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Etwas bleibt immer

Helmut Bock begab sich auf die Spur sozialer Revolutionen

Von Karlen Vesper *

Ich konnte mitfühlen, als ich auf rückseitigem Klappentext des persönlich gewidmeten Exemplares des Buches von Helmut Bock die vom ihm mit Kugelschreiber vorgenommenen zwei Korrekturen entdeckte. Das erinnerte mich daran, wie ich vor Jahren auf der Buchmesse – beschämt und bestürzt – eine Autorenzeile in weit mehr als zweihundert Exemplaren der »nd«-Literaturbeilage handschriftlich korrigierte. In letzter Redaktionsschlussminute war eine Rezension ausgewechselt worden, der Name des Verfassers indes nicht. Als die Hand erlahmte, ja schon schmerzte, fügte ich mich der Einsicht eines unkorrigierbaren Fauxpas. Gedruckt ist gedruckt. Geschehenes lässt sich nicht ungeschehen machen. Geschichte lässt sich nicht korrigieren. Doch im Gegensatz zu einer vielfach geäußerten Meinung bin ich überzeugt, dass sie klüger, mitunter weise macht.

Deshalb lese man, was jetzt aus der Feder von Helmut Bock erschienen ist, der drei Jahrzehnte an der Akademie der Wissenschaften der DDR geforscht und publiziert hat. Wissend und geistreich zeichnet er ein pralles, atemberaubendes Geschichtspanorama. Er durchschreitet die letzten zwei Jahrhunderte auf der Suche nach dem Geist sozialer Revolutionen, den Motiven, die Millionen Menschen auf Straßen und Plätze oder gar Barrikaden trieb.

Freiheit ohne Gleichheit? Nun, die Frage, mit der das Buch des gebürtigen Rheinländers getitelt ist, beantworten derzeit Hunderttausende von Rio de Janeiro über Kairo, Madrid und Athen bis Istanbul. Das Freiheitsversprechen genügt nicht, es macht nicht satt, garantiert allein nicht ein Leben in Würde, unverletzt an Leib und Seele. Das Verlangen nach Gleichheit führt die Proteste an. Mündige Menschen opponieren gegen Bevormundung, gegen korrupte Staatsdiener, zynische Spekulanten und Reiche, die gemeinhin nur durch Unrechttun reicher werden, während vom Volk erwartet wird, dass es brav, ohne Murren darbt.

Die Ouvertüre zu Bocks Opus ist ein Fanfarenstoß: »Liberté! Égalité! Fraternité!«, der verheißungsvolle, von der Aufklärung genährte Dreiklang der Revolution der Franzosen von 1789. »Frei und gleich an Rechten werden die Menschen geboren und bleiben es«, verhieß Artikel 1 der »Déclaration des droits de l‘hommes et du citoyen« von 1789. Ergänzt wurde dieser in der vier Jahre später verfassten neuen, republikanischen Konstitution um den Satz: »Die Regierung ist eingesetzt, um den Menschen den Gebrauch seiner natürlichen und unverjährbaren Rechte zu verbürgen.« Artikel 2 konkretisierte diese Rechte. An erster Stelle gesetzt wurde die Gleichheit, danach erst folgen als von der öffentlichen Gewalt zum Wohle aller zu schützenden Güter Freiheit, Sicherheit und Eigentum. Kodifiziert wurde Volkssouveränität und dank Robespierres erstmals das Sozialstaatsgebot als »heilige Schuld« aller Regierungen: »Die Gesellschaft übernimmt den Unterhalt der in Not geratenen Bürger, sei es, indem sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig sind, die Mittel für ihr Dasein sichert.«

Gewiss, schon damals ging diese Deklaration manchen nicht weit genug. Jacques Roux etwa von den Enragés (Wütenden) klagte: »Die Freiheit ist ein leerer Wahn, solange eine Menschenklasse die andere ungestraft aushungern kann. Die Gleichheit ist ein leerer Wahn, solange der Reiche mit dem Monopol das Recht über Leben und Tod seiner Mitmenschen ausübt ... Soll das Eigentum der Gauner unverletzlicher sein als Menschenleben?« Worte, eingemeißelt im historischen Pflaster. Immer wieder auf- und ausgerufen, andernorts, zu anderen Zeiten, wenn die Zustände menschenunwürdig waren. Zumeist spontan von den Geknechteten und Entrechteten, die sich das »Recht auf Widerstand gegen Bedrückung« nahmen, das sich ebenfalls bereits in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 findet.

Die Französische Revolution blieb eine bürgerliche, und die soziale Gerechtigkeit einfordernden Sansculotten, Menschen, die von ihrer Hände Arbeit lebten, blieben auf der Strecke. »Damit selbst nur diejenigen Siegesfrüchte vom Bürgertum eingeheimst wurden, die damals erntereif waren, war es nötig, dass die Revolution bedeutend über das Ziel hinausgeführt wurde«, urteilte Friedrich Engels.

