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Worin auch die Vordenker irrten

Die Linke und die Nation – Klassische Texte zu einer brisanten Frage

Von Karl-Heinz Gräfe *

Nach ausgewählten Dokumenten zum Imperialismus und zum Werk Lenins über diesen hat Stefan Bollinger nunmehr in der Reihe »Edition Linke Klassiker« eine weitere höchst aktuelle Quellenpublikation vorgelegt. Diesmal geht es um Nation und nationale Frage. Der Band enthält wichtige theoretische Texte von Karl-Marx, August Bebel, Wladimir Lenin, Rosa Luxemburg, Karl Kautsky, Leo Trotzki, Otto Bauer, Josef Stalin, Ernst Thälmann, Antonio Gramsci, Mao Zedong, Ho Chi Min, Alexander Abusch u. a.

In den großen linken Debatten zu Nation und Nationalismus reifte die Erkenntnis des internationalistischen Charakters einer jeden sozialistischen Bewegung und Revolution. Das Aufkommen des Imperialismus, die beiden Weltkriege, der Übergang zum radikalen Nationalismus und völkischen Rassismus, aber auch die sozialistischen und nationalen Befreiungskämpfe stellten grundlegend neue Anforderungen und Herausforderungen an linke Theorie und Politik. Das Scheitern des Staatssozialismus in Osteuropa und in der UdSSR hing letztlich offenbar auch mit der unzureichenden theoretischen und praktischen Bewältigung der nationalen Frage zusammen und bedarf noch gründlicher analytischer Aufarbeitung.

Die weltweite kapitalistische Reconquista seit 1989 und deren Krise im Zuge einer neuen Welle der Globalisierung setzte die Frage der Nation bzw. des Nationalstaates erneut in den Mittelpunkt heftiger Debatten, zumal mit den neuen EU-Mitgliedstaaten eine neue Welle von bürgerlich-nationalistischem Rechtspopulismus über das vereinte Europa schwappte und ein Wiedererstarken von Neofaschismus zu registrieren ist.

Linke Politik muss ethnische und nationale »Unterschiede« als Chance für Emanzipation und Entwicklung begreifen und popularisieren. Nur derart können vorhandene nationale und ethnische Konflikte eingedämmt werden. Die Furcht vor der Vereinnahmung von Nation, Vaterland und Heimat durch rechte kulturelle Hegemonie ist eine berechtigte. Der Hauptschauplatz antiimperialistischer und antikapitalistischer Bewegungen und Kämpfe ist nicht in erster Linie die globale Welt (Weltbürger) oder die Region (Europäer), sondern nach wie vor der Nationalstaat in seiner modernen Struktur. Die Linke darf die nationale Frage nicht den Nationalisten überlassen. Der Nationalstaat ist nach wie vor der primäre Ort der Auseinandersetzungen für soziale Gerechtigkeit und Solidarität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

»Die wichtigsten Lehren der Geschichte der Linken sind auf jedem Fall, dass das Negieren des Nationalen, der nationalen Widersprüche und selbst der diesbezüglichen Gefühle für den Kampf tödlich sein kann, und dass die revolutionäre Beglückung eines anderen Volkes, das sich selbst unterdrückt, abhängig, nicht gleichberechtigt behandelt fühlt oder dem dies erfolgreich von den alten kapitalistischen Eliten im Inneren oder von außen nahegebracht wird, ebenfalls auf Dauer zerstörend wirkt«, betont Bollinger in seiner Einleitung. Dies bestätigte auch das urplötzliche Durchschlagen der nationalen Frage und das Aufbrechen neuen Nationalismus beim Zusammenbruch des Realsozialismus 1989.

In den 70er Jahren hatte die Führung der DDR das Konzept von der Einheit der Nation aufgegeben und auf eine eigenständige »DDR-Nation« orientiert. Diese erwies sich 1989/1990 als Trugschluss. Die Linke hatte sich mit der Forderung »Deutschland einig Vaterland« abzufinden. Aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte war es zwar verständlich, dass einige Linke dieser Losung ein trotziges »Nie wieder Deutschland« entgegensetzten, jedoch war dies unrealistisches Wunschdenken. Letztendlich ist zu konstatieren, dass die konservativen Kräfte der BRD auch mit dem »Offenhalten der deutschen Frage« die Systemauseinandersetzung gewonnen hatten.

Die exzellent kommentierten 27 Quellentexte dokumentieren historische Begrenztheit und Widersprüchlichkeit, enthalten aber auch bewahrenswertes und zu erneuerndes Ideengut. Sie geben Anregungen für dringend notwendige Theoriedebatten, gerade auch hinsichtlich der Schwächen oder Irrtümer der Klassiker. So findet man bei Friedrich Engels die Auffassung, dass außer den Polen und Russen »kein einziges slawisches Volk eine Zukunft« habe; Tschechen und Slowaken seien »geschichtslose« Völker, denen Lebensfähigkeit fehle und die nie selbstständig werden könnten. Rosa Luxemburg verurteilte auch noch 1918 das von Lenin verkündete Recht der Nationen auf Selbstbestimmung als »utopische Phraseologie« und »Humbug« und glaubte nicht, dass den Bolschewiki eine sozialistische Föderation dauerhaft gelingen werde.

Bollinger stellt auch linke Nationalisten vor, so James Conolly (Irland) und Harry Haywood (USA). Ein Kapitel ist dem »Sonderfall Linke und deutscher Faschismus« gewidmet, Hier sind Karl Radeks Schlageter-Rede von 1923, die Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes 1930, Alexander Abuschs »Irrweg der Nation« von 1945 sowie Anton Ackermanns »besonderer deutscher Weg zum Sozialismus« von 1946 dokumentiert. Analysiert man die Entstehungsphase des osteuropäischen Sozialismus (1944-1948), dann wird deutlich, dass Ackermanns Überlegungen durchaus noch von grundsätzlicher Bedeutung für einen Übergang zum Sozialismus bei steter und sorgfältiger Beachtung nationaler Bedingungen sein können.

Wer Antworten auf historische und aktuelle Fragen zur nationalen Frage sucht, der wird hier jedenfalls auf eine reichhaltige Fundgrube stoßen.

Stefan Bollinger: Linke und Nation. Klassische Texte zu einer brisanten Frage. Promedia Verlag, Wien. 192 S., br, 12,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 9. September 2010


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