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Gewaltsame Enteignung

Frank Deppe hat ein Buch über die Aushöhlung der Demokratie geschrieben

Von Gerd Bedszent *

Gemäß der derzeit vorherrschenden Doktrin wird Demokratie (altgriechisch: Volksherrschaft) mit bürgerlichem Parlamentarismus gleichgesetzt. Zudem wird behauptet, letzterer könne sich nur unter den Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftens frei entfalten.

Frank Deppe, emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus, widerspricht in »Autoritärer Kapitalismus« diesem Dogma deutlich. Er unterscheidet schon für die Frühphase des Kapitalismus zwischen demokratischen Vorkämpfern und liberalem Bürgertum. Das vertrat, wie er an zahlreichen Beispielen nachweist, von Beginn seiner Existenz an stets auch demokratiefeindliche Positionen. Für die Gegenwart nennt der Autor zahlreiche Beispiele für die Aushöhlung der Demokratie mit Hilfe neoliberaler Reformen und weist zu Recht darauf hin, daß diese vom bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb zumeist nicht zur Kenntnis genommen werden.

Gewaltcharakter

Unter Berufung auf den britisch-US-amerikanischen Geographen und Sozialtheoretiker David Harvey vertritt Deppe die These, daß sich als Folge der großen Krise von 2008 derzeit ein neuer Typ von »autoritärem Kapitalismus« durchsetzt. Wo das Kapital an seine Grenzen stoße, werde das Problem im Zeichen des Neoliberalismus durch gewaltsame Enteignung ganzer Bevölkerungsgruppen gelöst. Der Autor thematisiert aber nicht, daß diese Ausplünderung die fundamentalen Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise nicht auf Dauer lösen kann: Irgendwann stößt das Ausquetschen von Arbeitskraft und Kleinbesitz an eine Grenze, hinter der die einfache Reproduktion der Betroffenen nicht mehr gewährleistet ist. Deppe geht es darum, nachzuweisen, daß der gegenwärtige Kapitalismus zunehmend seinen Gewaltcharakter offenbart. Seinen Schwerpunkt setzt er auf drei Länder: Rußland, China und Indien.

Der Autor beschreibt die Installation des jetzigen Regimes in Rußland zutreffend als Krisenreaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow und auf die Plünderungsorgien unter Boris Jelzin in den 90er Jahren. Mit ihnen wurde das Land an den Rand des Abgrundes getrieben. Durch die Politik der »gelenkten Demokratie« unter Wladimir Putin konnte sich der russische Staat stabilisieren. Das vom Autor vorgelegte Zahlenmaterial belegt zweifelsfrei eine wirtschaftliche Erholung – allerdings auf niedrigem Niveau. Obwohl 83 Prozent der Russen als arm gelten, tolerieren sie die Herrschaft einer Oberschicht steinreich gewordener Exapparatschiks und fürchten die Wiederkehr neoliberaler Grausamkeiten der Ära Jelzin.

Soziale Spaltung

Die Volksrepublik China schildert der Autor als klassisches Modell nachholender kapitalistischer Entwicklung, ungeachtet der Tatsache, daß das Land von einer kommunistischen Partei regiert wird. Von westlichen Investoren werde letztere durchaus toleriert, solange sie als Garant für Ordnung und sozialen Frieden wirke. Den konnte das Regime trotz zunehmender sozialer Spaltung bisher bewahren – zum Teil durch offene staatliche Repression, zum Teil aber auch durch erfolgreiche Vermittlung zwischen Forderungen der Unternehmen und den Lebensinteressen der Bevölkerung. Für einen von neokonservativen Hardlinern im Westen nach wie vor angestrebten baldigen Sturz der Einparteienherrschaft in China gibt es aus Deppes Sicht derzeit kaum Anzeichen.

In der Indischen Union, der bevölkerungsreichsten bürgerlichen Demokratie der Welt, habe sich, wie der Autor schreibt, eine gigantische soziale Kluft zwischen einer Minderheit von »Modernisierungsgewinnern« und einer immer mehr verarmenden Bevölkerungsmehrheit aufgetan. Zusammen mit den noch immer feudalen Verhältnissen auf dem Lande habe diese Situation zu einer Eskalation von Gewalt geführt – zu Aufständen und Sozialprotesten, aber auch zu Pogromen und ethnisch motivierten Gemetzeln.

Wie Deppe schreibt, leben derzeit (Stand 2011) nur 11,3 Prozent der Weltbevölkerung unter demokratischen Verhältnissen. Es wäre also durchaus möglich gewesen, noch viele weitere autoritäre Regimes darzustellen. Darauf verzichtet der Autor. Die von ihm kurz als kapitalistisches Musterländle erwähnte Republik Singapur ist zum Beispiel einer der repressivsten Staaten der Welt mit Rekordzahlen bei vollstreckten Todesurteilen.

Abschließend heißt es bei Deppe, daß »die herrschende Klasse die Krise nicht löst, sondern eher verstärkt«. Das Potential für soziale Unruhen und politische Explosionen werde daher zunehmen. Die in den vergangenen Jahren neu entstandenen sozialen Bewegungen verbänden Kapitalismuskritik mit einer Erneuerung der Demokratie. Wie die aussehen soll, läßt der Autor offen. Dennoch: Ein sehr wichtiges und lesenswertes Buch.

Frank Deppe: Autoritärer Kapitalismus - Demokratie auf dem Prüfstand. VSA Verlag, Hamburg 2013, 299 Seiten, 24,80 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 6. Januar 2014


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