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Das verrückte Kapital

Antonio Negri über die Krise, prekäre Arbeitsverhältnisse, die Multitude und den Kommunismus

Er spricht noch von Arbeitern und von Kapitalismus. Aber schon in den 70er Jahren sah Antonio Negri nicht mehr in der Fabrik den zentralen Ort der Produktion und des Klassenkampfes. Und den gegenwärtigen weltumspannenden Kapitalismus nennt er »Empire« – so lautet auch der Titel seines ersten, mit dem US-amerikanischen Wissenschaftler Michael Hardt verfassten Buches (2002), das vom slowenischen Philosophen Slavoj Zizek als das »kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts« geadelt worden ist. In dem von der globalisierungskritischen Linken stark rezipierten Folgeband des Autorenduos Negri/Hardt, »Multitude – Krieg und Demokratie im Empire« (2004), wird die Vielfalt der produzierenden und agierenden Subjekte, »Singularitäten«, als das Potenzial einer wahrhaften Demokratie vorgestellt. Der dritte Band ihrer Trilogie, »Commonwealth«, erschien jetzt in englischer Sprache. Nicht nur, um die Wartezeit der Übersetzung auch dieses Werkes ins Deutsche zu überbrücken, sollten egagierte Linke den dieser Tage bei der Edition Tiamat herausgekommenen Interviewband des Historikers Raf Valvola Scelsi mit Negri, »Goodby Mr. Socialism. Das Ungeheuer und die globale Linke« (239 S., br., 16 €), lesen. Er diskutiert aktuelle Probleme von Chiapas über Irak bis China. Mit dem italienischen Neomarxisten sprach mit Unterstützung der Dolmetscherin STEFANIA MAFFEIS dieser Tage in Berlin für das "Neue Deutschland" (ND) KARLEN VESPER.

ND: Nun ist der Kapitalismus nicht kollabiert, wie von Feuilletonisten mit Ausbruch der Finanzkrise schon orakelt worden ist?

Negri: Der Kapitalismus in seiner neoliberalen Form ist am Ende. Das ist offensichtlich. Er steckt in einer tiefen Krise und sucht nun nach neuen Formen der Macht.

Einstige Verfechter des Neoliberalismus fordern jetzt stärkere staatliche Interventionen.

Um die Allmacht der Märkte etwas zu dämpfen. Man weiß aber noch nicht, wie weit diese staatlichen Interventionen in der Ökonomie gehen dürfen. Man hat noch keine Orientierung. Wirklich bedeutsam ist, was Barack Obama in den USA mit der Gesundheitsreform versucht. Sie zielt auf zentralistische Stabilisierung und auf Welfare, Wohlfahrt. Sie ist wichtig, denn sie schafft Mobilität für die gesellschaftliche Produktivität.

Und derart kommt der Kapitalismus wieder auf die Beine? Kann so die vom unproduktiven, spekulierenden Finanzkapital ausgelöste Krise überwunden werden?

Das Finanzkapital ist keines wegs unproduktiv, im Gegenteil, sehr produktiv. Das Problem ist, dass es unfähig ist, die gesellschaftliche Produktivität zu verstehen. Der industrielle Kapitalismus hat diese noch sehr gut verstanden. Er wusste, wie die Arbeitszeit einzuteilen, wie die Arbeiterkasse auszubeuten ist. Er hatte ein genaues Maß vom Anteil notwendiger Arbeit und Ausbeutung der Arbeit. Das Finanzkapital hat die Verbindung zum Ort der Arbeit verloren und damit das Maß von gesellschaftlicher Arbeit. Das hat den Finanzkapitalismus in Schwierigkeiten gebracht. Es müssen politische Formen der Vermittlung zwischen Finanzkapital sowie gesellschaftlicher Arbeit und gesellschaftlichem Reichtum gefunden werden.

Wenn der Staat wieder stärker in die Ökonomie eingreift, sollten wir da unsere alten Stamokap-Hefte der 70er Jahre respektive unsere Lenin-Exzerpte wieder hervorkramen? Zum Studium des Staatsmonopolkapitalismus?

