zu würdigen und über den derzeitigen Stand der empirischen und theoretischen Forschung zur sozialen Ungleichheit zu informieren.

Heinz-J. Bontrup, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Sprecher der »Memorandum-Gruppe«, zeigt vielfältige Zusammenhänge zwischen Pikettys Analysen und der seit längerer Zeit in Deutschland geführten Ungleichheitsdebatte auf. Er bescheinigt ihm eine »akribische Zusammenstellung und Auswertung« weit zurückreichender Datensätze. (S. 13) Nach Pikettys »auf Fakten beruhenden, langfristigen empirischen Beweisführungen« könne »endgültig niemand mehr behaupten, der Kapitalismus sei ein auf Leistung beruhendes, gerechtes Wirtschaftssystem.« (S. 55 f.) Piketty rücke »die wichtige Wertschöpfungsverteilung zwischen Arbeits- und Besitzeinkommen in den Blick«. Es fehle allerdings »die theoretische Fundierung für die disproportionale Verteilung«, wie sie William Petty, Karl Marx und auch der Jesuitenpater und Ökonom Oswald von Nell-Breuning geleistet haben. (S. 26) Piketty irre jedoch, wenn er unterstelle, »nur Rentiers und Couponschneider würden von der Arbeit anderer leben und sich unverschämt mit Kapitalrenditen bereichern.« (S. 10) Piketty übersehe die Eigenart des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses, die darin bestehe, daß dies »jeder Unternehmer« ebenfalls tue.

Bontrup vertieft Pikettys Analysen in verschiedener Hinsicht. Er skizziert die gigantische Machtzusammenballung im heutigen Kapitalismus. Und macht deutlich, daß die derzeitige verstärkte Entwicklung von sozialer Ungleichheit nur im Kontext der sinkenden Profitrate des Kapitals und der veränderten politischen Kräfteverhältnisse zu verstehen ist.

Albert F. Reiterer, freiberuflicher Sozialwissenschaftler in Wien und Lehrbeauftragter für Soziologie an den Universitäten Wien, Graz und Innsbruck, stellt mit Bezug auf Pikettys Website ausgewählte Ergebnisse der historischen Rekonstruktion der Einkommens- und Vermögensverteilung in den USA, England, Deutschland und Schweden vor, die bemerkenswerte Unterschiede zwischen diesen Ländern deutlich machen. Über die Entwicklungen in Österreich gibt Reiterer selbst Auskunft. Er behandelt die verschiedenen Ansätze und Indikatoren (Pareto, Kuznets und Gini), um Ungleichheit messen zu können, und macht auf Schwächen der Statistik aufmerksam (z.B., daß in der »Lohnquote« auch die Millioneneinkommen der Kapitalmanager mit mehr als 20 Prozent enthalten sind). Pikettys Herangehen, vorwiegend die Einkommensanteile der »Eliten und Oberschichten« (Superreiche = oberstes Tausendstel, Oberschicht = oberstes Hundertstel, Obere Mittelschicht = oberstes Zehntel) zu messen, hält er für sinnvoll.

Bontrup wie auch Reiterer sind sich mit Piketty in einer ganzen Reihe von Fragen einig. Gemeinsam geht es ihnen darum, die Schleier zu entfernen, die die Einkommens- und Besitzverhältnisse verhüllen sollen. Sie suchen nach Wegen, um diese Verhältnisse zugunsten der Arbeitseinkommen zu verändern. Sie verweisen darauf, daß vor allem mit dem Zusammenbruch des europäischen Realsozialismus die sozialstaatliche Einhegung des Kapitalismus sich merklich abgeschwächt hat und das Ausmaß sozialer Ungleichheit sich wieder der im 19. Jahrhundert annähert. Piketty fordert eine andere Steuerpolitik. Bontrup und Reiterer befürworten weitergehende Eingriffe in die Eigentums- und Verteilungsverhältnisse wie eine Gewinnpartizipation.

Die Erbitterung über wachsende Ungleichheit im Alltagsbewußtsein wird derzeit zum Legitimationsproblem kapitalistischer Herrschaft; die Sorge über eine »systemgefährdende Ungleichheit« beunruhigt Teile der herrschenden Klasse. Pikettys fast unglaublicher Erfolg (mit 400000 verkauften Exemplaren in den USA) hat offenbar mit dem einen wie mit dem anderen zu tun.

Heinz-J. Bontrup: Pikettys Kapitalismus-Analyse. Warum die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. 61 Seiten, 5 Euro

Albert F. Reiterer: Der Piketty-Hype – »The great U-Turn« - Pikettys Kapital und die neoliberale Vermögenskonzentration. 66 Seiten, 5 Euro
[Bezug: pad-Verlag, Am Schlehdorn 6, 59192 Bergkamen, pad-verlag@gmx.net]

* Aus: junge Welt, Montag 1. September 2014


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