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Kein Stillstellen

Ein Sammelband mit Beiträgen zur Revolutionstheorie

Von Peter Römer *

Die Marx-Engels-Stiftung Wuppertal hielt im Spätherbst 2012 ihren vierten Leverkusener Dialog ab, um Wege aus dem Kapitalismus zu suchen. Die Beiträge dieser Tagung sind in dem von Manuel Kellner, Ekkehard Lieberam und Robert Steigerwald herausgegebenen Band »Reform und Revolution. Revolutions- und Klassentheorie im 21. Jahrhundert« enthalten. Lieberam verweist darin klar, knapp und sehr informativ auf die Geschichte der Revolutionen. Der heutige Kapitalismus sei in hohem Maße gesellschaftlich instabil geworden. Vergleichbare Verhältnisse seien allenfalls Anfang des 16., Ende des 18. und während der ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu finden gewesen. Für eine Übergangsstrategie fordert er, die »Lohnabhängigen politisch gegenüber der herrschenden Klasse zu emanzipieren.«

Lieberam sieht, und darin ist ihm voll zuzustimmen, in der Klasse der Lohnabhängigen die bestimmende, die entscheidende Kraft in den kommenden Klassenauseinandersetzungen. Kern dieser Klasse sind, so ist zu ergänzen, die unmittelbar in der Warenproduktion Arbeitenden, die Klasse im klassischen Sinn also. Die Klasse der Lohnabhängigen ist aber sehr viel größer und keineswegs in sich einheitlich, objektiv eint sie der grundsätzliche Widerspruch zum Kapital. Ein einheitliches Klassenbewußtsein hat sie gewiß auch nicht, aber ein Klassengefühl beginnt sich aus dem meist noch ziemlich vagen, leidvollen Empfinden herauszubilden, die gesamte Lebenssituation werde von den Kapitalherrn und Kapitalfrauen bestimmt.

Der vielfältig differenzierten und geschichteten Lohnabhängigenklasse können durchaus auch hoch und höchstbezahlte Dienstleister, Ideologieerzeuger, Künstler, Wissenschaftler usw. angehören. Lohnabhängig ist nicht nur die Näherin in Bangladesch, bei der es um ihr nacktes Leben und das ihrer Familie geht. Auch wer nur durch seinen Lohn, mag dieser auch Gehalt, Tantieme, Honorar, Prämie oder wie auch immer heißen, seine Lebensgestaltung finanzieren muß, ist, weil er dies nicht aus Kapitaleinkünften tun kann, lohnabhängig.

Skeptische Theorie

Der Beitrag von Lieberam hätte es verdient, Referate und Diskussion zu strukturieren; weil dies nicht der Fall war, wirken die weiteren Beiträge wenig und nur punktuell aufeinander bezogen.

Die Beantwortung der Frage, ob Reform oder Revolution möglich und anzustreben sei, setzt voraus, daß man weiß, wie der zu schaffende Sozialismus ausgestaltet sein soll. Da gibt es in Vergangenheit und Gegenwart sehr unterschiedliche Modelle und Realisierungen, die höchst kontrovers beurteilt wurden und werden. Damit befassen die Beiträge des Tagungsbandes sich aber leider nur am Rande.

Eine Ausnahme bildet Karl Hermann Tjadens Text »Probleme einer Kritik kapitalistischer Gesellschaftsformation im 21. Jahrhundert«. Er lehnt eine Steigerung der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit ab und bedauert den »Produktivkraftfetischismus« von Marx. Hier wie in seinen anderen Schriften zu diesem Thema fügt Tjaden einige Bruchstücke einer ökologisch-sozialen Theorie aneinander, einer Theorie, die sich als skeptisch und ablehnend erweist gegen Fortschritt und Aufklärung, die in der Technik vor allem eine zerstörerische Kraft sieht, die, wenn man nicht innehält – oder besser: umkehrt – zur Alleszerstörerin wird.