Die Imperialismusanalyse von Lenin war zu seiner Zeit stimmig. Heute haben wir die Einheit des kapitalistischen Projekts auf globaler Ebene, keine nationale Grenzen kennend. Die Globalisierung des Finanzkapitals hat zu einer Finanzialisierung der Welt geführt. Alle sozialen Beziehungen und nicht nur die Produktionstätigkeit werden über die Banken vermittelt und abgewickelt. Ich nenne das den »Kommunismus des Kapitals«, in Anlehnung an Karl Marx, der in seinem »Kapital« die Aktiengesellschaften den »Sozialismus des Kapitals« nannte. Gesellschaftliche Ersparnisse werden im Finanzprozess absorbiert.

Was kann man dagegen tun?

Man muss sich der Macht der Banken und Börsen widersetzen.

Wie denn?

Indem man gegen die Immobilienrendite kämpft, gegen die Zinsen, gegen die Lohnbesteuerung.

Dafür dürfte sich eine Mehrheit finden.

Das sind die Realitäten, durch die heute Ausbeutung funktioniert. Schon wenn man eine Kreditkarte benutzt, wird man ausgebeutet.

Kreditkarten wegwerfen, einstampfen? Das klingt zu einfach.

Es gibt verschiedene Widerstandsformen. Dazu gehört die Verweigerung der Arbeit oder Widerstand gegen die Arbeit, die in der kapitalistischen Organisation der Produktion stets Sklaverei ist. Der Kapitalismus ist verletzlicher geworden. Eine rebellierende Peripherie greift schon das Zentrum der Macht an. Und das Empire hat die Peripherien multipliziert, sie befinden sich nun auch in den Metropolen. Eine Rebellion wie in den Banlieues von Paris trifft ins Herz des Empire.

Sich der Arbeit verweigern – leichter gesagt, als getan. Wovon leben? Die Menschen sind froh, wenn sie Arbeit haben, nicht nur von Almosen des Staates leben müssen. Wie lange kann sich eine Gesellschaft »Out-casts«, brachliegende menschliche Arbeitskraft, verweigerte kreative Potenziale leisten? Im alten Rom konnte der Plebs nur auf Kosten der geplünderten Provinzen über einen gewissen Zeitraum versorgt werden.

Sie haben recht, die zunehmende Prekarisierung ist ein sehr gefährliches Phänomen. In Italien ist es ein bisschen anders als in Deutschland. Größere Teile der zwar formal vom Produktionsprozess Ausgeschlossenen sind durch Schwarzarbeit, die 20 bis 30 Prozent ausmacht, informal integriert. Man kann die heutige Situation jedoch nicht mit dem späten Rom und auch nicht mit den 1930er Jahren in Deutschland vergleichen. Ich sehe in der Bundesrepublik keine Situation à la Döblin.

Ich sehe das Problem woanders. Arbeit ist heute nicht identisch mit der Fabrikarbeit des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch wenn Linke und die Gewerkschaften dies noch immer nicht wahrhaben wollen, noch dem fordistischen Modell des Kapitalismus verhaftet sind und nur ihre »Blaumänner« kennen. Die Arbeit hat sich gewandelt.

Inwiefern?

Wir sind mit einer zunehmenden immateriellen, kognitiven und kooperativen Arbeit konfrontiert, einer selbstständigen und selbstverwertenden. Anders als die klassische materielle Arbeit, die auf Arbeits- und Produktionsmittel angewiesen war, die das Kapital zur Verfügung stellte, ist die heutige immaterielle und kognitive Arbeit unmittelbar produktiv, befreit vom Unterordnungsverhältnis, das die materielle Arbeit kennzeichnete, damit zugleich aber auch von Sicherheiten, die noch der Fabrikarbeiter kannte. Eine breite Schicht ist heute gezwungen, in völlig anderen räumlichen und zeitlichen Kontexten unter enorm prekären Bedingungen zu arbeiten. Dieses produktive Subjekt eignet sich selbst die Arbeitsmittel an, ist variables und zugleich fixes Kapital. Über die Finanzialisierung wird versucht, diese fixen Kapitale zusammenzuhalten.

Das Maß des gesellschaftlichen Reichtums hängt heute nicht mehr vom klassischen Wertgesetz ab. Und über diese Tatsache sind die Kapitalisten ebenso erstaunt und irritiert wie die Linke.

Kann der Schock, den die Finanzkrise dem Kapitalismus doch immerhin in die Glieder gejagt hat, ihn zum Wandel nötigen – hin etwa zu einem aufgeklärten oder moderaten Kapitalismus?