Das trifft auch andere Revolutionen zu. 1848 entzündete sich, entfacht durch eine zyklische Industrie- und Handelskrise, der Funke erneut in Paris, sprang über auf Wien, Berlin und Budapest, erfasste ganz Europa, das unter restaurativen Regimen stöhnte. »Ob konstitutionelle Monarchisten oder entschiedene Republikaner, ob reformerische Sozialisten oder sozialrevolutionäre Kommunisten – ein jeder erstrebte auf seine Weise die Fortsetzung und zugleich die Korrektur der 1789 begonnenen Revolution«, schreibt Bock. Radikalisierung erfuhren die 1848er Kämpfe durch die proletarischen Massen. Zur Phrygischen Mütze hatte sich bereits im Lyoner Weberaufstand von 1831 das Rot der Arbeiterfahne gesellt. Und auch in Preußens Hauptstadt wurde nun das Recht auf Arbeit eingefordert.

»Am Anfang war der Krieg.« Diese Feststellung trifft Bock für zwei andere von ihm inspizierte Revolutionen: Zum einen für die am 28. März 1871 ausgerufene Pariser Kommune, die aus der Empörung über die vor dem Preußen Bismarck kapitulierende bürgerliche Regierung Thiers erwuchs, die erste proletarische Revolution, die – so Bock – eine »defensive« war. Er teilt nicht die »zum Teil idealisierenden Einschätzungen« von Karl Marx, betont aber als Vermächtnis der Kommunarden bis in unsere Tage »kommunale Basisdemokratie und soziale Republik«.

Die zweite kriegsgeborene, gegen weit blutigeres Völkergemetzel gewandte Revolution war die russische von 1917. Frauen gingen voran, verlangten im Petrograder Stadtteil Wyborg »Brot!« für ihre Kinder. Ihnen schlossen sich die Männer an, Arbeiter, kriegsmüde Soldaten und Matrosen, schließlich die Bauernschaft und nicht zu vergessen die revolutionäre Intelligenz. Da erst »erzitterte die Zarenmacht«, bemerkte der von Bock zitierte Sozialist und Historiker Wenedikt Mjakotin. Die bürgerlichen Schichten hätten »einen bescheidenen Anteil« genommen, aber ohne die Massen wäre die größte Errungenschaft der russischen Revolution, der Sturz der Despotie, undenkbar. Gleichwohl die Massen noch nicht die Reife hätten, eine »völlig neue soziale Ordnung« zu errichten, würden sie, so Mjakotin, sich nicht mehr mit der Zuschauerrolle begnügen. Was sich sogleich in der Entrüstung über die Fortsetzung des Krieges durch die Provisorische Regierung bestätigte. Nun konnte Lenin mit seinen Bolschewiki den zweiten Akt gestalten. Die ersten Dekrete des II. Sowjetkongresses entsprachen millionenfacher Forderung nach Frieden und Grund und Boden. Dem unblutigen Oktoberaufstand folgten blutiger Bürgerkrieg, Intervention, Kriegskommunismus. Die in Lenins »Aprilthesen« skizzierte Vision eines Volksstaates à la Pariser Kommune wurde Makulatur, Stalins Konterrevolution schlug zu.

So kritisch Bock, der in jungen Jahren angesichts gesellschaftlicher Restauration aus der Trizone in die Sowjetzone gewechselt war und in Leipzig bei einer »Plejade antifaschistischer Professoren« (Bloch, Markov, Engelberg, Mayer) studiert hatte, die einst partei- und staatsoffiziell verklärte »Große Sozialistische Oktoberrevolution« betrachtet, so vehement widerspricht er ihrer Diffamierung als Büchse der Pandora. Im Postskriptum zu diesem Kapitel zitiert er erneut aus Engels' Einleitung zu Marxens »Klassenkämpfe in Frankreich«: »Die Errungenschaften des ersten Sieges wurden erst sichergestellt durch den zweiten Sieg der radikaleren Partei, war dies und damit das augenblicklich Nötige erreicht, so verschwanden die Radikalen und ihre Erfolge wieder vom Schauplatz.«

Es bleibt immer etwas. Auch nach Niederlagen. Sei es die Einsicht in Irrtümer und Unzulänglichkeiten. Sei es eine aus der Erkenntnis verlorener sozialer Standards erwachende neue Empörung. Ein Volk, das soeben einen Autokraten gestürzt hat, wird sich nicht so leicht einem neuen fügen, wie die Ägypter dieser Tage beweisen. Und mögen die Ergebnisse mitunter minimal erscheinen – auch mit der Rücknahme überteuerter Lebensmittel- und Fahrpreise, der Zurückweisung dreister Immobilienhaie oder auch nur zeitweiliger Zähmung allzu gieriger Banken ist etwas ertrotzt. Freiheit und Gleichheit für alle Menschen freilich gibt es nicht in einer Gesellschaft, deren Gesetz die tägliche Reproduktion von Elend ist. Der aufgeklärte Kapitalismus war, ist und bleibt eine Mär.

Aktuelle Rebellionen zu kommentieren, hält sich der Geschichtsprofessor, der im Wendeherbst '89 euphorisch für einen besseren Sozialismus demonstrierte, zurück. Ihm fällt es schwer, heute »›Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!‹ zumindest als utopisches Richtzeichen am dunklen Himmel der United Nations zu erkennen«. Aber, wer weiß, vielleicht werden die heutigen Enragés dem Revolutionsforscher Helmut Bock doch noch Anlass zu neuem historischen Optimismus geben.

Helmut Bock: Freiheit – ohne Gleichheit? Soziale Revolution 1789 bis 1989. Tragödien und Legenden. Karl Dietz., 413 S., geb., 34,90 €.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 2. Juli 2013


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