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Über Bande

Zwei Briefbände der MEGA

Von Georg Fülberth *

Mit erfreulicher Sturheit erscheinen Jahr um Jahr zwei Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Gerade ist ein Band mit Exzerpten und Notizen vom Juli 1845 bis Dezember 1850 herausgekommen.

Von größerem politischem Interesse dürften zwei Briefbände sein, die schon 2013 erschienen: Band III/12 für die Zeit Januar 1862 bis September 1864, ebenfalls 2013 (tatsächlich ausgeliefert aber erst Anfang 2014) III/30: Oktober 1889 bis November 1890.

Beim Band III/12 handelt es sich um insgesamt 425 Briefe, davon 147 von Marx und Engels selbst. Über die überlieferten Texte hinaus betrug die ursprüngliche Korrespondenz aus diesem Zeitraum über 550 Briefe, eine erhebliche Zahl ist also verloren. 227 Briefe werden hier erstmals veröffentlicht, sie sind an Marx und Engels gerichtet und stellen insofern die Innovation des Bandes dar, als die Schreiben, die die beiden miteinander wechselten oder an Dritte richteten, ja schon durch die im Dietz-Verlag erschienene Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) – die berühmten »blauen Bände« – bekannt sind. Ein Text von Marx wird in diesem Band allerdings erstmals veröffentlicht: Marx hatte Lassalle für eine Italienreise ein Empfehlungsschreiben an Johann Philipp Becker ausgestellt, das nicht überliefert ist. Lassalle berichtete ihm später, dass er davon keinen Gebrauch gemacht habe, weil er dort, wo er hinkam, nur auf Leute getroffen sei, die Becker entweder nicht kannten oder nichts von ihm hielten. Dieser Brief war schon früher veröffentlicht, jetzt lesen wir ihn auszugsweise noch einmal: in einem Schreiben von Marx an Victor Schily, den Urgroßonkel eines politisch missratenen Familienmitglieds.

Die bislang unveröffentlichten »Briefe Dritter«, deren Gegenstücke sich teilweise in MEW finden, erweitern u. a. unsere Kenntnisse über die Londoner Emigrantengesellschaft. Einerseits gibt es Gegner wie Gottfried Kinkel, der in der Schmähschrift »Die großen Männer des Exils« wie in den Briefen schlecht wegkommt. Daneben dann die Genossen. Drittens, teils deckungsgleich, arme Teufel, die sich mühsam über Wasser halten, Handwerker, die, anders als Marx, keinen freundschaftlichen Mäzen hatten und denen immer wieder einmal geholfen werden musste. Damit kommen wir – viertens – zu einem weiteren Merkmal: Exilanten als finanzielle Notgemeinschaft. Hier wird nicht nur bilateral Geld verliehen, sondern vielfältig über Bande gespielt: Wechsel werden ausgestellt, Bürgschaften geleistet, Fälligkeiten haarscharf vermieden. Dass Marx, der mit Zahlen bekanntlich Schwierigkeiten hatte, im zweiten und dritten Band des »Kapital« verzwickte Berechnungen anzustellen imstande war, könnte u. a. auf diesem Training beruhen.

Der zweite Briefband, der 2013 herauskam, umfasst den Zeitraum Oktober 1889 bis November 1890 und enthält 406 Schreiben von und an Friedrich Engels. 173 davon werden hier erstmals veröffentlicht. Es fällt auf, dass die 425 Briefe von Band III/12 in einem Zeitraum von 33 Monaten entstanden (obwohl damals ja noch der intensive Schriftwechsel zwischen Marx in London und Engels in Manchester anfiel), während die 406 Briefe von III/30 sich in 14 Monaten zusammendrängen.

Ursache ist die inzwischen etablierte Stellung von Engels als Berater der internationalen Arbeiterbewegung, die sich nun als eine Vielfalt nationaler Parteien darstellte. Er war Ghostwriter und Akteur hinter den Kulissen: ohne ihn wäre der Pariser Kongress vom Juli 1889, an dem er persönlich nicht teilnahm und aus dem die so genannte Zweite Internationale hervorging, entweder gar nicht oder doch in völlig anderer Weise entstanden.

Immer wieder beklagte sich Engels darüber, dass er durch die Korrespondenz und unvermeidliche politische Interventionen in seiner Hauptarbeit jener Jahre: der Herausgabe des dritten Bandes des »Kapital«, behindert werde. Bei Marx war es ja ähnlich gewesen: Aktuelles ging immer wieder einmal vor. Beide stellten, jeder für sich, den Idealtypus des Operativen Intellektuellen dar, wie er im rein Akademischen Marxismus undenkbar ist.

Ein Vergleich der beiden Bände, deren Dokumente eine Generation auseinander liegen, macht einen Wechsel des Tons deutlich: 1862 tauschte man sich mit großer Lebhaftigkeit unter Gleichen aus, jetzt wird eine Dominanz des nunmehr 70jährigen Engels von seinen Partnern nahezu durchgehend vorausgesetzt. Das mag es ihm erleichtert haben, Dinge, die ihm nicht passen konnten, zu ignorieren. Irgendeine ideologische Sonderentwicklung seines engsten Mitarbeiters, Bernstein, war zu seinen Lebzeiten offenbar nicht bemerklich – aber ein Jahr nach Engels\' Tod veröffentlichte jener schon seine revisionistischen Auffassungen, die ihm doch nicht über Nacht zugeflogen sein werden.

Von der auf 35 Bände geplanten Briefabteilung der MEGA sind bisher erst 14 erschienen. Der Ertrag der hier vorgestellten beiden neuesten Bände lässt ermessen, welches Panorama politischer Einsichten und Beziehungen sich uns erschließen wird, wenn irgendwann einmal die Gesamtheit dieser Briefe erschienen sein wird.

Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Dritte Abteilung: Briefwechsel
Band 12. Januar 1862 bis September 1864. Bearbeitet von Galina Golovina, Tatjana Gioeva und Rolf Dlubek. Unter Mitwirkung von Hanno Strauß. Akademie Verlag, Berlin 2013, 1.529 S., 198 Euro

Band 30. Oktober 1889 bis November 1890. Bearbeitet von Gerd Callesen und Svetlana Gavrilčenko. Unter Mitarbeit von Regina Roth und Renate Merkel-Melis. Akademie Verlag, Berlin 2013, 1.532 S., 198 Euro


* Aus: junge Welt, Montag, 20. April 2015


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