Der Kapitalismus ist immer ein Dieb. Es gibt keinen guten oder besseren Kapitalismus, keinen moderaten, rationalen oder gerechten. Es gibt nur einen Kapitalismus, der funktioniert – das ist der Räuber. Und einen, der nicht funktioniert und Formen von »Verrücktheiten« annimmt, die sehr gefährlich sein können. Das Kapital lebt von Ausbeutung. Und Ausbeutung ist nie gerecht. Die Vorstellung, es könnte eine gerechte, gar egalitäre kapitalistische Herrschaft geben, ist absurd. Was man innerhalb des Empires tun kann und muss, ist: den Kapitalismus dazu zu bringen, nicht »verrückt« zu werden.

Seine Kriege sind »verrückt«, mörderisch und selbstmörderisch.

Ebenso wie die Arbeit hat sich der Charakter der Kriege geändert. Wir haben es heute nicht mehr mit den klassischen, zwischen Nationen geführten Kriegen zu tun. Der Krieg dient heute vielmehr dazu, die Weltordnung zu justieren und zu reorganisieren. Er ähnelt heute eher einer Polizeiaktion hoher Intensität. Er hat die großen Industrie- und Finanzmächte gegen alles abzuschirmen, was ihnen gefährlich werden könnte, soll ihre Herrschaft bewahren, reorganisieren. Das Empire wird von einer manischen Gier getrieben, seine Kontollmechanismen global stetig zu erweitern und zu perfektionieren.

Sie sagen: Der Kapitalismus ist ein Dieb. Können Sie mir auch sagen, wer den Dieb dingfest macht? Oder zumindest schon mal ausruft: Haltet den Dieb!

Die Multitude.

Die an die Stelle der Proletarier getreten ist?

Das ist die neue Klassenrealität, entsprechend der neuen Organisation der Arbeit, den neuen Formen der Ausbeutung. Der Begriff ist Spinozas »Multitudo« angelehnt. Wir haben es mit einer Vielzahl von Singularitäten zu tun, die nicht homogen sind, wie es das klassische Proletariat war. Sie verkörpern die ganze Spannbreite diverser Lebensstile und Lebensentwürfe. Sie eint kein einheitlicher Wille, dennoch haben wir es hier mit einer politischen Klasse zu tun, weil ihre Interessen der Herrschaft des Empires entgegenstehen.

Was sind die Interessen der Multitude?

Globale Bürgerrechte, bedingungsloses Einkommen, Wiederaneignung des Gemeinsamen, des Gemeinwesens und Demokratisierung der Weltgemeinschaft.

Und wie soll das der Multitude gelingen?

Wo es Masse gibt, gibt es Energie. Schauen wir auf die globalisierungskritische Bewegung, die Sozialforen: Die hier engagierten jungen Leute sind nicht weniger revolutionär als die Bolschewiki. Sie reißen Mauern und Grenzen ein, die der Kapitalismus aufgerichtet hat. Das ist heute der Klassenkampf. Oder schauen wir nach Lateinamerika, wo sich soziale Bewegungen mit den Regierenden verbinden und neuartige Transformationen wagen. Man muss den Bruch organisieren, ähnlich wie einst die Sowjets, aber in einer andersartigen, pluraleren und differenzierteren Welt. Insubordination, Rebellion, Insurrektion sind legitim. Das Recht auf Widerstand ist ein Grundrecht.

Apropos Mauern: Was mit dem Fall der Berliner Mauer wegbrach, war das Sozialismus?

Das war ein schlecht gemachter Sozialismus, der nicht in Richtung Kommunismus ging.

Deshalb ist er gescheitert?

Er ist gescheitert, weil er sich wie eine kapitalistische Gesellschaft verhielt, kapitalistischen Gesetzen des Wachstums unterwarf – mit dem Unterschied, dass der Arbeitgeber der Staat war und als herrschende Klasse die Arbeiter galten.

Ist der Realsozialismus an der Planwirtschaft gescheitert, wie man gemeinhin hört und liest?