Tjaden stellt fest, »die Substanz der Probleme«, nämlich der Beziehungen der Menschen zueinander und zur Umwelt.bilde nicht die Arbeit. »Grundlegend ist vielmehr ein Gefüge (?) gewaltsamer Tätigkeiten«, mit denen über Mensch und Tier verfügt werde. Das ist so richtig, wie es banal ist. Richtig ist aber auch, daß dies »Gefüge« gewaltsamer Tätigkeiten, von Beginn der Menschwerdung an ein grundlegend anderes war, je nachdem, ob das gewaltsame Verhalten sich gegen Menschen oder gegen andere Objekte, mögen es Tiere sein oder leblose Naturbestandteile, richtet. Art und Ausmaß der Gewalt gegen die nichtmenschliche Umwelt ist eine Folge der jeweiligen Gewalt, die Menschen gegen Menschen anwenden. Die Spezifik dieser Gewalt kann erkannt und von ideologischen Verklärungen und Verschleierungen entkleidet werden, wenn man Marxens methodischen Hinweis folgt: »Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten – ein Verhältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht –, worin wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden.« Und auch der jeweiligen Einwirkungen auf die Natur. Die Feststellung, daß Gewalt zwischen Menschen ausgeübt wird und wurde, ist für Marx keine staunenswerte wissenschaftliche Erkenntnis, sondern Anlaß, die Entstehung und die Formen der jeweiligen Gewaltverhältnisse zu untersuchen. Er stellt fest, daß die Gewaltfreiheit der Ausbeutung ideologischer Schein ist, weil ökonomischer Zwang ausgeübt wird und weil das Privateigentum durch rechtliche und staatliche Zwangsgewalten geschützt werden muß.

Wachstumsstopp

Tjaden will ein neues sozialökonomisches Produktivitätsmodell »jenseits von leeren Begriffen wie ›Eigentumsfrage‹ und ›Plan‹ und ›Markt‹« entwerfen. Damit widerspricht er Marx in einem zentralen Punkt, denn durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln und den produzierten Waren werden nicht nur der gesamtgesellschaftliche Produktionsprozeß, sondern auch die politischen, rechtlichen, ideologischen und sonstigen Überbauten bestimmt.

Der Autor fordert einen Wachstums- durch einen Akkumulationsstopp und die Beschränkung auf eine stationäre Wirtschaft, in der arbeitsintensive Investitionen anstelle von kapitalintensiven vorgenommen werden. Arbeitsmenge und -intensität sollen vergrößert werden und nicht das konstante Kapital. Bei der Vergrößerung der Gesamtarbeitsmenge müsse aber darauf geachtet werden, daß sie nicht »durch undurchdachte Arbeitszeitverkürzungen zunichte gemacht wird«.

Tjaden verschließt die Augen vor dem Problem, wie denn die Menschen vom Zwang zur Arbeit entlastet – und im Kommunismus dann weitestgehend befreit – werden können, ohne die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit ständig zu steigern. Um Milliarden von Menschen von Hunger und Not zu befreien ist Produktivkraftsteigerung unabdingbar. Im Kapitalismus geht sie zusammen mit Krisen und Schäden für Mensch und Natur. Diese widersprüchliche Einheit haben Marx und Engels eingehend analysiert. Der Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit reproduziert sich in zahlreichen weiteren Widersprüchen, die sich allesamt in ständiger Bewegung befinden. Ziel der Lohnabhängigen ist, dieses ganze Widerspruchssystem durch Abschaffung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln aufzuheben und, solange dies nicht möglich, die Widersprüche in ihrem Interesse zu nutzen. Vom Stillstellen war bei Marx und Engels nicht die Rede. Waren halt keine Romantiker, die zwei.

Manuel Kellner/Ekkehard Lieberam/Robert Steigerwald (Hrsg.): Reform und Revolution - Revolutions- und Klassentheorie im 21. Jahrhundert. Laika Verlag, Hamburg 2013, 144 Seiten, 12,80 Euro

* Peter Römer ist Professor, Jurist und Politikwissenschaftler. Im Internet: www.roemer-peter.de

Aus: junge Welt, Montag, 30. September 2013



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