Nein. Bedeutende Wirtschaftswissenschaftler wie John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter hielten eine planwirtschaftliche Ordnung für machbar und sinnvoll. Die Sowjetunion als die zentrale Macht des Realsozialismus scheiterte vor allem am immensen militärischen Druck von außen, an den Handelsblockaden und dem militanten Antikommunismus. Wenn drei Viertel der Einkommen gebraucht werden, um Panzer und Raketen zu bauen, leidet natürlich die Versorgung der Bevölkerung mit den Mitteln des täglichen Bedarfs. Es ist zwar unter ungeheuren menschlichen Anstrengungen gerade in der Zeit des monströsen Stalinismus gelungen, ein rückständiges Land zu industrialisieren und zu modernisieren. Doch ist es nie gelungen, über ein gewisses Akkumulationsniveau hinauszukommen. Hinzu kam der Mangel an Freiheit. Und so konnten die westlichen Strategien des Containments und Roll-backs letztlich erfolgreich sein.

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir alle in der Schuld der Völker der Sowjetunion sind, ihnen nicht genug danken können. Ohne ihre Opfer hätten die Nazis den Krieg gewonnen und wir alle sprächen heute Deutsch.Hat sich mit dem Umbruch 1989/90 der Sozialismus endgültig aus der Geschichte verabschiedet oder ist er noch machbar?

Interessanterweise gibt es heute neuen Arten der Kommunikation und Interaktion, die sehr viel eher sozialistisch als kapitalistisch sind.

Sie meinen das Internet? Konrad Zuse und Arno Peters sprachen vom Computer-Sozialismus.

Man sollte sich nicht so sehr auf das Wort Sozialismus kaprizieren. Die Parole auszugeben: »Sowjetmacht plus Internet ist der neue Sozialismus« – das wäre zu einfach.

In Sowjetrussland hieß es: »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«. Und die sowjetische Gesellschaft unter Breshnew war angeblich schon im Übergang zum Kommunismus begriffen.

Das war ein Irrtum.

Glauben Sie an Kommunismus?

Ich bin in einer kommunistischen Familie aufgewachsen. Und ich gehöre nicht zu jenen, die einst die Sowjetunion idealisiert und fetischisiert haben und nach deren Zusammenbruch plötzlich allen Utopien und Gegenentwürfen abschworen. Der Kapitalismus ist nicht schicksalhaft, nicht notwendig, nicht hinnehmbar und nicht unüberwindbar. Es gibt ökonomische und politische Alternativen. Eine andere Welt ist möglich.

Was für eine wird das sein? Eine kommunistische? Und wenn ja, was verstehen Sie unter Kommunismus? Jenseits des »Kommunismus des Kapitals«.

Ein gemeinsam verwaltetes Gemeinwesen. Kommunismus bedeutet eine radikale Veränderung der Subjektivitäten und ihres Verhältnisses zur Arbeit. Es geht darum, die Produktion neu zu erfinden – als freie und freiwillige Partizipation der Produzenten, die autonom und demokratisch agieren, das Gesellschaftliche gemeinsam produzieren und reproduzieren. Und vor allem bedeutet Kommunismus die Überwindung von Kriegen, denn es gibt jene Kräfte nicht mehr, die den Krieg erfanden, um die Menschheit zu spalten und auszubeuten.

Ist der Kommunismus aber auch machbar? Nicht nur eine Utopie?

Ja, in dem Moment, wenn das kapitalistische System sein produktives Vermögen durch innere unlösbare Widersprüche infrage stellt und das Andere auftaucht. Ich wage aber nicht zu behaupen, dass der Kommunismus uns bereits an der nächsten Straßenecke begrüßt.

ANTONIO NEGRI, 1933 in Padua geboren, war 1956 der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) beigetreten. Aus Protest gegen die Koalition seiner Partei mit den Christdemokraten (DC) verließ er 1964 die PSI und gründete in der Folge die Zeitung »Classe Operaia« sowie die linken Gruppen »Potere Operaio« und »Autonomia«. In den 70er Jahren propagierte er die Sabotage des kapitalistischen Systems. Als mutmaßlicher Kopf der »Brigate Rosse« (Rote Brigaden) wurde er 1984 zu 13 Jahren Haft verurteilt. Während der Untersuchungshaft für die Radikale Partei ins Parlament gewäht, nutzte er seine Immunität, um nach Frankreich zu fliehen, wo er, wie schon in Padua, Philosophie lehrte. 1997 kehrte er, mit Aussicht auf Amnestie, nach Italien zurück, wurde erneut verhaftet und erst 2003 entlassen.

Aus: Neues Deutschland, 12. Dezember 2009


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